Mathias Döpfner, Gastautor / 21.01.2016 / 10:59 / 2 / Seite ausdrucken

Ich kann ihn nicht mehr fragen. Nie mehr

Von Mathias Döpfner

Zum Tode von George Weidenfeld

Bevor er vor ein paar Tagen wegen Schmerzen im Bein ins Krankenhaus musste, rief er mich an. Er sprudelte sofort los: “Du bist mein größter Freund, mein Bruder und mein Sohn. Und auch mein Vater, ja.” Und dann sagte er, was er mir in zwanzig Jahren noch nie gesagt hatte: “Ich liebe dich.” Ich erwiderte das aus tiefstem Herzen – und war doch sehr besorgt.

George Weidenfeld war kein Mann des Überschwangs. Dass er diesen Satz unbedingt loswerden wollte und immerzu wiederholte, war wunderschön – aber kein gutes Zeichen. Er ahnte, dass er das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde.

Kann man über einen Menschen, der einem so nah war, einen Nachruf schreiben? Ich nicht. Nur sehr persönliche Erinnerungen.
Zum ersten Mal begegneten wir uns 1988 in seinem Londoner Apartment. Ich sprach mit ihm als Journalist. Unsere Freundschaft aber begann vor zwanzig Jahren während der Buchmesse in Frankfurt. Wir liefen uns in der Lobby des Hotels “Frankfurter Hof” über den Weg. Ein Gespräch begann und hörte nicht mehr auf. Wir redeten über seine gerade erschienene Autobiografie und über Politik. Fast zwei Stunden ging das so. Niemand konnte uns stören.

Die Kraft des Optimismus und der Höflichkeit

Wir standen vor dem Gebläse einer Klimaanlage und bemerkten es nicht. Als ich George Weidenfeld einige Tage später erreichen wollte, erfuhr ich, dass er mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Ich dachte, er würde mir das ewig übel nehmen. Als er wieder genesen zu Hause war, bedankte er sich bei mir: “Sie haben mir das Leben gerettet.

Ohne unser Gespräch keine Lungenentzündung. Ohne Lungenentzündung hätte ich mir das Rauchen nicht abgewöhnt. Und als Raucher wäre ich sicher bald gestorben.” Ich hatte etwas über die Kraft des Optimismus und über Höflichkeit gelernt.

Die Biografie von Arthur George Weidenfeld mutet an wie aus dem 19. Jahrhundert. Ein Leben aus einem anderen Jahrhundert. Ein Leben, das ein Jahrhundert nicht nur umspannt, sondern erfasst und geprägt hat.

Geboren am 13. September 1919 in Wien, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen einer aus Galizien in der Ukraine nach Österreich eingewanderten Familie, Sohn eines kunstsinnigen Versicherungsmitarbeiters und einer Mutter, die einer Rabbinerdynastie entstammte. Als Weidenfeld vor einigen Jahren zusammen mit mir das Hinterhaus im ärmlichen sechsten Wiener Bezirk zum ersten Mal seit seiner Kindheit wieder besucht, brechen die Erinnerungen schonungslos auf.

Erst das Puppentheater, dann das richtige

Keine Verklärung, keine Nostalgie. Es war eine behütete, aber traurige, vor allem einsame Kindheit. George ist Einzelkind. Das Alleinsein prägt eine ewige Sehnsucht nach Gesellschaft. Nie mehr allein sein. Und möglichst schnell raus aus der Ärmlichkeit und dem Powidl-Fett-Geruch der Hinterhofwelt. Seine Welt ist das Theater. Erst das Puppentheater, dann das richtige. Später das Welttheater.
Max Reinhardt war für Weidenfeld kein Mythos, sondern Jugenderinnerung. Alexander Moissi hat er noch als Jedermann in Salzburg erlebt. Immer wieder ahmte er seine Stimme, den unverwechselbaren Singsang nach.

Aus einer anderen, sehr fernen Zeit stammt auch die Geschichte von dem Duell, das er als ganz junger Mann gefochten hat. Eine Geschichte wie aus Tschaikowskis “Eugen Onegin”. Weidenfeld war in einer schlagenden Studentenverbindung. Einer jüdischen Verbindung, die sich Ende der Dreißigerjahre den nationalsozialistischen Verbindungen entgegenstellte.

