Von Hans-Martin Esser
Es geht um ein Luxusgut dieser Tage. Man muss sich diesen Luxus leisten können, damit man richtig dazugehört zum Club der Wahren, Schönen, Guten. Ich unterstelle, dass sich jeder in Europa bewusst ist, was zurzeit im Gange ist, nämlich eine Völkerwanderung. Der Luxus besteht darin, so zu tun, als ob es kein Unterschied sei, ob nun 500.000 Menschen kommen oder 500 Millionen.
Aus unserem Geschichtsunterricht wissen wir, dass mit der ersten europäischen Völkerwanderung auch das finstere Mittelalter begann, also jene Epoche, die vor Karl dem Großen und nach Kaiser Romulus Augustulus lag.
Die Namen Alarich, Theoderich und Odoaker haben, wenn man sie denn überhaupt kennt, einen faden Beigeschmack, jedenfalls einen faderen als Marc Aurel, Konstantin oder Trajan. Waren es nicht die Germanenfürsten, die die hochstehende römische Zivilisation in den Abgrund gerissen hatten? Nun ja, die Römer trugen ihren Teil dazu bei. Selbstgefälligkeit, Kriegsunlust und überdehnte Grenzen hatten sie dazu geführt, dass es ein Ende mit der Herrlichkeit hatte.
Die Völkerwanderung führt uns vor Augen, dass es nicht unentwegten Fortschritt geben kann. Endlich, würde Wachstums-Skeptiker mit masochistischen Anwandlungen sagen.
Wir, wenn wir die Germanen als unsere Vorfahren sehen wollen, was ungenau ist, da die einzelnen Germanenstämme höchst heterogen waren, haben Europa mit den Plünderungen Roms keinen Gefallen getan. Antike Schätze zu zerstören, zu verhökern und geringzuschätzen, wenn man kulturell nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat, kommt nie gut an. Deshalb schauen wir auch heute mit Wut auf Palmyra und was dort geschieht. Aus diesem Land kommen ja viele der Hilfe Suchenden.
Bis heute gelten zumindest in Südeuropa Germanen als Inbegriff des kulturfernen Volkes, die geistige Übertragungsleistung vollzieht sich in Italien anno domini 2015 immer noch gern. Dort sieht man sich, ob berechtigt oder nicht, als Nachfahren der Römer. Wenn nun ein teutonischer Tourist mit Funktionsjacke, Fahrradhelm oder – das Klischee, das auch immer 2 Funken Wahrheit beinhaltet, mit kurzer Hose, Schmierbauch, Tennissocken und braunen Riemchensandalen, vor einem Römer steht, für den Ästhetik ein Wert an sich ist und fare figura eine Kulturerrungenschaft, dann kommt es wieder hoch, das Vorurteil vom dumpfen Deutschen. Es gibt sie noch, die dumpfen Backen.
Kulturbeflissene Deutsche machen ja auch selbst gern mit bei der kulturellen Selbsterniedrigung, indem sie sich über peinliche Landsleute im Ausland (das gibt es noch, auch in Europa) lustig machen. Nicht wenige attestieren der Klassik, der Aufklärung sowie der Romantik mediterrane Wurzeln. Hochmomente deutscher Kulturleistung also nur als Ableitung der italienischen Kultur, der Antike und der Renaissance.
Vorurteile zu haben, ist nicht per se schlecht, da sie Entscheidungen ja überhaupt erst möglich machen bei komplexer Datenlage und Menschen in unübersichtlichen Mengen. Man kann also den, der sich über Vorurteile erhebt als moralischsten aller Menschen ansehen, einen, der den Durchblick behält, ohne zu generalisieren. Keine Vorurteile zu haben, zeichnet ihn aus, den Besten unter den Guten sozusagen (so hat Seehofer mal über zu Guttenberg gesprochen).
Nur wer ein besonders guter Mensch ist, outet sich als Nicht-Generalisierer. „Man darf das nicht alles bewerten“ oder: „Man darf das nicht alles über einen Kamm scheren“ sind hier ausgeleierte Sätze, um nicht zu sagen Abziehbilder und Klischees, die formal genau das widerlegen, was man inhaltlich sagen wollte.
Unser Gefühl, dass die – im Vergleich zu den Römern – unzivilisierten Germanen den Fluss der Geschichte negativ beeinflusst hätten, könnte man also als Stereotyp, als undifferenziert abtun. Es ist aber eine mögliche Wertung, vielleicht gar eine plausible.Dabei hat aber wohl fast jeder ein schlechtes Gefühl, da die Zeit nach Justinianus als dunkel gilt im Vergleich zum hellen Rom. Verschwörungstheoretiker glauben gar, es habe ein Jahrhundert gar nicht gegeben, vom „erfundenen Mittelalter“ ist die Rede.
Konnte man in Rom noch Jahrhunderte zuvor noch auf den Tag genau datieren, war es mit Aufkommen der Germanen bis zu den Karolingern nicht einmal mehr möglich, irgendwie Struktur in das Chaos, genannt Geschichte, zu bekommen, ein Jahrhundert kann bei so viel Unstrukturiertheit ja auch mal verloren gehen, was soll´s. Das elementare Bedürfnis, zu messen, also genau datieren zu können, ist ein Kulturgut ohne gleichen. Drunter und Drüber kein wünschenswerter Zustand.
