Silvia Meixner / 22.05.2015 / 07:00 / 3 / Seite ausdrucken

Heute ich – morgen du? Die Stalker sind unter uns.

Am Tag der Walpurgisnacht 2012 änderte sich mein Leben radikal. Viele Menschen tanzten in der letzten Aprilnacht fröhlich in den Mai – für mich begann der Kampf gegen einen Stalker, der bis heute anhält. Ein Unbekannter drohte in der Nacht zum 30. April 2012, mich am 1. Mai umzubringen und eröffnete damit ein Karussell der Angst. Ich bin seitdem gezwungen mitzufahren- und weiß bis heute nicht, warum. Ich kann es mir nur so erklären, dass ich am falschen Tag am falschen Ort war und einen Irren kennengelernt habe, dem es Freude bereitet, Menschen zu quälen. Vor dem 30. April 2012 kannte ich Stalking nur aus den Medien und aus Krimis. Nun kenne ich es in vielen Facetten, mein Stalker hat kaum etwas ausgelassen, um mich immer wieder in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich wandte mich hilfesuchend an die Berliner Polizei – dort teilt man mir unter anderem mit, dass der Stalker mir „nur ein bisschen Angst machen wolle“ und „auch nicht alle Morde aufgeklärt würden“. An der Aufklärung eines Stalkingfalls, so lernte ich schnell und mit Entsetzen, hat man in Berlin- zumindest in meinem Fall- so gut wie kein Interesse.

„Das kann doch nicht sein“, hörte ich immer wieder, wenn ich Bekannten oder Freunden von meinen Erlebnissen berichtete, „warum hilft die Polizei nicht?“ Inzwischen weiß ich: Deutschland ist ein Paradies für Stalker! Egal, was die Täter unternehmen, um ihrem Opfer das Leben zur Hölle zu machen, die Gefahr, dass sie eines Tages vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden, ist gering. Dafür sorgt der sogenannte „Stalkingparagraph“, der in der Sache und Theorie zwar gut klingt, in der Praxis aber eklatante Schwächen aufweist: Der Paragraph 238 Strafgesetzbuch (StGB) ist dehnbar wie Kaugummi, und es hängt ganz vom diensthabenden Polizisten ab, ob er den Paragraphen überhaupt anwendet oder einem Bürger dringend von einer Anzeige abrät. Laut den Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik 2014 wurden im Jahr 2013 831 Fälle von Stalking gemäß Paragraph 238 StGB erfasst. Eine Studie der Technischen Darmstadt, die in den Jahren 2002 bis 2005 durchgeführt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass zwölf Prozent aller Deutschen einmal in ihrem Leben gestalkt werden – das heißt, dass insgesamt rund 9,6 Millionen Menschen von Stalking betroffen sind. Diese Zahlen umfassen sowohl Fälle, die nach wenigen Tagen beendet sind als auch Stalking fälle, bei denen das Opfer jahrelang verfolgt wird.

Nicht immer setzen Täter oder Täterinnen ihrem Opfer das Messer an die Kehle – sie agieren viel perfider, säen eine Saat der Angst und sehen genüsslich zu, wie diese aufgeht. In vielen Gesprächen mit Opfern habe ich immer wieder dieselben Sätze gehört: „Zur Polizei gehe ich nicht, die helfen mir sowieso nicht.“ Und: „Ich war bei der Polizei, die haben mich nicht ernst genommen.“ Und: „Dieser Stalkingparagraph ist doch ein Witz.“ 73 Prozent der Teilnehmer der Darmstädter Stalkingstudie gaben an, dass sie Schwierigkeiten hatten, Polizeibeamten den Ernst ihrer Situation klar zu machen. Insgesamt kommt es nur zu einer geringen Zahl an Anzeigen und nur eine verschwindend kleine Zahl landet schließlich vor Gericht. In der Folge gibt es kaum einen Stalker, der im Gefängnis sitzt. Was also soll einen Stalker oder eine Stalkerin abschrecken, sein oder ihr Opfer zu quälen? Auch die Gesellschaft verharmlost die Taten, tut sie gern als „Kavaliersdelikt“ ab. Die Opfer sollen sich bitte nicht so anstellen, es gibt wirklich Schlimmeres als Menschen, die vor der Tür stehen, Telefonterror veranstalten, gefälschte Webseiten anlegen, unter falschem Namen posten, denunzieren und permanent Angst verbreiten. Dabei wird übersehen, dass vermeintlich kleine Taten sich im Laufe der Zeit für das Opfer zu einer schier unüberwindbaren Bedrohung anhäufen. Den Tätern geht es in unserem Land gut, denn sie werden geschont- von der Gesellschaft und von den Gesetzen.

