Wolfgang Röhl / 13.02.2008 / 23:06 / 0 / Seite ausdrucken

Hurra, eine neue Krankheit!

Der zugegeben spießige Vorsatz, mal einen Abend „gemütlich“ vor dem Fernseher zu verbringen, erweist sich zunehmend als Herausforderung. Letzten Dienstag standen seitens der Öffentlich-Rechtlichen neben dem üblichen Serienschund aus den Bereichen Krankenhaus und Kirche (ARD) lediglich die gewohnten Welt-am-Abgrund-Dokus (arte), DDR-Verklärendes aus Friedrichroda („Wo der Osten Urlaub machte“, MDR) und Finsteres aus dem postzonalen Plattenbau („Die Kinder sind tot“, BR) zur Auswahl. Da verirrt man sich schon mal in die ZDF-Sendung „37 Grad“, obschon man es besser wissen sollte.
„37 Grad“ ist das, was einst „Das kleine Fernsehspiel“ war; vorwiegend ein Spielplatz für Anfänger und solche, die es immer bleiben werden; thematisch fest auf alle Verrücktheiten und Verrückten dieser Gesellschaft fixiert. Gestern traten bedauernswerte Opfer einer neuen Krankheit an, die sich „Multiple Chemikaliensensibilität“ (MCS) nennt…

Sie brechen immer und überall unter der Last von Ausdünstungen, Düften, Sprays, Düngergerüchen etc. zusammen und leiden schrecklich, weil sie sich naturgemäß von ihren Mitmenschen isolieren müssen. Letztere wurden in dem Feature denn auch gehörig dafür gebasht, dass ihnen das Leid der MCS-Opfer offenbar schnuppe ist, weil sie nicht darauf verzichten mögen, sich zu parfümieren, Deo unter die Achseln zu sprayen etc. An dieser Stelle wurde ich das erste Mal unruhig.

Neben einem jungen Mädchen in genau jenem Alter, in dem ihm alles Mögliche möglich erscheint, trat als Kronzeuge ein Schweizer mit Mundschutz auf, der in einem Wohnwagen lebt und rastlos vor Dünsten aller Art auf der Flucht ist. Der Mann machte einen schwer gestörten Eindruck und durfte daher im Anschluss an „37 Grad“ bei Kerner den Darth Vader der MCS-Szene geben. Sowas nennen die Fernsehmacher Audience flow.

Tags darauf schlug ich im Internet nach, was es mit MCS denn auf sich hat. Ich lernte (wie im Witz, wo Hein den Fiete fragt, wie Fietes Frau im Bett ist), dass die einen so und die anderen so sagen. Die Existenz einer solchen Krankheit steht offenbar gar nicht sicher fest; fest steht aber wohl, dass es Menschen gibt, die glauben, dass es Dämpfe und Dünste sind, unter denen sie leiden. Eine aus Steuermitteln finanzierte, von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Untersuchung von MCS-„Patienten“ ergab außer einem großen Haufen von vagem Material immerhin dies: 84 Prozent derer, die glauben, an Düften erkrankt zu sein, hatten schon mindestens eine psychische Störung. Hätte ich nach dem Anschauen der Sendung auch geschätzt.

Um nicht missverstanden zu werden: ich bin eine warmherzige Person und durchaus zu tiefem Mitgefühl mit geschundenen Kreaturen imstande. Nichts dagegen, dass weitere Studienprojekte zum Komplex MCS aufgelegt, Selbsthilfegruppen eingerichtet, Opfergeschichten veröffentlicht werden. Die Angstindustrie ist ja auch eine Industrie, und sie beschäftigt Menschen. Das ist schon mal was in Zeiten, da die Handys auch in Rumänien gebaut werden können. Wenigstens die MCS-Forschung können uns die Rumänen nicht wegnehmen, DIE nicht!

Was mich nervös macht, ist allein der Unterton, der gestern in beiden Sendungen zum Thema durchklang. Könnte es sein, das in gewissen grünen Schubladen schon die Gesetzesvorlagen schlummern, die uns in nicht ferner Zukunft verbieten werden, am Abend Chanel No. 5 aufzutupfen, morgens mit Odol zur gurgeln, auf bestimmte Weise hergestellte Kleidung zu tragen, mit Aktenmappen aus duftendem Leder rum zu laufen und, und, und? Wenn die hysterisch postulierte, aber nie empirisch bewiesene Annahme, auch Passivrauchen führe zu Krebs, so mal eben eine ganze, traditionsreiche Eckkneipenkultur vernichtet, wer wollte da den armen MCSlern tatkräftige Hilfe verwehren? Sind wir nicht alle an ihrem Leid schuld? Wie lange wollen wir noch wegsehen?

Vorschlag zur Güte: da es sich bei MCS-Opfern um keine sehr große Gruppe handelt (auch wenn man davon ausgeht, dass nach den beiden Sendungen vom Dienstag spontan weitere Menschen ihre Betroffenheit entdecken werden), könnte man sie komplett nach Helgoland verbringen. Weil: Helgoland liegt weit von allen Festlandsgerüchen entfernt. Helgoland hat seit längerem ein Tourismusproblem und braucht dringend Gäste. Helgoland ist von jeher das Paradies für Allergiker. Es gibt dort nahezu nichts, was duftet. Außer den Kosmetika in den Ramschläden. Die müsste man eben verbieten.

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