Weidenfeld wollte ein Exempel statuieren, organisierte bei einem arroganten Adeligen eine läppische Beleidigung (“Herr Graf, Ihre Schnürsenkel stehen offen”, obwohl sie das gar nicht taten), wurde zum Duell aufgefordert, traf sich mit Sekundanten an geheimem Ort und besiegte den Größeren und Stärkeren durch Ausdauer und Geschick. Eine zionistische Selbstbehauptung. Theodor Herzl hätte seine Freude gehabt.

Für eine Radiosendung muss er ausgerechnet Adolf Hitler immitieren

Sein Mitschüler war Kurt Waldheim. Weidenfeld wurde sein Leben lang nicht müde, dessen Hilfsbereitschaft, Mut und Treue zu loben. Seine Demontage als überzeugter Nazi hielt Weidenfeld immer für ungerecht und sah in ihr das Ergebnis einer politischen Intrige. Waldheims Witwe hat er noch vor ein paar Jahren in Wien besucht und sich bei ihr bedankt, dass ohne die indirekte Hilfe ihres Mannes seine Flucht aus Österreich nach dem Anschluss wohl nicht möglich gewesen wäre.

Als 19-Jähriger kommt George in London an und wird zunächst von einer strenggläubigen christlichen Familie aufgenommen. Bis zum Schluss prägte ihn die Dankbarkeit für diese lebensrettende Hilfe. Sein letztes großes Projekt war die Unterstützung verfolgter Christen, besonders christlicher Familien aus Syrien. Mindestens zweitausend Familien hat er mit dieser Initiative aus Dankbarkeit gerettet.

In London fängt der ehrgeizige junge Mann schnell an, für die BBC zu arbeiten. Berühmt wird er eines Tages als er in einer Radiosendung ausgerechnet Adolf Hitler imitieren muss. Die Geschichte klingt wie eine Erfindung und erinnert an den Film “Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler”. Darin muss Hitlers jüdischer Rhetoriklehrer aufgrund der Heiserkeit des Führers dessen Propagandarede im Berliner Lustgarten halten, während Hitler selbst nur die Lippen bewegt.

Unter dem Titel “The Shadow of the Swastika” berichtet die BBC einmal die Woche über Nazi-Deutschland. Fester Bestandteil der Sendung ist ein Ausschnitt aus einer aktuellen Hitler-Rede. Doch eines Tages kommen die Bänder nicht rechtzeitig an. Da sich rumgesprochen hat, dass der junge Weidenfeld in der Kantine immer so gut Hitler imitiert, muss der Einwanderer aus Österreich ran.

Ein einzigartiges Netzwerk

In täuschend echtem Idiom improvisiert er eine Hitler-Rede. Und für ein paar Minuten halten die Radiohörer Großbritanniens einen 22-jährigen Juden für den Führer. Noch als 95-Jähriger hat Weidenfeld beim Abendessen oder in einer Hotelbar gerne Kostproben seines Könnens gegeben. Und sich selbst am lautesten darüber amüsiert.

Seine große berufliche Zeit beginnt nach dem Krieg, als er mit Nigel Nicolson in London den Verlag Weidenfeld and Nicolson gründet. Doch kurz danach fragt ihn Chaim Weizmann, der erste Staatspräsident Israels, ob er ihn als Stabschef bei der Gründung des Staates Israel unterstützen will. Mit Nicolson einigt Weidenfeld sich, für ein Jahr den gerade gegründeten Verlag zu verlassen und die historische Aufgabe anzunehmen.

Es wird das Jahr seines Lebens. Als Pendeldiplomat vermittelt er zwischen Israel und England, zwischen Ben Gurion und Weizmann, schafft Fundamente, von denen das Land noch heute profitiert, und etabliert ein internationales Netzwerk, das ihn sein ganzes Leben lang begleitet und das in dieser Form wohl einzigartig ist.

Zurück in London etabliert er sich als ebenso vielseitiger wie erfolgreicher Verleger. Vor allem Biografien publiziert er mit Leidenschaft – das Spektrum reicht vom Kriegsverbrecher Speer bis zum Papst und zu Mick Jagger, der sein Manuskript aber nie fertig bekommt.