Weniger gut geht es den Opfern, die jahrelang leiden, belächelt werden und mit seelischen und körperlichen Schäden rechnen müssen, für die sie ebenfalls kaum Hilfe erfahren. Sie haben keine Lobby – und sie gründen auch keine, weil sie überhaupt keine Zeit und Energie dafür haben. Ängste werden in unserer Gesellschaft gern ignoriert – so lange es nicht die eigenen sind. Dabei kann es jeden treffen. Von jetzt auf gleich. Wer heute noch die Ängste von Stalkingopfern belächelt, kann morgen schon in der selben Situation sein. Weil er sich von einem Partner oder einer Partnerin getrennt hat, weil er sexuelle Avancen abgelehnt hat, weil er bei seinem Stalker unbewusst Neid oder Hass ausgelöst hat oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war – und einen Menschen kennengelernt hat, der sie oder ihn aus purer Bösartigkeit zum Opfer erwählt. Stalking ist ein großes Tabuthema unserer Gesellschaft. Im Krimi beschäftigen wir uns gern damit- danach sollen die Opfer aber bitte wieder verstummen. Die meisten meiner Bekannten hören stets gern die neuesten Neuigkeiten, ergötzen sich an den Schandtaten des Stalkers- „Na, hat er sich wieder gemeldet?“- dann aber wechseln sie schnell das Thema. So lange ein Stalkingopfer kein Messer im Rücken hat, kann das Ganze ja wohl nicht so schlimm sein, oder?

„Es ist, als hättest du Lepra“, sagte ein Stalkingopfer zu mir, „alle starren auf dein Leid, aber niemand will dir helfen.“ Ich hätte noch einen anderen Vergleich parat. Es ist, als hätte man ein besonders skurriles Hobby. Menschen wenden sich den Erzählungen begeistert zu, aber die Regeln sind klar: Das Opfer muss „liefern“. Wenn der Täter häufig im Auto vor der Tür sitzt, ist die Botschaft unmissverständlich: Ich habe dich im Auge. Mitgefühl oder gar tatkräftige Hilfe ist damit im persönlichen Umfeld allerdings nur selten zu bekommen. „Ist doch nicht schlimm“, sagte jemand gönnerhaft zu mir, „lass ihn doch im Auto sitzen!“ Natürlich, es ist ja nicht verboten. Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die Ähnliches erleben und nach Auswegen und Hilfe suchen. Es gibt einen guten Ansatz: Die Gesellschaft, die Politik, die zuständigen Instanzen müssen sich endlich aufraffen, Stalking nicht als Privatangelegenheit der Opfer und als Kavaliersdelikt zu betrachten. Stalker fürchten sich auch – sie haben panische Angst davor, dass Nachbarn, Freunde und Kollegen und die Oma davon erfahren könnten, was sie treiben. Genau deshalb muss man ihre Taten öfentlich machen, den Stalkingparagraphen verbessern, die Täter vor Gericht bringen und verurteilen. Erst wenn die soziale Kontrolle einsetzt, wird sich herumsprechen, dass Stalking kein harmloses Hobby, sondern die Summe grausamer kleiner und größerer Straftaten ist. So lange die Gesellschaft den Tätern die Macht gibt und den Opfern die Hilfe verweigert, werden die Stalker weitermachen.

Mein Verfolger läuft nach wie vor frei in Berlin herum. Vielleicht kennen Sie ihn ja oder sitzen demnächst neben ihm im Internetcafe oder lernen ihn auf einer Party kennen. Die Stalker sind unter uns. Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen – zumindest so lange, bis sie selbst zum Opfer werden.

Dieser Text ist das Vorwort meines Buches „Gestalkt – Tagebuch der Angst. Wie ich mich gegen meinen Verfolger zur Wehr setze“. Ich beschreibe darin meine Erfahrungen und zeige Strategien für Opfer auf (Verlag Heyne, 256 Seite, 8,99 Euro).

