Das politische Feuilleton gehört zum Besten, was wir der deutschsprachigen Pressegeschichte zu verdanken haben. Börne und Heine, Maximilian Harden, Siegfried Jacobson, Karl Kraus, Tucholsky, Siegfried Kracauer, Leopold Schwarzschild, später H. M. Enzensberger, Eugen Kogon und Sebastian Haffner haben ihm Glanz und Ansehen verliehen. Literarisch geschliffen und mit kulturhistorisch geschärftem Blick kommentierten sie das Zeitgeschehen, kritisch und subjektiv entschieden, nicht immer zutreffend, aber doch stets mit intellektueller Schärfe. Die Politiker hatten ihre Beiträge mehr zu fürchten als die Berichte der politischen Korrespondenten.
Davon kann heute, von Ausnahmen abgesehen, keine Rede mehr sein. Zum einen wollen es sich die Kritiker mit niemandem verderben. Wo sie früher urteilten, bemühen sie sich nun, Verständnis für alles und jeden zu zeigen. Lieber erheben sie vorsichtig den Zeigefinger, als dass sie die Peitsche schwingen.
Vor allem aber haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Das politische Feuilleton hat seinen Gegner verloren. Kultur und Politik können nicht mehr aneinander geraten, weil die Politik selbst zunehmend feuilletonistisch betrieben und aufgefasst wird, nämlich als mehr oder weniger gelungene Inszenierung.
Beispielhaft dafür ein Interview mit Prof. Werner Weidenfeld, dem Direktor des „Centrums für angewandte Politikforschung“ an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, abgedruckt in der FAZ vom 14. Juni 2016. Es geht wieder einmal um die Krise der Europäischen Union und darum „wie unsere Politiker sie lösen können“.
Falsch oder richtig ist egal, hauptsache das "Narrativ" stimmt
Nachdem Prof. Weidenfeld, immerhin eine geschätzte Autorität der europäischen Politikwissenschaften, festgestellt hat, dass die Politiker „den Menschen keinen übergeordneten Sinn oder eine Vision, die langfristig heute für die EU begeistern kann“, hätten vermitteln können, fragt der Interviewer wie aus der Pistole geschossen: „Also fehlt es an einer begeisternden Erzählung von Europa?“ Mit anderen Worten, entscheidend ist nicht, ob die Politiker richtig oder falsch entschieden haben. Das wird gar nicht erst erwogen. In Frage steht vielmehr, ob die Politiker als Erzähler überzeugen oder versagen, ob sie sozusagen literarisch den politischen Anforderungen genügen.
Immer wieder hebt das Gespräch auf diesen einen Punkt ab, so etwa, wenn der Journalist wissen will, ob denn die AfD und andere „rechte Parteien“ Europas „eine Erzählung“ anzubieten haben, „die überzeugt“. Sogar der Historiker Weidenfeld muss sich schließlich fragen lassen: „Haben Sie denn eine Erzählung parat, die heute unter jungen Menschen zieht?“
Nicht die Realität, das, was getan oder unterlassen wird, zählt, sondern die Fiktion, an die das Volk glauben soll. Die Politik wird als das aufgefasst, wozu sie offensichtlich verkommen ist, als eine Märchenstunde, der man umso mehr applaudiert, je mehr sie das Volk einzulullen vermag.
Nun möchte mancher hier vielleicht einwenden, dass das mit der „Erzählung“ nicht so wörtlich zu verstehen sei. Vielleicht. Gut möglich sogar, dass sich viele dessen, was sie sagen, nur noch eingeschränkt bewusst sind. Gleichwohl ist es stets die Sprache, die an den Tag bringt, was wir uns vielleicht noch nicht eingestehen wollen. In der Wahl der Worte verrät sich das Denken.
Länger schon ist der Begriff des „Narrativen“, abgeleitete vom lateinischen narrare - erzählen, im Schwange. Und wenn sich die Historiker seiner bedienen, muss das kein Fehler sein. Die erzählerische Ausschmückung gehört zur Geschichtsschreibung. Für die Nachgeborenen macht sie vieles überhaupt erst verständlich, indem sie uns die Versenkung in frühere Zeiten erlaubt. Churchill wurde nicht von ungefähr als Autor historischer Werke mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt, ebenso wie Theodor Mommsen Jahrzehnte vor ihm.
Wenn es indes um die politische Gestaltung der Zukunft und mehr noch der Gegenwart geht, sollten der literarischen Phantasie doch eher Zügel angelegt werden. Da brauchen wir keine Erzählungen, die „ziehen“, sondern Konzepte, Ideen und Pläne, die überzeugen, weil sie vernünftig begründet und mit der Realität vereinbar sind. Da halten wir es durchaus mit Helmut Schmidt, der einst meinte, wer sich in der Politik auf Visionen verlasse, solle schleunigst den Arzt aufsuchen.
Wenn die politisch Handelnden wie ihre Kritiker der „Erzählung“ gleichwohl zunehmend politische Bedeutung einräumen, kann das zweierlei bedeuten: Erstens, dass wir in einer infantilen Gesellschaft leben, von deren Bürgern nicht mehr zu erwarten ist, dass sie einer vernünftigen, schlicht rationalen Argumentation zu folgen vermögen. Oder zweitens und sehr viel wahrscheinlicher, dass sich die Politiker selbst in „Erzählungen“ flüchten müssen, Scheinwelten phantastisch ausstaffieren, weil sie die Verbindung zur Realität verloren haben, nicht wissen, wie sie der Probleme Herr werden sollen.
Wo aber die „begeisternde Erzählung von Europa“ über Zahlen, Fakten und Daten hinwegtäuschen muss, verwandelt sich die Politik selbst in eine Fiktion, die sich rezensieren lässt wie jede andere Theateraufführung auch. Die „Allerweltsrezensenten“, mit Tucholsky zu sprechen, könnten sich der Sache fortan getrost annehmen. Aber auch das wäre ja schon wieder ein Thema für das politische Feuilleton. Versuchen wir also, auf dem Posten zu bleiben.