Hansjörg Müller / 24.11.2010 / 22:24 / 0 / Seite ausdrucken

Ich lese „DIE ZEIT“, damit Sie es nicht tun müssen

Donnerstag. Ich stehe in der Bahnhofsbuchhandlung und fühle mich wie ein Übergewichtiger. Wie ein Übergewichtiger, der gerade aus dem Büro kommt. Eigentlich hätte er Lust, sich schnell noch eine Currywurst mit Pommes reinzuziehen. Aber sein Arzt hat ihm eine strenge Diät verordnet. Nur noch Brokkoli. Brokkoli, das ist in meinem Fall „DIE ZEIT“. Currywurst mit Pommes, das sind ausländische Magazine wie die Schweizer „Weltwoche“ oder der britische „Spectator“. Eigentlich hätte ich Lust auf saftige Debatten und fetttriefende, provokative Kolumnen. Aber ich habe mir vorgenommen, einen Artikel über „DIE ZEIT“ zu schreiben. Also kaufe ich mir „DIE ZEIT“.

Als ich 14 Jahre alt war, habe ich begonnen, „DIE ZEIT“ regelmäßig zu lesen. Möglicherweise hielt ich „DIE ZEIT“ damals für die weltbeste Zeitung. Okay, ich kannte sonst nur die „Esslinger Zeitung“. Später verlor ich beide Blätter allmählich aus den Augen. Nach dem Abitur zog ich in eine 50 Kilometer entfernte Universitätsstadt. An den Wochenenden, wenn ich meine Eltern besuchte, blätterte ich „DIE ZEIT“ regelmäßig durch, ohne irgendwo länger hängen zu bleiben, jedes Mal mit wachsender Lustlosigkeit. Seit ich in Berlin wohne, habe ich „DIE ZEIT“ vollkommen aus den Augen verloren. Alle sechs Monate, auf Heimatbesuch, sehe ich sie auf dem Couchtisch liegen. Meistens rühre ich sie nicht einmal mehr an. Meine Wahrnehmung scheint sich allerdings nicht mit der meiner Umgebung zu decken: „DIE ZEIT“, so ist immer wieder zu lesen, ist eine der wenigen Zeitungen, die noch Leser hinzugewinnt, vor allem junge und weibliche. Und tatsächlich, wenn man in die Uni geht und ein hübsches Mädchen sieht, das eine Zeitung mit sich herumträgt, ist es in neun von zehn Fällen „DIE ZEIT“. Grund genug also, das Blatt mal wieder zu lesen. Wer wollte nicht wissen, was schöne Frauen bewegt? 

Mein erster Blick fällt auf die Leitartikel. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich, obwohl ich mindestens fünf Jahre meines Lebens ein aufmerksamer „ZEIT“-Leser gewesen bin, noch keinen einzigen Leitartikel gelesen habe. Ich hatte nichts verpasst: Angela Merkel werde in jüngster Zeit ein bisschen konservativer. „DIE ZEIT“ findet das gar nicht gut - da sei die Kanzlerin schon mal „weiter“ gewesen, Schwarz-Grün sei das Gebot der Stunde. Scheitert der Euro, dann scheitert Europa, heißt es im zweiten Leitartikel. Also mehr Macht nach Brüssel. Gut, man kann diese Ansichten vertreten. Man könnte aber auch mal den Anstoß zu einer grundsätzlicheren Diskussion geben: kann eine Währungsunion, in der so unterschiedliche Partner wie Deutschland und Griechenland zusammenarbeiten, überhaupt funktionieren? Die Frage läge nahe, denn für ein solches Bündnis gibt es bis jetzt kein historisches Beispiel. „DIE ZEIT“ stellt eine solche Frage nicht. Allerdings, das muss ich zugeben, es klingt alles sehr, sehr vernünftig, was da in den Leitartikeln steht: wollte die Obama-Administration die Erdanziehungskraft abschaffen, „DIE ZEIT“ würde ihre Leser von der Sinnhaftigkeit des Unternehmens überzeugen. Weiter durch den Politikteil: viel innenpolitische Nabelschau, Merkels angebliche Wende zum Konservatismus wird nochmal ausführlich diskutiert, ähnlich uninspiriert wie im Leitartikel. Dann noch ein Pro-Obama-Artikel, ein Anti-Sarkozy-Kommentar und ein Anti-Berlusconi-Kommentar. Dazwischen noch ein bisschen Lebenshilfe für Akademiker: ein Stück über Kinder und ihren Umgang mit sozialen Netzwerken. Tenor: dem Nachwuchs nicht zu viel Freiheit lassen, aber auch nicht zu wenig. Ja, darauf muss man erstmal kommen.

