Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 29.05.2015 / 09:41 / 7 / Seite ausdrucken

Immer doller: Europas Integrationsmanie

Wenn Verrücktheit bedeutet, immer wieder dasselbe zu tun und trotzdem ein anderes Ergebnis zu erwarten, dann ist Europa auf dem besten Wege, verrückt zu werden.

Obwohl oder gerade weil die europäische Integration immer mehr auf eine Havarie zusteuert, fordern die Spitzenpolitiker in Frankreich und Deutschland volle Fahrt voraus, ohne den Kurs zu ändern.

Es wirkt geradezu gespenstisch. Griechenland nähert sich immer mehr dem Staatsbankrott und dem Grexit. Das Vereinigte Königreich bereitet sich auf ein Referendum über den Brexit vor. Unbeirrt davon machen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident François Hollande an die nächsten Schritte der Integration.

Wie die französische Tageszeitung Le Monde am Montag berichtete, werden Merkel und Hollande auf dem EU-Gipfel im Juli eine weitere Vertiefung der Union zwischen Mitgliedern der Eurozone vorschlagen. Laut einem von den beiden Regierungen erstellten Text sollen die Mitgliedsstaaten der Eurozone ihre Konjunktur-, Sozial- und Fiskalpolitik intensiver koordinieren. Andeutungsweise ist darin sogar von einer gemeinsamen öffentlichen Investitionspolitik die Rede, eine von Frankreich seit langem erhobene Forderung (die Deutschland bisher hartnäckig abgelehnt hat).

Einem außenstehenden Beobachter mag das Bemühen, die europäische Integration mitten in ihrer größten Krise zu verstärken, seltsam vorkommen. Man kann sich auch nicht vorstellen, dass in Frankreich oder Deutschland viel Enthusiasmus für das Zünden der nächsten Integrationsstufe besteht.

Diese Situation ist aber alles andere als neu.

Die europäische Integration war bisher immer ein Werk der Mächtigen, nicht aber eine Initiative der von ihnen regierten Bürger. Der Rahmen ist von Anfang an durch die europäischen Eliten gesetzt worden.

Die Völker Europas kamen nicht eines Tages zur Erkenntnis, dass sie sich zusammenschließen und durch eine übernationale Organisation wie die EU vereint sein wollten. Franzosen, Italiener, Niederländer begehrten nicht plötzlich, hinfort Europäer zu sein. Die Deutschen wurden nicht bei ihrer Regierung anheischig, die Mark zugunsten des Euro aufzugeben. Eine breit aufgestellte Bewegung zugunsten einer wie auch immer gearteten europäischen Integration hat es nie gegeben.

Dass Europa trotzdem eine Integration erlebt hat, verdankt sich allein dem Willen seiner politischen und wirtschaftlichen Eliten. Sie waren es, die ihre Völker von den Vorteilen Europas zu überzeugen suchten. Im Zweifelsfall war man bereit, auch ohne die Einwilligung der Regierten voranzuschreiten.

In den Fußstapfen Helmut Kohls

Dabei sind sich die Politiker durchaus bewusst, in welchen Bereichen die europäische Integration keine Chance auf Verwirklichung hätte, wenn man die Menschen fragte. So gesehen folgen Merkel und Hollande den großen Fußstapfen des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl, bekanntlich einer der Architekten der europäischen Währungsunion.

Seit seinem Ausscheiden aus dem Amt hat sich Kohl in einer Reihe von Interviews unmissverständlich ausgedrückt. Über die Einführung der Euro-Währung ließ er das Wahlvolk gar nicht erst abstimmen, da diese Abstimmung verloren gegangen wäre.

Kohl sagte in einem 2013 veröffentlichten Interview: “Ich wußte, daß ich die Abstimmung nie gewinnen kann in Deutschland. Eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro hätten wir verloren. Das ist ganz klar ... Eine Volksabstimmung hätte ich natürlich verloren, und zwar im Verhältnis 7 zu 3 … Wenn einer Bundeskanzler ist, will etwas durchsetzen, muß er doch ein Machtmensch sein! Und wenn er gescheit ist, dann weiß er: Jetzt ist eine Zeit reif, um etwas durchzusetzen ... In einem Fall war ich wie ein Diktator, siehe Euro.”

