Von Gunter Frank
Die aktuellen Entwicklungen bezüglich Pegida und Nogida haben mich an einen Text erinnert, den ich für mein Buch „Schlechte Medizin“ zum Thema Gruppendynamik verfasst habe. Er entstand aus der Verwunderung heraus, dass in der aktuellen Gesundheitsdiskussion Vernunft und objektive Argumente immer weniger Platz haben und sich stattdessen moralische Überzeugungen selbst an den Universitäten durchsetzen. Als Folge dessen werden im Namen der Gesundheit immer mehr Menschen diskriminiert, auch aufgrund genetisch definierter Körperbaumerkmale wie beispielsweise dem Gewicht. Ein unhaltbarer Zustand für eine Medizin, die objektiv und vernünftig agieren möchte.
Dieser Text erklärt den evolutionssoziologischen Ansatz, warum in Gruppen, die sich anfänglich zusammenfinden, um auf Missstände und Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen, sich nach einer gewissen Zeit oft Verhaltensweisen durchsetzen, die mit der ursprünglichen Zielsetzung nichts mehr zu tun haben. Es geht nach einiger Zeit nur noch darum, Gruppenmitglieder dazu einzuladen, sich über andere moralisch zu erhöhen. Fachwissen wird nur noch dann zugelassen, wenn es diesem Ziel dient. Kritische Reflexion wird dagegen je nach Gruppenidentität als faschistisch, ketzerisch oder unpatriotisch diskreditiert. Führungspersonal, welches ursprünglich inhaltlich orientiert war, wird von Demagogen abgelöst, die diese Entwicklung weiter anfeuern.
Im Konfliktanfall kann dies zur Absenkung des Tötungsskrupels führen, was im Sinne eines evolutionären Überlebenskampfes durchaus Vorteile bietet, eine aufgeklärte und auf Selbstbestimmung bauende Gesellschaft jedoch massiv bedrohen kann. So ist auch der Völkermord als logische Konsequenz einer solchen Gruppendynamik keine Theorie sondern auch in aufgeklärten Gesellschaften eine reale Gefahr. Auschwitz oder Gulags können sich auch heute bei uns wiederholen, wenn wir es nicht schaffen, immer wieder konsequent, selbstbewusst und vernünftig für individuelle Selbstbestimmung als Gegenmodell einzutreten und damit für die Mehrheit attraktiv halten. Gruppenmoralische Ansätze dabei zu verteufeln oder zu verharmlosen, beide Extreme spielen den Moralisten in die Hände. Insofern großen Respekt vor Sigmar Gabriel, der sich nicht scheut, für Vernunft ruhig Flagge zu zeigen, anstatt wie die meisten wohlfeil zu schäumen. Auch Unausgewogenheit bei der Beurteilung verschiedener Lager kann Gruppenmoral begünstigen. So sehr ich die Achse-Kritik an der Dominanz der links motivierten leistungs- und fortschrittsfeindlichen Unterwanderung unserer Gesellschaft teile, deren Protagonisten sich auch in Nogida wiederfinden (siehe dazu auch meinen Achsebeitrag „Nieder mit Forschung und Technik“): auch Pegida, so berechtigt ihr Grundansinnen in Teilen auch ist, läuft Gefahr in diese Gruppendynamik zu geraten.
Von Siegern und Verlierern (Auszug aus Gunter Frank „Schlechte Medizin“: 2012)
Der Soziobiologe Eckart Voland führt in seinem Buch „Die Natur des Menschen“, menschliche Verhaltensweisen auf eine evolutionäre Logik zurück. Schon im Tierreich führt ein erfolgreiches Verhalten zu besserer Nahrungsversorgung und Paarungserfolgen. Deshalb wird sich dieses Verhalten durch genetische Weitergabe auch bei den Nachkommen zeigen und wenn es wieder erfolgreich ist, sich schließlich als typische Verhaltensweise einer Art durchsetzen. Auch wir haben solche tierischen Verhaltensmuster in unserem Erbgut, man denke nur an das Paarungsverhalten von Pfau oder Rothirsch. Doch der Homo sapiens entwickelte darüber hinausgehende andere erfolgreiche Verhaltensstrategien, die im Erbgut auch unserer Generation weiterexistieren. Mit den Möglichkeiten des immer größer werdenden Gehirns, waren wir sogar in der Lage ein Verhalten zu entwickeln, welches nicht mehr nur auf Vorteile für das unmittelbare Überleben zielte. Ein solches Verhalten erscheint zunächst evolutionär keinen Sinn mehr zu machen, denn welche Vorteile sollten Dimensionen wie Moral oder Mitgefühl im Daseinskampf haben. Solches Verhalten erscheint als Gegenentwurf zu den grausamen Gesetzen der Natur, die keine Gnade oder Moral kennt. Doch die Soziobiologie sieht das anders. Auch moralisches Verhalten entwickelte sich, um das eigene Überleben zu sichern, selbst dann, wenn dies nur auf Kosten anderer zu erreichen ist.
Dabei muß man sich vor Augen halten, dass sich die Entwicklung des homo sapiens über einen Zeitraum von zwei Millionen Jahren erstreckte. In dieser langen Zeitspanne, entwickelte sich Fortschritt sehr langsam, so daß stets viele Generationen annähernd gleiche Lebensumstände vorfanden, auf die sich Verhaltensweisen entwickeln konnten, mit denen es immer besser gelang, die Weitergabe der eigenen Gene, und dass schließt die der gesamten Familie mit ein, sicherzustellen. Die letzten 10.000 Jahre sind im Vergleich dazu ein Wimpernschlag. Dennoch änderte sich in dieser kurzen Zeit die Lebenssituation der Menschen radikal. Aus Kleingruppen, Jäger und Sammler wurden Völker, Städter, Handwerker, Beamte, Unternehmer, Händler, Gelehrte. Viele Verhaltensweisen, die in prähistorischer Zeit bis zur Steinzeit das Überleben und das der eigenen Kinder sicherten, machen heute keinen Sinn mehr, schaden sogar der Entwicklung einer zivilisierten Gesellschaft und dem Schutz individueller Rechte. Dennoch werden sie weiter praktiziert, sie sind noch Teil unseres genetischen Programms und können so immer noch unser Verhalten bestimmen.
