Alexander Gutzmer / 04.11.2012 / 07:39 / 0 / Seite ausdrucken

In kalter Stube Goethe rezitieren

Und erneut beschäftigt mich das Konservative. Heute aus Anlass eines Artikels in der FAZ. In dem schimpft Edo Reents in vielen Worten und mit einigen Beispielen über die neue Infantilität unserer Gesellschaft. Das blöde Internet und die tückischen Angebote der Konsumkultur machen uns zu alten Kindern, meint er.

Meist schreibt Reents in der FAZ über Popmusik. Sein Kulturpessimismus mag von daher auch dem Überdruss an den eigenen Themen geschuldet sein. Doch es wäre unfair, den Artikel damit abzuurteilen. Reents liefert nämlich durchaus Bedenkenswertes. So, wenn er feststellt, die Gesellschaft ermögliche heute keine „Kontrasterfahrungen“ mehr. Es stimmt, im allumfassenden Informations-, Meinungs- und Bilderfluss verschwimmen früher strikt getrennte Welten. Deutschland sucht immer wieder mal einen Superstar, Amerika einen Präsidenten – beides wird als Castingschau mit unterschiedlichem Twitterpotenzial behandelt.

Aber ist das so schlimm? Immerhin wird beides behandelt. Und zwar durch die neue Medienvielfalt durchaus facettenreich. Diese Facetten aber mag der gemeine Konservative nicht sehen. Er stimmt lieber den alten Singsang von einer früheren, besseren Welt an, in der Bildungsbürger sich beim Tee stundenlang zivilisiert über die amerikanische Präsidentenwahl unterhielten. Wenn der Konservatismus heute noch ganz bei sich ist, dann im Träumen von dieser Bildungsidylle. Die gab es natürlich nie. Mehr Anteil als an Obamas erster Wahl hatten die deutschen Durchschnittsbürger wahrscheinlich noch nie an einer US-Wahl genommen. Auch wenn es Kulturpessimisten nicht passt: Wir sind heute politisch und kulturell breiter informiert als je zuvor. Und der häufige Griff zum Smartphone, um während eines Gespräches mal kurz eine Wissenslücke zu schließen und damit das Gespräch zu bereichern, ist nicht der Untergang irgendeines Abendlandes, sondern schlicht eine neue Kulturtechnik.

Diese oder andere Kulturtechniken der digitalen Welt entgehen dem konservativen Blick. Sie taten das schon immer: Konservativ sein heißt, nicht so genau hinzuschauen und sich der Gegenwart mit einem letztlich desinteressierten, nur groben Blick zu nähern. Das führt dazu, dass die aus konservativer Sicht eigentlich zu begrüßenden Veränderungen durch das Internet übersehen werden. Die vielen digitalen Verhaltenskodizes, Normen, Höflichkeitsakte. Nur durch diese Holzschnittperspektive halten konservative Kritiker das Bild der kulturlosen Digitalgesellschaft aufrecht.

Und dann natürlich der Kapitalismus. Wie viele FAZ-Autoren, hat auch Reents zu ihm und zu ökonomischen Grundmechanismen allgemein eine tief ablehnende Haltung. Konservativ sein heißt in Deutschland immer noch, Kapitalismus als kulturellen Übergriff eines degenerierten Westens (Amerika) zu betrachten. Reents bestätigt dies, indem er Maßhalten stilisiert und das Denken in Wachstumskategorien verteufelt. Er mag den Konsum nicht, findet ihn geistlos und infantil. Und es stimmt, dem rauschhaften Kaufen haftet etwas Kindliches an. Die Befriedigung via Konsum braucht das Naive, nicht das kritisch Reflektierende.

Aber: Auch ein naiver Konsum treibt die Wirtschaft an. Würde hingegen die konservative Verzichtshaltung politisch ernst genommen, führte sie zu wirtschaftlicher Stagnation, steigender Arbeitslosigkeit, schrumpfendem Wohlstand. In der konservativen Traumwelt stört das aber nicht. Denn da sitzt man ja genügsam in karger Stube und rezitiert leise vor sich hin Goethe.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Alexander Gutzmer / 18.07.2015 / 17:06 / 2

Deutschland – ein Fetisch

Als größter Wohltäter der deutschen Linksdenkenden erweist sich seit Wochen Wolfgang Schäuble. Dessen harte Linie zum Thema Griechenland-Kredite dient ihnen als Steilvorlage. Mit großem Enthusiasmus…/ mehr

Alexander Gutzmer / 25.01.2015 / 06:55 / 14

Pegida-Pegada-Pegaga: Anti-Amerikanismus als gemeinsamer Nenner

Man wundert sich fast, dass es so lange gedauert hat. In Erfurt haben unter PegXda-Banner Tausende „gegen die Amerikanisierung des Abendlandes“ demonstriert. Es war klar,…/ mehr

Alexander Gutzmer / 21.01.2015 / 07:24 / 10

Immer wieder die Frage: Was ist liberal?

Die große Enttäuschung gleich zu Beginn: Ich habe als Antwort auch keinen Einzeiler, der so klar ist, dass der Text hier aufhören könnte. Ich erspare…/ mehr

Alexander Gutzmer / 17.01.2015 / 09:45 / 1

Terror und die Mediengesellschaft

An den Charlie Hebdo-Debatten zeigt sich ein Mechanismus unserer Mediengesellschaft besonders deutlich: Die Tendenz letztlich jedes Diskurses, in seinem Verlauf zunehmend reflexiv zu werden. Am…/ mehr

Alexander Gutzmer / 25.12.2014 / 09:33 / 1

Kims großer Plan

Kim Jong-Un ist ein begnadeter Stratege. Die Mechanismen des Kapitalismus durchschaut er wie kein zweiter. Er weiß: Scheinbar drohende Knappheit eines Gutes und die Bedrohung…/ mehr

Alexander Gutzmer / 12.11.2014 / 08:08 / 4

Lieblingthema von „Print“: „Print“

Ach ja, der Printjournalismus. Oder allgemein das „Prinzip Print“. Es stirbt, das lesen, hören und wissen wir. Irgendwie zumindest stirbt es. Gefühlt. Sagen doch alle.…/ mehr

Alexander Gutzmer / 18.08.2014 / 09:29 / 4

Der neue “linke” Nationalismus

Als Gratmesser öffentlichen Bewusstseins eignet sich kein Medium so gut wie Facebook. Nachzuvollziehen war das hervorragend im Zuge der amerikanischen Abhöraktivitäten. Die Empörung in meinem…/ mehr

Alexander Gutzmer / 29.04.2014 / 22:32 / 14

Schuld am FC Bayern-Desaster: die 17 anderen Bundesliga-Clubs

So fühlt er sich also an, der Boden der Tatsachen. Real Madrid hat Fußball-Deutschland demonstriert, dass sich die Grundkoordinaten des Clubfußballs mitnichten fundamental verändert haben…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com