Kolumne von Maxeiner & Miersch, erschienen in DIE WELT am 26.01.2006:
Welche Vorteile hat Religion für die Gesellschaft und das Individuum und warum konnte sie sich überhaupt evolutionär durchsetzen? Die Zeitschrift Bild der Wissenschaft beschäftigt sich in ihrer jüngsten Ausgabe in mehreren großen Artikeln mit dieser interessante Frage: Unsere haarigen Ahnen hätten doch eigentlich mit Sex, Essen oder Faulenzen ausgelastet sein können, aber sie erfanden das Beten.
Seit Jahren ist die Renaissance des Religiösen ein in zahlreichen Varianten aufbereitetes Feuilletonthema, dass ebenso wie die „neue Bürgerlichkeit“ die Herzen der talkenden Klasse erwärmt. Mit der Realität in Europa hat der gebildete Diskurs nichts allzu viel zu tun. Außer man hält einen leichten Rückgang bei den Kirchenaustritten für eine epochale Trendwende.
Die Botschaft der Zurück-zum-Altar-Pädagogen lautet in Kurzfassung so: Klamauk-TV, englischsprachige Popsongs, Schwulenehe, Hollywood, lasche Erziehung, Fastfood und sexuelle Libertinage schwächen den Gesellschaftskörper und verunsichern den Einzelnen, der verloren wie ein Blatt im Wind durchs Leben trudelt und nirgends mehr einen Sinn erkennt. Gleichzeitig werden wir mit einer fanatisch aufgeladenen Frömmigkeit konfrontiert, die die muslimische Welt erfasst hat und der wir nichts Rechtes entgegenzusetzen haben. Es gibt kaum einen Gemeinplatz, der quer durch alle politischen Lager so viel Zustimmung findet, wie die These vom Verfall der Werte (nur Öko-Panik und Amerikaverachtung sind ähnlich konsensfähig). Da nicken alle und runzeln besorgt die Stirn: Mein Gott, was soll aus Deutschland werden?
Und weil das alles so schlimm ist, müssen die Leerbereiche in den Köpfen schnellstens mit Sinn gefüllt werden, als da wären Nation und Religion. Bisher war das Projekt nicht sonderlich erfolgreich, aber es kann ja noch werden. Die Gläubigen in unserem Freundeskreis finden es übrigens befremdlich, dass die Werte-Hausierer Religion als Instrument betrachten, mit dem man die Menschen erziehen sollte. Schließlich gibt es nur einen Grund religiös zu werden: Den Glauben an Gott. Das Modell für die instrumentelle Religionspädagogik würde ungefähr so aussehen: Nach einer Talkshow über Werteverfall bleibt der Zuschauer noch etwas sitzen und denkt nach: „Stimmt, Stefan Raab, Fitnessstudio und Mallorca-Urlaub kann doch nicht alles sein. Jetzt glaube ich an Gott.“ Klingt nicht sehr wahrscheinlich.
Wenn es aber doch so funktioniert, würde es wenigstens was nützen? Auch hierüber erteilt Bild der Wissenschaft Auskunft. Und um es vorweg zu nehmen, die Antwort ist niederschmetternd für alle die per Religion das Gute im Menschen wecken wollen. Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Psychologe Rolf Degen recherchierte über die moralische Standfestigkeit religiöser Menschen und berichtet vom Stand der Forschung auf diesem Gebiet. Wissenschaftler haben sich einiges einfallen lassen, um der Sache auf die Spur zu kommen. Unser Lieblingsversuch fand bereits vor mehr als drei Jahrzehnte statt und verlief so: Vierzig Schüler eines Priesterseminars wurden zu einem Vortragsaal geschickt, wo sie über die Tugend des barmherzigen Samariters sprechen sollten. Auf den Weg dorthin lag ein Mann der einen plötzlichen Zusammenbruch täuschend echt simulierte und offensichtlich auf Hilfe angewiesen war. 16 der 40 boten Unterstützung an. Bei etlichen anderen Versuchen und realen Situationen, die Gläubige und Ungläubige gleichermaßen vor moralische Entscheidungen stellten, schnitten die Frommen nicht besser ab. Fazit: Religiöse Menschen lügen und betrügen nicht seltener als Atheisten und sind auch keineswegs barmherziger und sozialer. Klar bewiesen ist dagegen eine erhöhte Affinität religiöser Menschen zu fanatischer Gewalt.
Wie es aussieht haben Mitleid, Nächstenliebe, Anstand und Fairness kaum etwas mit dem Glauben an einen Gott zu tun. Das ist eine gute Nachricht: Jeder kann sich entscheiden gut zu sein, das Fundament dafür steckt in allen. Sogar in Menschen, die Stefan Raab gucken.