Von Erik Lommatzsch.
Hermann Gröhe hat Mut bewiesen. Gelegenheit dazu bot ihm der 12. August. Diesen Tag hatte die amtierende Bundeskanzlerin für den „Wahlkampfauftakt“ gewählt. Eine Veranstaltung der CDA (der „Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft“, einer einstmals einflussreichen Gruppierung innerhalb der CDU) bot dazu in Dortmund das Forum. Der bösen Automobilindustrie wurden gehörig die Leviten gelesen, Diesel-Skandal und so weiter. Ein glückliches Land, welches ansonsten sorgenfrei im harmonischen Miteinander mit allen europäischen Partnern auf die kommenden Jahre blicken darf.
Zum Abschluss der Veranstaltung war das Podium angefüllt von mehr oder weniger prominenten Gesichtern der CDU und ihrer Unterstützer. Gesungen wurde „Einigkeit und Recht und Freiheit“, die dritte Strophe des „Liedes der Deutschen“. Den Text verfasste ein gewisser Hoffmann von Fallersleben. Der dichtete im 19. Jahrhundert. Oder sollte man besser sagen „trieb sein Unwesen im 19. Jahrhundert“? Immerhin war es die Epoche der „Nationalstaaten“ und der Dichter fühlte sich diesen Dingen, natürlich in Bezug auf sein eigenes Land, nicht ganz unverbunden. Diese Epoche war noch böser als die Automobilindustrie (das will was heißen).
Besagter Text brachte es zu dem, was man gegenwärtig tatsächlich noch als „Nationalhymne“ bezeichnet. In der Bundesrepublik hatte man sich darauf verständigt, die dritte Strophe bei offiziellen Anlässen als Hymne zu intonieren. Dazu existiert ein für die Öffentlichkeit gedachter Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss von 1952. Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker bekräftigten das Ganze 1991. Hier heißt es, das Lied an sich bilde als „Dokument deutscher Geschichte“ insgesamt eine Einheit, die „3. Strophe des Liedes der Deutschen… ist die Nationalhymne für das deutsche Volk.“
Immerhin wurde auf dem Podium der CDA die Hymne durchweg gesungen und nicht anderweitig geredet. Das unterschied diesen Veranstaltungsteil wohltuend vom entsprechenden Programmpunkt der Beisetzung Helmut Kohls an einem verregneten Julitag dieses Jahres. Auch Hermann Gröhe hat in Dortmund zum „Wahlkampfauftakt“ gesungen. Gröhe ist lebenslänglicher CDU-Politiker. Er brachte es zum Bundesvorsitzenden der Jungen Union, fungierte als CDU-Generalsekretär und wird gegenwärtig als Bundesgesundheitsminister verwendet.
Mutig war es von ihm, einfach so zu singen. Zwar tat dies auch die neben ihm stehende Kanzlerin, aber Gröhe hat schlechte Erfahrungen, wenn es um Symbole geht. Vor einiger Zeit hätte man unbefangen von „nationalen“ Symbolen gesprochen. Inzwischen besteht eine gewisse Gefahr, dass die Verwendung derartiger Worte innerhalb kürzester Frist (zum Beispiel der Spanne zwischen Abfassen eines Textes und dessen Veröffentlichung) strafrechtliche Relevanz erlangt und man es erst mitbekommt, wenn es zu spät ist.
Ab und an braucht es eben Belehrung von berufener Seite
Das böse N-Wort – nicht das, mit dem einst dunkelhäutige Menschen bezeichnet wurden, sondern das fürs Land – findet sich im Nachsatz verschiedener Grundgesetzausgaben vor „Hymne“, gefolgt vom Abdruck des Textes der dritten Strophe des „Liedes der Deutschen“. Aber was bedeutet das schon? Gröhe war mutig, jetzt die National(böse)hymne zu singen, weil er mit der Bundesflagge die Kanzlerin angesichts der Feier des Wahlsieges von 2013 doch arg vergrätzt hatte. Dabei heißt diese laut Grundgesetz nicht einmal „Nationalflagge“ – was aber offenbar nicht ausreichte, entsprechende Klippen zu umschiffen.
Dass die Kanzlerin ihm die Fahne aus der Hand nahm und wegexpedierte, das Gesicht von Missmut (unhöfliche Variante: Ekel) gezeichnet, hatte Gröhes Lächelklatschen allerdings seinerzeit keinen Abbruch getan. Ab und an braucht es eben Belehrung von berufener Seite. Die Fahne des eigenen Landes stolz zeigen, zum Beispiel anlässlich des äußerst positiven Ausgangs einer Wahl für die eigene Partei? Pfui! Oder wie es in einem immer beliebter werdenden Ausdruck aus dem Repertoire des Empörungssprech heißt: Das geht gar nicht!
