Vera Lengsfeld / 30.09.2008 / 14:55 / 0 / Seite ausdrucken

Heute vor zwanzig Jahren: Die Relegierung der Ossietzky-Schüler und ihre unerwarteten Folgen

Während das vereinte Deutschland sich mit Hingabe in Ausstellungen, Diskussionen ,Büchern und Filmen seiner terroristischen Mörder West widmet, hat es für seine wahren Kämpfer für Demokratie und Freiheit Ost wenig übrig. Dabei hätte es allen Grund, stolz auf diese Widerstandstradition zu sein. Einer der wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zum Zusammenbruch des DDR-Regimes war die Auseinandersetzung um die Maßregelung von neun Schülern der Berliner Carl -von- Ossietzky -Schule vor zwanzig Jahren.
Was war geschehen? Anfang 1988 wurde die DDR nachhaltig erschüttert durch die so genannte Liebknecht-, und Luxemburg-Affäre. Am Rande der jährlich stattfindenden Demonstration zum Gedenken an die ermordeten Arbeiterführer verhafteten die Staatssicherheit der DDR innerhalb von wenigen Stunden mehr als 200 Bürgerrechtler, die sich mit eigenen Plakaten an der Demonstration beteiligen wollten. Es war die größte politische Massenverhaftung in der Geschichte der DDR. Die Staatssicherheit plante einen so genannten „Enthauptungsschlag“ gegen die Opposition , die sich in den achtziger Jahren in der DDR entwickelt hatte. Allerdings erwies sich die Aktion als gigantische Fehlplanung.
Statt nach zwei, drei Tagen abzuebben, weiteten sich die Proteste gegen die Verhaftungen mit jedem Tag mehr aus. Zum Schluss fanden in mehr als dreißig Städten und Gemeinden jeden Abend Solidaritätsveranstaltungen mit den Inhaftierten statt. Die Westpresse berichtete. Das Regime musste nachgeben und die Verhafteten entlassen. Allerdings wurden alle Bürgerrechtler in den Westen abgeschoben. Die Staatssicherheit erhoffte sich davon eine substantielle Schwächung der Opposition. Sie hatte sich wieder verrechnet. Mein Sohn Philipp war nach der Abschiebung seiner Mutter in der DDR bei seinen Freunden geblieben. Die jungen Leute fanden, dass es Zeit sei, für eigene Aktionen. Die DDR des Jahres 1988 war schon nicht mehr die alte. Seit vier Jahren gab es in der Sowjetunion Gorbatschow mit seiner Perestroika. Die Oppositionsgruppen hatten sich unter Nutzung des alten Mottos. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ einen Freiraum erkämpft,
der vieles möglich machte, was vorher noch undenkbar erschien.
Dazu gehörte das Angebot des Direktors der Ossietzky -Schule, eine „Speakers- Corner“ einzurichten, in der die Schüler unzensiert ihre Meinung sagen sollten. Philipp und seine Freunde nutzten das Angebot konsequent. Als erstes veröffentlichte Benjamin Lindner einen kritischen Artikel über das Kriegsrecht in Polen. Es folgte Kai Feller mit einem Artikel, in dem er forderte, dass die DDR an ihrem bevorstehenden Jahrestag auf die übliche Militärparade verzichten solle. Von den 160 Schülern unterschrieben 38 auf der Stelle. Dann wurde die weitere Unterschriftensammlung verboten.
Als mein Sohn sich schließlich noch über ein in der „Armeerundschau“ erschienenes Huldigungsgedicht für eine Kalaschnikow lustig machte, war es mit der
neuen Offenheit vorbei. Alle Schüler, die sich mit Beiträgen an der Diskussion beteiligt hatten und nicht bereit waren, sich davon zu distanzieren, wurden erst in ihren Klassen aus der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, und schließlich am 30. September vor der Vollversammlung ihrer Schule vom weiteren Schulbesuch ausgeschlossen. Allerdings lief dabei nicht alles glatt. So scheiterte der FDJ- Ausschluss von Benjamin Lindner, weil sich in seiner Klasse keine Mehrheit dafür fand. Selbst bei der Schulvollversammlung gab es hörbare Proteste unter den Schülern. Schließlich führte die Relegierung der Ossietzky- Schüler zur zweiten großen Protestwelle des Jahres 1988.Es gab zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen für die gemaßregelten Schüler, Aktionswochen in den Kirchen, hunderte Protestresolutionen im In-, und Ausland. Selbst an den Wänden der von der Staatsicherheit gut bewachten Ossietzky- Schule erschienen Protest- Graffitti. .
Die Ossietzky- Schüler wurden zum Widerstandssymbol für die DDR-Jugend. Ein paar Monate nach seinem Rausschmiss landete mein Sohn Philipp zufällig in einer Diskothek in Eisenach. Der Diskjokey las das Gedicht aus der Armeerundschau vor und erzählte dem Tanzpublikum von den Ereignissen in Berlin. Als mein Sohn sich als Ossietzky- Schüler zu erkennen gab, war der Jubel groß.
Aber nicht nur unter den Jugendlichen hatten die Ereignisse große Wirkung. Die wichtigste Folge war, dass sich nun Menschen offen in der Opposition engagierten, die vorher nur heimlich sympathisiert hatten. Persönlichkeiten en wie Professor Jens Reich, Institutsleiter an der Akademie der Wissenschaften, trugen viel zum wachsenden Prestige der Opposition bei. Jens Reich war es auch, der den Ossietzky- Schülern bescheinigte, sie seien die „Pioniere“ der revolutionären Bewegung von 1989 gewesen.

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