Auf der Meinungsseite ein Lichtblick: Josef Joffe. Einer der wenigen Liberalen in einer Zeitung, die immer wieder als liberal bezeichnet wird. Joffe ist das, was man im amerikanischen Journalismus den token conservative nennt, der Alibi-Konservative in einer linksliberalen Redaktion. Meistens scheint er in Kalifornien zu sein. Vielleicht ist es das Hamburger Wetter, vielleicht aber denkt Joffe beim Blick auf seine Kollegen auch an das berühmte Diktum Voltaires: „Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich.“ Wie dem auch sei, auch in seiner aktuellen Kolumne trifft Joffe den Nagel auf den Kopf: Obamas Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik gegenüber Israel sei vollkommen sinnlos, weil Netanjahu die von Obama geforderten Kompromisse gar nicht eingehen könne, ohne innenpolitischen Selbstmord zu begehen. Damit ist der Kern des Problems in wenigen Worten umrissen.

Ich schenke mir den Wirtschaftsteil und gehe weiter zum Feuilleton: Theaterrezensionen, Konzertbesprechungen - über mangelnde Aufmerksamkeit kann sich die bundesdeutsche Bühnenkultur nicht beklagen. Trotzdem beschleicht mich der leise Verdacht, dass das meiste, was hier versammelt ist, nicht mal den überzeugtesten „ZEIT“-Leser interessiert. Die Kapriolen des Regie-Theaters, sie finden ja vor einem sehr begrenzten Publikum statt. Warum sollten sich die Intendanten auch für ihre Zuschauer interessieren, solange der Steuerzahler die Lücken im Etat ausgleicht. Sei’s drum, berichtet muss darüber werden. Das nennt man dann Qualitätsjournalismus. Fairerweise, man sollte es erwähnen, auch hier wieder ein kleiner Lichtblick: ein interessanter Themenschwerpunkt zum 100. Todestag Tolstois. „DIE ZEIT“ ist eine dicke Zeitung, also ist auch manches Gute dabei. Im Politikteil etwa ein Aufsatz über die wachsende Macht der Islamisten in Ostafrika. Das Problem ist nur: Zeitungen wie die „Frankfurter Allgemeine“ oder die „Neue Zürcher Zeitung“ bringen genau so viel oder noch mehr interessante Artikel - und das jeden Tag. Warum sich also noch eine Wochenzeitung kaufen?

Tolstoi war auch das Titelthema der Woche. Auf Seite 1, über den Leitartikeln, im Hintergrund ein Bild des bärtigen Alten, im Vordergrund ein schmachtendes Liebespaar, Überschrift: „Unser liebster Russe“. Konsalik, denke ich, sicher ein Blickfang, aber nicht unbedingt einer seriösen Zeitung angemessen. Überhaupt, die Titelbilder: einmal geht es um Schlaflosigkeit, ein anderes Mal um die Unvereinbarkeit von Kindern und Karriere. Alles in allem: Lebenshilfe für 40-jährige Akademikerinnen. Liest Lieschen Müller die „Glückspost“, dann liest Dr. Lieschen Müller „DIE ZEIT“. Auch einen Kummerkasten gibt es mittlerweile: „DIE ZEIT der Leser“ auf der letzten Seite: da klagt etwa Maria Baumgartner aus Nürnberg, dass sie keinen Kita-Platz für ihren Sohn finde. Doch über all dem Elend soll auch das Schöne nicht zu kurz kommen. In der Rubrik „Was mein Leben reicher macht“ schreibt Barbara Frisch aus Bad Neuenahr-Ahrweiler: „Jeden Morgen die Frage meines Chefs: ‚Möchten Sie auch einen Espresso?‘ Ja, ich möchte. Mein Chef kocht für mich mit und serviert mir den Espresso mit zwei kleinen Pralinés…“ Vor allem die drei vielsagenden Pünktchen am Ende des Satzes haben mich noch lange beschäftigt: deutet sich da etwa eine zarte Romanze zwischen Frau Frisch und ihrem Vorgesetzten an? Courts-Mahler, von Akademikerinnen für Akademikerinnen.