Er veröffentlichte Nabokovs “Lolita”

Zu seinen wichtigsten Durchbrüchen gehören das Standardwerk der Genforschung “Die Doppelhelix” von James Watson, die Entdeckung des jungen Harvard-Professors Henry Kissinger, dessen Buch “Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812–1822” vor Weidenfeld niemand drucken will, und vor allem natürlich die Erstveröffentlichung von Vladimir Nabokovs Skandalroman “Lolita”.

Wie Weidenfeld die Veröffentlichung trickreich gegen politischen Widerstand und Zensur durchsetzt und dabei sogar das Risiko in Kauf nimmt, selbst im Gefängnis zu landen, ist typisch und eine große Lektion in Sachen Leadership oder Löwenmut.

Mit dem Weidenfeld Institute for Strategic Dialogue und dem Club of Three, der Meinungsmacher und Wirtschaftsführer aus England Frankreich und Deutschland zusammenführte, schuf sich Weidenfeld seine Konferenzplattformen. Ziel war die Weltverbesserung oder konkreter: die Stärkung des kerneuropäischen Dreiecks. Europa war Weidenfelds zweitgrößtes politisches Projekt (nach Israel), und Konferenzen waren seine Leidenschaft.

Diskutierend und überzeugend war er in seinem Element. Stunden, Tage konnte er so sitzen. Zwischendurch sank sein Kopf mitunter auf die Brust und die Augen schlossen sich wie zum Schlaf. Beobachter dachten oft fälschlich: Der betagte Lord schläft. Doch es war nur eine Art Stand-by-Modus oder eine besondere Form der erholsamen Konzentration. Jederzeit konnte man ihn in diesem Versenkungszustand ansprechen, und er würde sofort eine präzise Zusammenfassung des Gespräch der letzten zehn Minuten und einen weiterführenden Gedanken liefern.

Er verkörperte nie den Typus des verknöcherten Intellektuellen

Das Netzwerk, das George Weidenfeld im Laufe seines Lebens etabliert und so großzügig geteilt und zum Wohle anderer genutzt hat, war einmalig in seiner Breite und menschlichen Tiefe. Ob amerikanische Präsidenten oder deutsche oder europäische Staatschefs (besonders nah war er zeitlebens Henry Kissinger und Helmut Kohl). Ob Wirtschaftsführer oder Milliardäre aus Russland, Skandinavien, England oder den USA. Ob Schriftsteller von Ian Fleming über Graham Greene (den er bei der Entstehung des “Dritten Mannes” begleitete) bis zu Truman Capote – er kannte sie alle.

Aber auch in der Welt der Mode und der schönen Frauen bewegte sich Weidenfeld – der Homme à Femmes – genüsslich und geschickt. Er verkörperte nie den Typus des verknöcherten Intellektuellen oder des verbitterten Machtmenschen. Er war vielmehr ein machtpolitisch interessierter und breit gebildeter Hedonist.

Seine berühmten George-Dinner in seinem im Stile der Wiener Gründerzeit eingerichteten Londoner Apartment waren die begehrtesten Einladungen in der englischen Gesellschaft. Man traf sich unter den großen Papst-Bildern, die der Gastgeber sammelte. Und man rieb sich die Augen, wer alles seinen Einladungen folgte. Ein Drittel exzentrische Young Hopefuls, ein Drittel reiche oder mächtige Macher und ein paar Has-Beens sowie einige bildhübsche Frauen – das war sein Erfolgsrezept. Und natürlich kollektive Gespräche bei Tisch, die die Welt veränderten, mindestens.

Bis ins hohe Alter hatte George Weidenfeld eine beneidenswerte Vitalität. Geistig kristallklar. Bis in die letzten Stunden wirkte er nie wie ein alter Mann. Im Gegenteil: Im Alter wurde er immer besser. Mit 70 sah Weidenfeld – the “Natural Born Lord” wie Tina Brown ihn nannte – besser aus als mit 50.

Geschichten von früher erzählte er eher selten und ungern

Und auch mit Mitte 90 nahm er an allen Ereignissen geistig und physisch teil, flog von London nach Tel Aviv, von New York nach Berlin, war an jedem noch so zwischenmenschlichen Klatsch brennend interessiert. Geschichten von früher erzählte er dabei eher selten und ungern. Der Rückblick interessierte ihn wenig. Der Blick nach vorne war seine Sache. Pläne für die nächsten zehn Jahre schmieden – das liebte er.