Merkel und Hollande planen jetzt, genau so vorzugehen. Allerdings lässt das Timing ihre Pläne noch zynischer erscheinen. Kein Zufall ist es, dass sie in genau dem Moment präsentiert werden, da der britische Premierminister eine Neuverhandlung der EU-Verträge fordert.

Daher ist die frankodeutsche Initiative für eine engere Integration auch eine Initiative, um jedwede substanzielle Reform der EU zu blockieren.

Einigermaßen überraschend ist, dass Merkel sich so offen gegen Cameron auf Hollandes Seite schlägt. Merkel und Hollande benötigten beinahe zwei Jahre, um miteinander warm zu werden. Ihr Verhältnis war ein frostiges, nicht zuletzt, da Merkel bei der letzten französischen Präsidentschaftswahl offen Hollandes Vorgänger Nicolas Sarkozy unterstützt hatte. Erst in der Ukraine-Krise entwickelten die beiden ein engeres Arbeitsverhältnis. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten zu Europa brauchte Merkel stets das Gegengewicht in Form von Cameron zu kontinentalen Anti-Sparpolitik-Bewegungen.

Ein Wechsel mit Folgen?

Offenbar hat Merkel Cameron als potentiellen Verbündeten abgeschrieben, als dieser seine Forderungen für eine neu ausgehandelte EU auf den Tisch legte. Wahrscheinlich befürchtet sie, dass Camerons isolierte Stellung innerhalb der EU ihn als möglichen Partner schwächt. In dieser Situation zieht Merkel es vor, Deutschland mit den ökonomischen Interessen Frankreichs auf Linie zu bringen.

Problematisch an der neuen Integrationsstrategie Merkels ist ihr Zeitpunkt, da die europäische Währungsunion dabei ist, sich zu zerlegen. Die wirtschaftliche Situation in Griechenland verschlechtert sich; noch nicht einmal professionelle Optimisten wie der geschäftsführende Direktor des ESM Klaus Regling schließen noch einen griechischen Staatsbankrott aus. Griechenland könnte daher zu ebendem Zeitpunkt aus der Eurozone gedrängt werden (oder eine Parallelwährung einführen müssen), da Merkel und Hollande eine vertiefte Koordination innerhalb der Eurozone vorschlagen.

Politisch mag Merkels Drängen nach mehr Integration in der Eurozone von Vorteil sein, da sie einen neuen Verbündeten gewinnt. Volkswirtschaftlich gesehen ist es jedoch schädlich, denn die Eurozone braucht nicht mehr Koordination, sondern sollte sich auf den Ausstieg eines ihrer Mitglieder vorbereiten.

In jedem Fall sind Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik für die Eurozone als Ganzes so ziemlich das Letzte, das sich gewöhnliche Europäer wünschen würden. Nach fünf Jahren Euro-Krise ist es nicht übertrieben zu sagen, dass das Euro-Projekt nicht gerade populär ist.

Abgehoben und volksfern

Allen Ernstes die nächsten Schritte auf dem Weg der europäischen Integration vorzuschlagen zeigt, wie abgehoben und fern Europas Eliten von ihren Wahlvölkern denken. Es zeigt auch, dass sie immer noch nicht verstanden haben, dass die bisherigen Integrationsschritte die Wurzel der aktuellen Krise darstellen.

Wohl ist es verrückt, immer wieder dasselbe zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Vernünftig ist es aber zu erwarten, dass die nächsten Schritte Europas zur Integration ebenso erfolgreich sein werden wie die bisherigen.

Wir können uns also auf die nächste Krise gefasst machen, sobald die Mitglieder der Eurozone ihre Steuer-, Ausgaben- und Sozialpolitik harmonisiert haben.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Europe’s never-ending integration madness’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 28. Mai 2015. Übersetzung aus dem Englischen von Eugene Seidel (Frankfurt am Main).