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Leserpost

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Peter Talby / 23.05.2015

Schrecklich, da fällt einem nichts mehr ein. Außer, 2 Herren vom Russen-Inkasso zu engagieren (Motto: auch wenn ihre Kunden kein Russisch können, sie werden uns verstehen). Funktioniert übrigens prima. Soweit ist es leider gekommen.

Thomas Bonin / 22.05.2015

Liebe Frau Meixner, zu allererst dies: ich hoffe sehr, dass Sie und/oder wer auch immer, diesem feigen Oberfiesling (resp. der Täterin?) endlich auf die Schliche kommen und sich in Folge ein diesbezüglicher Regress in Gang setzen lässt, der sich gehörig gewaschen hat! Selbstredend drücke ich Ihnen die Daumen, dass Sie sich nicht (gott behüte, noch weiter) runterziehen lassen und Sie weiterhin das tun, was Sie am besten können - nämlich, Ihre Leserschaft mit exzellenten Texten in den Bann zu ziehen. Dass Sie solches packen, haben Sie im Grunde bereits (sogar) mit diesem Beitrag erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt.  Ihr “Pech” ist freilich, dass Sie weder Lena Meyer-Landrut heißen, noch Vollzeit-Bundestagsabgeordnete sind. Dann dürfte sich der unappetitliche Fall längst in atemberaubender Geschwindigkeit (Stichwort “Soziale Netze” bzw. “Staatsmacht”) aufgelöst haben.

Max Wedell / 22.05.2015

Was die Dinge bzgl. Stalking angeht, die man mit der Polizei erleben kann… hier mal ein besonderer Fall aus dem Hochhaus, das ich bewohne: Einer der Mieter bedroht einen anderen Bewohner, den er fälschlich in Verdacht hat, seine Wohnung kaufen zu wollen und ihn somit wohnungslos zu machen, regelmäßig und schon jahrelang, indem er irrsinnige Anschuldigungen gegen den anderen Bewohner auf Schilder schreibt und in sein Fenster hängt… sicher einmal ein außergewöhnlicher Fall von Stalking, denn Anonymität wird nicht im Geringsten angestrebt. Der Bedrohte lacht darüber, aber als eines Tages die Drohung auftaucht, der Bedrohte solle mal auf sein Auto aufpassen, das auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus steht, läuft das Faß über und der Bedrohte fängt den “Stalker” im Hauseingang ab und bedroht ihn seinerseits, was auch körperlich wird, aber nicht über eine harmlose Schubserei hinausgeht. Daraufhin ruft der Stalker die Polizei. Die klingelt beim Bedrohten, und ermahnt ihn in aggressivem Ton, er solle es unterlassen, den Herrn X. körperlich anzugehen. Als der Bedrohte die Gesamtsituation zu erklären versucht, sind die Polizisten kurz angebunden und geben den deutlichen Eindruck ab, zu meinen, der Bedrohte würde sich etwas zusammenfantasieren oder zumindest versuchen, sich auf dem Wege der Übertreibung “herausreden” zu wollen. Als der Bedrohte das Schild im Fenster des Stalkers erwähnt, das die Androhung enthält, das Auto des Bedrohten zu beschädigen (mit Nummer des Kennzeichens!!!), sagen die Polizisten, daß er sich dann ja gern an sie wenden könne und Anzeige erstatten, sobald sein Auto von X. beschädigt worden sei, aber nicht vorher… und nein, die 50 Meter bis zum Fenster von X. hätten sie jetzt keine Lust zurückzulegen, um irgendwelche Schilder zu lesen… selbst wenn es solche Schilder gäbe, könne man nichts machen, auf Wiedersehen! Hier wird im eher harmloseren Fall deutlich, was auch in viel ernsthafteren Fällen die einzige Handlungsmöglichkeit zu sein scheint: Angesichts einer Drohung, den Schädel eingeschlagen zu bekommen, scheint es keine andere Option zu geben, als zu warten, bis man den Schädel tatsächlich eingeschlagen bekommen hat… dann, allerdings aber auch erst dann, schreitet die Polizei unverzüglich ein!

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