Zugegeben, die Idee, diesen Artikel zu schreiben, war nicht meine eigene. Joseph Epstein hat im „Weekly Standard“ einen ähnlichen Artikel über die „New York Times“ veröffentlicht (http://bit.ly/dmYuZ6). Über das Magazin der Zeitung heißt es dort: „The New York Times Magazine has always been dull, but earlier it erred on the side of seriousness. Now it is dull on the side of ersatz hipness.“ Zumindest ersteres stimmt in Bezug auf das „ZEITmagazin“ ganz und gar nicht. Zufällig habe ich bei mir zu Hause ein altes „ZEITmagazin“ vom 11. November 1988 herumliegen. Und das war alles andere als langweilig: da finden wir eine Reportage über deutsche Spielkasinos, eine Grantl-Suada des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard, einen Bericht über den Niedergang der Fleet Street, der alten Londoner Zeitungsstraße, eine historische Abhandlung über das schwierige Verhältnis zwischen Friedrich dem Großen und seinem Vater, eine Polemik über das Verhältnis zwischen Herr und Hund und ein Portrait der Londoner Kunstsammler Charles und Maurice Saatchi. Das sind in einem einzigen Magazin mehr interessante Artikel als heute in einem ganzen Jahrgang. Warum ich Epstein trotzdem zitiere? Nun, der zweite Teil seiner Aussage trifft auf das heutige „ZEITmagazin“ voll und ganz zu: „Dull on the side of ersatz hipness.“ War das alte „ZEITmagazin“ im besten Sinne „welthaltig“, so könnte man das neue Magazin „Berlin-Mitte-haltig“ oder „Prenzlauer-Berg-haltig“ nennen. Angestrengt trendy. Zuerst ein höhnischer Kommentar über Stephanie zu Guttenberg. Eine schöne Frau an der Seite eines erfolgreichen, konservativen Mannes, das gefällt Heike Faller gar nicht. Frau zu Guttenberg, so lese ich, habe gesagt, wenn es mal an Streichhölzern fehle, so könne man eine Spaghetti als Ersatz nehmen. Was daran so lächerlich sein soll, bleibt Heike Fallers Geheimnis. Ich jedenfalls werde mir den Pfadfindertipp gut merken, man weiß ja nie. Dann ein Interview mit Doris Schröder-Köpf, sieben Seiten! Die Ehefrau des Altkanzlers verrät uns, dass sie mal in einer Kommune war. Gekifft habe sie aber nie. So stelle ich mir auch die Jugend einer „ZEIT“-Redakteurin vor: ein bisschen unvernünftig, aber nur ein bisschen. Das Romanistik-Studium schließt sich ja auch nicht von selbst ab. Weiter hinten eine Pro & Contra-Seite: Darf man Kinder mit auf Demonstrationen nehmen? Ja, meint Mirko Borsche, „Creative Director“ des „ZEITmagazins“. Er habe seinem 11-jährigen Sohn erklärt, worum es bei der Anti-Atom-Demo gehe, der habe sich daraufhin aus freien Stücken entschlossen, mitzudemonstrieren. Da „erklärt“ also ein überzeugter Atomkraftgegner einem 11-jährigen Buben die Welt. Klar, dass der sich dann selbständig eine Meinung bilden kann. Matthias Kalle, seines Zeichens „Berater“ des Magazins, widerspricht seinem Kollegen. Schließlich trieben sich die Kinder noch früh genug auf der Straße rum. Kalles Tochter ist allerdings auch erst drei Jahre alt. 

Was es sonst noch gab im Magazin? Viel „Lifestyle“. Bestseller-Autor Ken Follett hat einen Traum. Und ein Interview mit Christiane zu Salm, der Chefin von MTV Europe. Doch ich war inzwischen zu müde geworden, um weiterzulesen. Schade eigentlich, da war auch noch etwas über die Jugendrichterin Kirsten Heisig. Vielleicht wäre es interessant gewesen. Aber ich brauch jetzt erstmal eine Currywurst mit Pommes.

Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/

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