Noch wenige Tage vor seinem Tod plante er mit mir einen gemeinsamen Sommerurlaub in Lucca. Und wenn er so plante, war er wacher als alle. Wenn wir uns wie jedes Jahr im November in New York trafen, passierte es gelegentlich, dass ich nach einem Langstreckenflug und vom Jetlag geplagt nach einem Dinner nur noch schnell ins Bett wollte. George blitzte dann in der Lobby seines Lieblingshotels “Carlyle” mit den Augen und sagte: “Come on, einen Nightcap in der Bar nehmen wir noch.”

Das größte Thema seines Lebens war Israel. Hier galt bei dem Brückenbauer und Mann der Mitte die Devise: “Right or wrong – my country.” Der Zionismus Theodor Herzls war sein Lebensthema. Als pragmatische realpolitische Antwort auf den Holocaust. Alles, was er tat, tat er direkt oder indirekt dafür. Der Nüchterne, den die Erfahrungen des Nationalsozialismus zum angelsächsischen Pragmatiker gehärtet hatten – hier wurde er leidenschaftlich.

Bei unseren ungezählten Reisen nach Israel sprachen wir immer wieder – meist auf der Terrasse des Hotels “King David” in Jerusalem – über seine Motivation, alles zu tun, damit dieses Land sicher und in der Welt geachtet existieren kann. Religion war es nicht. Weidenfeld war der Inbegriff des säkularen Juden. Auch

Der islamische Terror raubte ihm den Schlaf

Hebräisch sprach der Kosmopolit kein Wort, er zog es als Weltbürger der alten Schule vor, fließend in Englisch, Französisch, Italienisch oder einigen deutschen und österreichischen Dialekten zu parlieren. Israel war für ihn eine politische Idee, die er für wichtig hielt. Eine Schicksalsgemeinschaft. Eine Hoffnung. Und vor allem eine kulturelle Heimat. Auch deshalb wird er an diesem Freitag auf dem Ölberg in Jerusalem beerdigt.

Die Sorge vor den verheerenden Folgen des islamistischen Terrors war das wichtigste Thema seiner letzten Jahre. Tag und Nacht rief er deshalb an, um Sorgen und Ideen auszutauschen. Er fürchtete dabei nicht nur die Bedrohung Israels, sondern seit vielen Jahren schon die Bedrohung des freien Westens insgesamt. Israel – da war er seherisch sicher – wäre nur der Vorbote. Dann kämen Amerika und Europa.

Je weniger seine Sorgen geteilt wurden, desto schärfer wurde sein Ton. Immer öfter verglich er islamistische Terroristen mit den Nazis, erklärte, warum er ihre Bestialität schlimmer als alles andere fände, und wunderte sich über die Gleichgültigkeit und Wehrlosigkeit des Westens.

Sein letztes Interview, das er Dirk Schümer gab, als wir in diesem Dezember die letzten glücklichen gemeinsamen Tage in New York verbrachten, beschäftigte sich mit der Flüchtlingskrise, die er als ehemaliger Flüchtling ohne jede Altersmilde mit größter Sorge betrachtete. Am Abend, bevor ich abflog, saßen wir in seinem Hotelzimmer und in dem großen Sessel saß ein immer kleiner wirkender Mann, ein Körper, der sich merklich von dem großen Kopf, dem unermüdlichen Geist entkoppelte, der ihn sozusagen langsam in Stich ließ.

Wider den Kulturpessimismus und die Trägheit

Weidenfeld trank Apfelsaft und war wacher denn je. Wütend beschrieb er, wie wir durch Kulturrelativismus und Trägheit all das gefährden, was europäische Humanität nach dem Krieg mühsam erarbeitet hat. Warum? “Warum wird zugelassen, dass dieses Europa sich auflöst”, rief er. Ein wenig erinnerte die Szene an Stefan Zweig und die Enttäuschung darüber, dass am Ende eines Lebens für Europa die große Idee Europa doch noch scheitern könnte.

Weidenfelds Stimme werden wir in den turbulenten Herausforderungen der nächsten Jahre, in denen wir um Entschiedenheit und Maß ringen, nicht mehr hören. Das ist nicht gut. Seine Weisheit und Entschiedenheit fehlen zum besonders falschen Zeitpunkt.
George Weidenfeld war ein großer Europäer, aber auch ein wirklicher Freund Deutschlands. Schon 1986 prophezeite er einer Gruppe deutscher Intellektueller um Enzensberger und andere, dass es eine deutsche Wiedervereinigung geben würde.
Und er prophezeite es nicht nur, er propagierte es auch. Ein Leitartikel von ihm kurz nach dem 9. November 1989 in der Londoner “Times” war nicht unschuldig daran, dass die englische Regierung den Widerstand gegen die Wiedervereinigung aufgab.