Lesen Sie vom gleichen Autor hierzu auch: Nach der Krise ist vor der Krise

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Leserpost

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Roland Schmiermund / 31.05.2015

Eins hat die “EU”-Politik in Deutschland ganz sicher geschafft: Das politische System in Deutschland ist am Ende. Das macht keine 10 Jahre mehr. Weder das heutige politische System in Deutschland, die EU oder der EURO werden bestand haben. Das ist nur noch eine Frage von Zeit und weiter wachsenen Zorn.

Ulrich Bohl / 29.05.2015

Jean-Claude Juncker ist ein pfiffiger Kopf. “Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert” “Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.”  Diese Aussage ist auch wenn sie schon häufig zitiert wurde, bezeichnend für das Politikverständnis der Politiker in Deutschland und der EU. Was interessiert uns die Meinung des Volkes, denn so sagte Goethe : “Weit besser ist’s, sie einzuengen, daß man sie wie Kinder halten, wie Kinder zu ihrem Besten leiten kann. Glaube nur, ein Volk wird nicht alt, nicht klug, ein Volk bleibt immer kindisch”. Falls die ganze Sache doch schief geht, wird umgehend nach Schuldigen gesucht. Einer wurde vor einiger Zeit schon gefunden ” Putin vernichtet Wohlstand in Deutschland” stand am 14.8.2014 in einer deutschen Zeitschrift.

Igor Iwanowitsch / 29.05.2015

Das ist der Todestrieb in der Geschichte. Der Wille zum Untergang.

richard dawson / 29.05.2015

Dear Oliver. I think what worries the British is the ever increasing dominance of Germany in the EU. Every continental country seems to capitulate and we all know what happens when Germany tries to dominate. I am 67 so all I can say is good luck to the continentals but having lived in 4 EU countries I become ever more disenchanted. No one is able to convince me of the raison d’etre of the union. When I hear infant German politicians talk about a peace project then I can only groan. And no one has convinced me that the sum total of 28 weak countries produces something strong. Anyway I read that in 2060 - I shall be dead and you an old man- the population of the UK will be 80 million and Germany 70 million. The perspective from Berlin will then be different. All the best Richard Dawson

Werner Lange / 29.05.2015

Hallo Herr Hartwich, sollten wir uns alle nicht endlich angewöhnen das schöne - und positv besetzte - Wort ELITE im Zusammenhang mit europäischen Politikern ausschließlich in Anführungszeichen zu setzen? Unsere politische “Elite” .... das klingt doch wesentlich zutreffender als ohne Gänsefüßchen! Mit freundlichen Grüßen Werner Lange

Wolfgang Schlage / 29.05.2015

Die Parteiendemokratie Kontinentaleuropas züchtet eine abgehobene, vom Wahlvolk nur sehr indirekt abhängige politische Klasse in den Nationalalstaaten. Es sind Politiker, die sich nur voreinander fürchten müssen, besonders vor den Parteifreunden, aber nicht vor dem Wähler. Und die haben jetzt eine europäische politische Klasse geschaffen, die überhaupt niemandem mehr verantwortlich ist und völlig ihren eigenen Träumen und Illusionen folgen kann. Es ähnelt dem kommunistischen Rätesystem, in welchem die obersten Regierenden zwar theoretisch durch Wahlen vom Volk legitimiert wurden, in dem in Wirklichkeit eine nur unter sich verantwortliche Funktionärsschicht die Sache in der Hand hatte. Solche Funktionärsschichten neigen offenbar zur Ideologisierung und zu Wirklichkeitsverlust. Ich ziehe die EU-Ideologisierung einer kommunistischen wirklich vor, aber die Strukturen scheinen doch ähnlich zu sein.

Georg Schäfer / 29.05.2015

Wenn das Wahlvolk Deutschlands keine weitere Integration will, warum wählt es dann nicht anders?

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