Matthias Heitmann, Gastautor / 17.09.2016 / 06:25 / Foto: hostelli / 1 / Seite ausdrucken

Im Stadion singe ich, was ich will!

Spiegel Online ereifert sich über die ausfälligen Gesänge der Fans des polnischen Fußballmeisters Legia Warschau vom Champions-League-Spiel gegen Borussia Dortmund am Mittwoch. Es scheint aber unklar zu sein, was genau sie Böses gesungen haben. Die Klubführung von Legia nahm die eigenen Fans in Schutz, sie seien falsch verstanden worden und hätten nicht „Jude, Jude, BVB!“, sondern „Nutte, Nutte, BVB!“ gerufen.

Nun könnte man sich getrost zurücklehnen – wenn man Schalker ist. Für einen Artikel bei Spiegel Online reicht indes der bloße Verdacht, es könne einen ernsthaften Verstoß gegen politische korrekte Sprachregeln gegeben haben. Denn wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob nicht doch jemand im Legia-Block „Jude!“ gedacht hat, während er „Nutte!“gerufen hat? Vielleicht ist die Unklarheit auch der undeutlichen Aussprache geschuldet?

In der englischen Premier League gibt es mittlerweile Kataloge mit zulässigen Fangesängen – gewissermaßen ein politisch korrektes Gesangbuch. Und wer vom Text abweicht, dem drohen Verhaftung und Verurteilung. Upps, habe ich eben im Stillen „Ihr Idioten! Im Stadion singe ich, was ich will!“ gedacht?

In seinem Klassiker „Ballfieber“ aus den 1990ern, als noch nicht jeder meinte, über Fußball schreiben zu müssen, beschrieb Arsenal-Fan Nick Hornby seinen ersten Stadionbesuch und das dortige Verhalten der Zuschauer: „Es war aber nicht der Umfang der Zuschauermenge oder die Tatsache, dass Erwachsene das Wort „WICHSER“ so laut sie wollten schreien konnte, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen, was mich am stärksten beeindruckte, sondern wie sehr die meisten Männer um mich herum es hassten, wirklich hassten, hier zu sein.“

Es besteht die Gefahr, dass künftige heranwachsende Fangenerationen schon beim für Hornby noch nebensächlichen „WICHSER“-Ruf im Stadion den ihrer Sitzreihe zugewiesenen Traumatherapeuten verständigen und sich Ohrstöpsel und Taschentücher reichen lassen werden, um ihren Aufenthalt nicht ganz so sehr hassen zu müssen.

Matthias Heitmann ist freier Autor und Vortragsredner. Sein aktuelles Buch „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ ist im TvR Medienverlag Jena erschienen (S. 197, EUR 19,90). Seine Website findet sich unter www.zeitgeistgerjagd.de  

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Thomas Roth / 17.09.2016

Ich bin in einer osteuropäischen kommunistischen Diktatur aufgewachsen, wo wir am 1. Mai auf Umzügen vor den Bonzen vorbeimarschieren und Losungen und Parolen rufen mussten. Manchmal habe ich mich getraut, mit ernstem Gesicht statt der vorgeschriebenen Slogans zu rufen: JEDER WEISS WAS SO EIN MAI KÄFER FÜR EIN VOGEL SEI. 1989 dachte ich, diese Zeiten wären endgültig vorbei. Ich habe mich geirrt.

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