Den Tod hat er nie gefürchtet

Immer wieder rief der betagte Holocaust-Überlebende den jungen Deutschen mehr Mut zum Selbstbewusstsein zu. Er meinte ein Selbstbewusstsein der Republik. Der Demokratie. Des Rechtsstaats. Der Toleranz. Und vor allem der Freiheit. Dafür hat er gelebt. Fröhlich und sinnlich. Und ernst nur, wenn es sein musste. Aber manchmal ist es eben ernst. Er wusste wann. Und gab dann alles.
Wer macht das in Zukunft?

Menschen wie er werden nicht mehr geboren. Aber Kulturpessimismus und Resignation sind keine Option. Wir müssen seine Fackel weitertragen.

Den Tod hat Weidenfeld nie gefürchtet. “Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht”, hat er Epikur zitierend gesagt. “Warum also sollte ich den Tod fürchten?”

Seine Frau Annabelle, die Liebe seines Lebens

In der Nacht vom 20. Januar um kurz nach 2 Uhr nachts hat der Tod ihn nach ganz kurzem Leiden doch geholt. Irgendwie dachte ich, dass das nie passieren würde. Dass er bleibt. Und irgendwie wird er bleiben. Als Kraft. Als Leitstern.

George Weidenfeld hat alles aus seinem Leben gemacht. Bis zum Schluss war er ein begehrter Gesprächspartner junger Menschen. Er wurde gebraucht. Das hielt ihn jung. 96 prachtvolle Jahre. Er hatte alles: Er hatte geistige Wirkung. Er hatte politischen Einfluss. Er hatte Geld. Er hatte Spaß. Und er hatte Liebe.

Seine vierte Frau Annabelle war die Liebe seines Lebens. Seine Muse. Seine Fürsorge. Seine Freundin. Sie hat ihn bis zum Schluss – allen Widrigkeiten zum Trotz – glücklich gemacht. George Weidenfeld war das, was Thomas Mann (Link: http://www.welt.de/110093901) über Artur Rubinstein gesagt hat, jenen Pianisten, mit dem Annabelle zusammenlebte, bevor sie George kennengelernt hat: Thomas Mann sprach vom “glückhaften Virtuosen”.

So ist der glückhafte Virtuose Weidenfeld – ja man kann es sagen – fröhlich gestorben. Am Sonntag versammelte sich seine Familie bei ihm am Krankenbett. Ich war mit meiner Familie über FaceTime auf dem Handy zugeschaltet. George freute sich, dass er plötzlich von seiner Mischpoke umringt war. Und begann zu lachen und zu singen. Ich glaube Wiener Burschenschaftslieder.
Ich kann ihn nun nicht mehr fragen. Nie mehr.

Zuerst erschienen in DIE WELT hier.

 

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netiquette:

Gudrun Wolter / 21.01.2016

Stillos der Nachruf. “Bevor er vor ein paar Tagen wegen Schmerzen im Bein ins Krankenhaus musste, rief er mich an. Er sprudelte sofort los: “Du bist mein größter Freund, mein Bruder und mein Sohn. Und auch mein Vater, ja.” Und dann sagte er, was er mir in zwanzig Jahren noch nie gesagt hatte: “Ich liebe dich.” Ich erwiderte das aus tiefstem Herzen – und war doch sehr besorgt.” Man schreibt so etwas nicht über seinen besten Freund. “Kann man über einen Menschen, der einem so nah war, einen Nachruf schreiben? Ich nicht. Nur sehr persönliche Erinnerungen.” Was folgt sind keine Erinnerungen, nur Peinlichkeiten. Wen interessiert die Erwähnung Schümers. Und “die Zuschaltung per Facetime” etc. Wie schwach ist man, wenn man selbst in einem “Nachruf”, in “persönlichen Erinnerungen” sich permanent in den Vordergrund spielen muss? Traurig, aber G.W. nimmt’s mit Humor. Gewiß.

Christoph Schreiber / 21.01.2016

Ein starker Text über einen großen Menschen. Danke.

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