Was soll das auch? Schwarzrotgold, die Farben des gegen die Fremdherrschaft Napoleons kämpfenden Lützowschen Freikorps, des Wartburgfestes von 1817, des Hambacher Festes von 1832, der letztlich gescheiterten Revolution von 1848/49, der Weimarer Republik und schließlich der Bundesrepublik Deutschland bzw. des seit 1990 wiedervereinigten Nachkriegsdeutschland? Alles bekanntlich unsägliche Tiefpunkte der deutschen Geschichte auf dem Weg zu Einigkeit und Recht und Freiheit. In die Tonne mit dieser Fahne! Brauchen wir nicht. Fast schade, dass Angela Merkel am Wahltag keinen Schnupfen hatte – sonst wäre dieser Stofffetzen möglicherweise einer ihm noch angemesseneren Verwendung zugeführt worden.
Die immer weiter zunehmende Geschwindigkeit der Veränderung ist ein wesentliches Merkmal der Neuzeit. Das lernt jeder Geschichtsstudent im Proseminar. Der Autor dieser Zeilen kann das nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bestätigen. So erinnert er sich an eine ARD-Sendung (damals für ihn noch „Westfernsehen“, es war in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre), moderiert von Alfred Biolek. Unter anderem gab es hier eine Telefonumfrage, ob die Bundesbürger einschreiten würden, sollte die schwarzrotgoldene Fahne, die Bundesflagge, geschändet werden. In Erinnerung geblieben ist dem damals etwas verblüfften Ostjugendlichen zwar nicht der genaue Prozentsatz (und wie es mit der Umsetzung derartiger Vorhaben in der Realität aussieht ist ja dann auch noch einmal eine andere Sache), aber immerhin die durch eine Anruferzahl mindestens im Bereich der Zweidrittelmarke signalisierte Bereitschaft zum einschreitenden Handeln.
Die musikalische Symbolballast existiert nach wie vor
Joachim Gauck veröffentlichte zu einer Zeit, als noch nicht absehbar war, dass er jemals das höchste deutsche Staatsamt bekleiden würde und die Bevölkerungen für ihn wohl auch noch nicht „das Problem“ darstellten, seine Erinnerungen. Den Schluss der von DDR-Repression und dem Umgang mit der Staatssicherheit vor und nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur geprägten Memoiren bildet folgende Szene, Gauck schrieb über den 23. Mai des Jahres 2009:
Ich setze mich auf die Mauer vor dem Reichstag, hinter mir weht die schwarzrotgoldene Fahne.
„Komm“, sage ich zu meiner Begleiterin, „nimm den Fotoapparat und fotografiere mich.“
Die Frau ist intelligent und aus dem Westen, sie sagt: „Aber doch nicht hier, vor dieser Fahne!“
„Doch“, sage ich, „genau hier!“
Die Zeit schreitet voran und mit ihr die Veränderung. Die Bundestagswahl 2017 steht bevor. Die Wahrscheinlichkeit, dass die derzeitige Bundeskanzlerin am Abend des 24. September abermals als Siegerin auf dem Podium steht, ist nicht gering. Der Spannungsbogen erstreckt sich auf die Frage, ob es mit den Gelbblaupinken reicht oder man einfach in der gegenwärtigen Koalition weiter… regiert.
Auch Hermann Gröhe macht sich dem Vernehmen nach Hoffnungen auf ein weiteres Dasein als Gesundheitsminister. Voraussichtlich steht am Wahlabend eine CDU-Feierstunde an. Mit einer schwarzrotgoldenen Bundesflagge wird Gröhe die Stimmung der Chefin sicher nicht noch einmal trüben. In Dortmund hat sie nun neben ihm die National(böse)hymne mitgesungen – aber was besagt das?
Anderthalb Monate sind ausreichend Zeit für eine Vielzahl von Positionswechseln. Der Wahlabend des Jahres 2013 war der Abend des Flaggenmissmuts, der musikalische Symbolballast jedoch existiert nach wie vor. Dem mutigen und standhaften Hermann Gröhe sei Vorsicht angeraten: Sollte er am Wahlabend die National(böse)hymne anstimmen, muss er möglicherweise gegenwärtig sein, dass ihm die Kanzlerin den Mund zuhält. Und das gibt ganz schlechte Bilder für die Öffentlichkeit. Und die will die Kanzlerin doch unbedingt vermeiden. Dafür nimmt sie bekanntlich alternativlos die eine oder andere Hypothek auf, gern auch hinsichtlich der Zukunft des Landes (früher: „Nation“).
Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.