Das Werten und das Datieren als besondere Kulturgüter waren den Römern eigen. Sueton, Cassius Dio und Plinius waren die großen Namen der römischen Geschichtsschreibung. Was hatten die Germanen diesen schon entgegenzusetzen?
1000 Jahre später erst kam mit der Renaissance das Happy End für viele im Geschichtsunterricht, wieder sind die Italiener die Guten, so sagt uns zumindest das Gefühl und mir auch der Verstand.
Hat man nicht endlich die Rückständigkeit überwunden, indem man sich in der Renaissance der Kulturtechniken zu befleißigen wagte, die man schon 1500 Jahre zuvor am selben Ort hatte.
Dunkelheit entsteht auch durch Tabuisierung der Bewertung.
Nun im Jahr 2015 ist es andersherum. Südlich von Italien liegen ehemals stolze Zivilisationen, die sich nach Norden aufmachen in großen Mengen, dass es der Völkerwanderung der Zeit vor 1500 Jahren gleicht. Sie kommen aus Kulturkreisen, die seit Jahrzehnten an Boden verlieren, das aufregende, wertende Zeitalter der Globalisierung komplett verschlafen haben. Sehnsuchtsort ist Deutschland, das Land der inzwischen genau Messenden, der Controller, der Just-in-Time-Lieferanten, der perfekten Organisation. Das Dokumentieren ist hier im Deutschland des Jahres 2015 – im Gegensatz zu den Germanen - zur Aufklärungstechnik geworden.
Bewertung ist also eine Kultursitte, denn mit ihr gehen Fortschritt und Wohlstand für alle einher, auch für jene, die von diesen Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht schufen.
Exaktheit, Präzision waren in Rom im Jahre 15 sowie hierzulande im Jahr 2015 die Motoren. Die Welt will vermessen werden, wie wir seit Kehlmann wissen. Länder, die dies nicht kapierten, haben den Anschluss verloren. Die griechische Tragödie der Gegenwart liegt auch in der ungeheuerlichen Schlamperei begründet, nichts bewerten zu wollen, weder im Finanzamt noch in Katasterbehörden, ganz zu schweigen von Ländern, die im Chaos versinken und südlich von Griechenland liegen.
Der größte Luxus in einem Land und zugleich auch das Verhängnis eines solchen Landes, unabhängig von Zeit oder Geographie ist es, wenn man meint, man könne sich das Privileg leisten, auf Bewertung zu verzichten. Das ist sehr schnell der Anfang vom Ende. Aus Großmütigkeit wird dann schnell Übermut, eine Variante der Großmannssucht mit anderen Vorzeichen.
Wer also sagt, das Grundgesetz kenne für Asyl keine Obergrenze und für Einwanderung keine Standards, der müsste im Extremfall hinnehmen, dass sich die gesamten Bevölkerungen des Maghreb, Mittelasiens und Afrikas auf den Weg machen und sich dann wundern, dass sie sich in einem viel kälteren Land, welches bewaldet ist und Deutschland heißt, auf den Füßen stehen und die gleichen Probleme wie zuvor haben.
Zusätzlich haben die 81 Millionen Menschen in Deutschland dann noch das Problem, auf den Standard abzurutschen, auf dem diese Zugewanderten lebten, bevor sie kamen. Nichts ist schlimmer als einen Standard zu verlieren, den man vorher als selbstverständlich hinnahm.
Es gibt ja win-win-Situationen, was natürlich eine Wertung voraussetzte. Wer gewinnt, muss beurteilen, wie viel er hatte bzw. danach hat.
Die Bemerkung von Angela Merkel, das Asylrecht kenne keine Obergrenze, ist der Luxus, sich der Bewertung zu entziehen. Historisch wird Merkel vielleicht als eine Art Chamberlain, nicht als Churchill, denn das Mantra von „wir schaffen das“ ist mehr ängstliche Beschwichtigung als heroische Pose, der selige Franz Josef Strauß würde sagen: „Das ist Pfeifen im Walde, damit man das Fürchten nicht so merkt“. Boxer mit großem Mundwerk haben in der Regel die meiste Angst.
Oder wie Volksmund sagt: „Geht es dem Esel zu gut, rennt er aufs Eis“. Genau für solche Irrsinnsaktionen nimmt uns die Kanzlerin in Geiselhaft. Aber die Kommenden werten ja selbst: sie wissen, dass das so präzise arbeitende Deutschland besser ist als die alte Heimat und der dort wütende Krieg bzw. die dort herrschende Armut. Die alten Germanen werteten auch. Sie wussten, dass es besser ist, sich in Bewegung zu setzen und von den Meriten der wertenden und kalkulierenden römischen Kultur zu profitieren.
Wenn also heute alle kämen, die wollen, in der Mathematik nennt man so etwas wohl Extremwertberechnung, haben die Migranten ein ähnliches Elend wie zuvor, dann hätten wir 500 Millionen neue Mitbürger, schon bei nur einem Prozent von 500 zerrisse es unseren Sozialstaat. Niemand hätte etwas davon, es wäre eine lose-lose-Situation, zumal es hierzulande für die Kommenden klimatisch unangenehmer ist als zu Hause. Elend und Kälte ist schlechter als Elend und angenehme Temperaturen.
Das ist zwar zynisch, aber wahr.
Vielleicht sollte die Kanzlerin besser statt „Wir schaffen das“ sagen: „Ihr schafft das….schon….irgendwie…..wahrscheinlich….vielleicht…“.
Hans-Martin Esser (37) ist Ökonom und als Unternehmer tätig.