Wenn Menschen aus eigenem Antrieb heraus teilen und andere Menschen unterstützen, dann macht das aus evolutionärer Sicht durchaus Sinn. Teilt der Jäger seine Beute mit Familien, die weniger Jagdglück hatten, dann steigt die Chance, dass seine eigene Familie auch dann mitversorgt wird, wenn er selbst ohne Beute zurückkehrt. Das menschliche Bedürfnis, Gutes zu tun, erzeugt also eine sinnvolle Win-win-Situation und konnte sich evolutionär deshalb durchsetzen. Der Teilende würde aus diesem Antrieb heraus sein Verhalten auch gar nicht mit Moral schmücken wollen, er handelt einfach. Eine solche Moral ist leise und zurückhaltend.
Doch nicht immer hat scheinbar Gutgemeintes das Wohlergehen aller zur Folge. Denn schließlich musste der Mensch, je erfolgreicher er sich gegenüber anderen Arten durchsetzte, vor allem einen Gegner fürchten: seinen Artgenossen. Er lernte deshalb Moral auch dazu nutzen, von anderen eine Verhaltensweise einzufordern, die nur dazu dient, seine eigenen Vorteile durchzusetzen. Mit Moral kann man Macht über andere gewinnen, indem man sie manipuliert. Eine so eingesetzte Moral ist laut, fordernd und produziert automatisch immer Gewinner und Verlierer.
Je größer die Gruppen wurden, in denen Menschen lebten und sich gegen andere behaupten mussten, desto stärker entwickelte der Homo sapiens eine Identität stiftende Gruppenmoral. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Gruppe durch den wahren Gott, arische Hirngespinste, oder auch nur durch die „richtige“ Hautfarbe von anderen abgrenzt, dabei zu sein vermittelt stets das Gefühl, Teil der moralisch überlegenen Gruppe zu sein. Das verstärkt die Außenwirkung der Gruppe, und Erfolg in der Evolution definierte sich immer mehr dadurch, solch einer dominanten Gruppe anzugehören. Das Wirgefühl wurde immer wichtiger. Das gilt ganz besonders für kriegerische Auseinandersetzungen, denn die Ausgrenzung des Gegners aus dem eigenen moralischen Kosmos setzt Skrupel und Tötungshemmungen herab. Um diese Durchsetzungsenergie zu entwickeln, darf das Gruppenmitglied aber nicht an den Grundüberzeugung zweifeln. Nur wenn es sich der eigenen Überlegenheit absolut sicher ist, kann es die anderen als minderwertig wahrnehmen. Aus diesem Grund können die lautesten Moralisten gar nicht anders, als immer wieder Feinbilder zu schüren, denn dies macht die Gruppe stark. Moral wird so zur reinen Gewinnerstrategie. Voland spricht von der Doppelgesichtigkeit, mit der die menschliche Moral untrennbar verbunden ist.
Eine Gruppenmoral erzeugt demnach zwangsläufig eine Doppelmoral, weil sie ohne moralische Herabsetzung des Gegners ihre Durchschlagkraft verliert. Das geht so weit, dass der amerikanische Zoologe George Williams etwas drastisch schlussfolgert „die Präferenz für eine Gruppenmoral heißt nichts weiter als den Völkermord dem einfachen Mord vorzuziehen.“ Der Begründer der modernen Psychologie Sigmund Freud meint in „Das Unbehagen in der Kultur“ das Gleiche, wenn er schlussfolgert, dass „es leicht möglich (ist), eine größere Menge Menschen in Liebe aneinanderzubinden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“ Die Bildung von Gruppenmoral produziert dabei zwei Typen von Verlierern. Diejenigen, die von vornherein ausgegrenzt werden, weil sie den Normen aufgrund von Abstammung, Hautfarbe, Geschlecht oder anderen Merkmalen nicht entsprechen können, und diejenigen aus der Gruppe, die den Verlockungen, dem Unmoralischen, der Sünde nicht widerstehen und sich darüber der Aggression der Gruppe aussetzen. Je erfolgreicher die Abgrenzung funktioniert, je kompromissloser sie eingefordert wird, desto zwangsläufiger führt eine solche Gruppenmoral zu diktatorischen Strukturen. Deshalb regt Eckart Voland an, nicht nur Sucht- oder Gewaltprävention zu praktizieren, sondern auch über eine Moralprävention nachzudenken.
Gruppenmoral steht in letzter Konsequenz immer einem aufgeklärten, humanistischen Menschenbild entgegen. Sie wendet sich gegen individuelle Selbstbestimmung, Objektivität und Vernunft und versucht ihren Einfluss in der Gesellschaft bis ins Privatleben hinein auszubauen. Und dabei entspricht es dem Wesen einer Gruppenmoral, dass sie sich mit dem Erreichten nie zufriedengibt. Sie will so Vielen wie möglich ihre Moral aufzwingen, wenn auch stets mit dem Argument, es gut zu meinen. Und wer seine eigenen Vorstellungen behalten will, wird zum Gegner erklärt. Denn höhere Werte rechtfertigen alles. Doch Werte, Ethik und Heilsversprechungen sind reine Fassade, in Wahrheit zählt nur das, was die Gruppe stärkt.
Gunter Frank ist Arzt und Autor.