Auch diesen Herbst wieder werden die gewohnt-vertrauten Armutsstudien das deutsche Medienpublikums verwirren. Denn sie lassen ihre Leser immer wieder staunen, warum trotz wirtschaftlichen Aufschwungs die Armut in Deutschlandland nochmals weiter angestiegen – oder nicht zurückgegangen - ist. Was man aber hier misst und beklagt, hat mit Armut nichts zu tun. Arm (bzw. „armutsgefährdet“) ist, wer weniger als 60% des Median-Einkommens zur Verfügung hat, also des Einkommens, das die Bevölkerung in zwei gleiche Hälften teilt. Das beträgt derzeit netto rund 18.000 Euro für eine einzelne Person pro Jahr, 60% davon sind rund 11.000, mit weniger ist man nach dieser Sicht der Dinge arm.
Aber diese Sicht der Dinge ist grober Unfug. Mit 11.000 Euro im Jahr wäre man in neun Zehntel aller Länder dieser Erde reich. Und noch weit bedenklicher: Der Anteil der Menschen unterhalb dieser Grenze bleibt der gleiche, auch wenn sich alle Einkommen verzehnfachen - die Armutsquote ist wie der unter Wasser liegende Teil eines Schiffes in einer Schleuse sozusagen in das System fest eingebaut. Hätten wir im Mittel 180.000 Euro Einkommen pro Jahr, wären alle Menschen mit weniger als 110.00 Euro jährlich arm - wie hoch auch immer der Wohlstand alias das Wasser in der Schleuse steigt, der Unterwasserteil bleibt immer gleich.
Auch das Einkommen selbst wird nicht korrekt gemessen. In den USA zahlt eine Familie für die Hochschulbildung zweier Kinder zwischen 30.000 und 60.000 $ Studiengebühren pro Jahr, in Deutschland nichts. Würde man diese Realtransfers dem Einkommen einer Familie zugeschlagen, wäre nach dieser Sicht der Dinge kaum noch eine Familie mit studierenden Kindern in Deutschland arm. Ohne Einfluss auf die übliche Armutsquote bleibt auch das Vermögen oder das Einkommen im nächsten Jahr. So sind etwa die pro-Kopf-Vermögen in einigen „armen“ Ländern Südeuropas höher als bei uns. Und ein Künstler, der nur alle zwei Jahre, dann aber richtig, Geld verdient, ist ein Jahr arm und ein Jahr reich. Diese Petitessen sollen aber hier nicht weiter interessieren. Denn der ganze Ansatz ist von Grund auf falsch. Falsch vor allem deshalb, weil zentrale Determinanten echter Armut völlig ausgeblendet bleiben. Aus dem gleichen Grund ist auch das von der Weltbank verwendete physische Existenzminimum einem Dollar pro Tag als Maß für Armut ungeeignet. Demnach wäre weltweit einer von fünf Menschen, in Deutschland aber niemand arm.
Für ein menschenwürdiges Leben – genau das ist mit Abwesenheit von Armut gemeint – braucht man mehr als das. „Unter lebenswichtigen Gütern verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohn-heiten des Landes nicht zuge¬mutet werden sollte.“ So schrieb schon Adam Smith, der Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, vor 240 Jahren. „Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Leben nötig, Griechen und Römer lebten, wie ich glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste.“
Dieses Leinenhemd ist heute vielleicht ein Fernsehgerät oder ein Funktelefon - Dinge, die jeder “achtbare Tagelöhner” für ein menschenwürdiges Leben braucht („soziokulturelles Existenzminimum“). Der indische Wirtschafts-Nobelpreisträger A.K. Sen, der diese Auszeichnung u.a. auch für seine Armutsforschungen erhielt, spricht hier auch von „Entfaltungsmöglichkeiten“ (auf Englisch „capabilities“). Diese hängen einmal von der natürlichen, aber auch von der sozialen Umwelt ab. In Finnland ist eine im Winter geheizte Wohnung für ein menschenwürdiges Leben unerlässlich, auf Mallorca nicht. Und in einer räumlich verteilten Gesell¬schaft ohne öffentlichen Personen-Nah¬verkehr kann ein eigener PKW z.B. durchaus zu den Notwendigkeiten des Lebens zählen. Und sollten vielleicht eines nicht allzu fernen Tages Bankgeschäfte oder Briefkontakte nur noch elektronisch über das Internet angeboten werden, wäre man ohne diese Möglichkeiten arm.
Diese Entfaltungsmöglichkeiten umfassen also mehr als Essen und Schlafen und den Schutz vor Wind und Wetter; dazu gehört auch, in einer Gemeinschaft als akzeptiertes Mitglied aufzutreten bzw. auftreten zu können, über Neuigkeiten informiert zu sein und mit entfernten Freunden und Bekannten im Bedarfsfall in Kontakt zu treten – mit einem Worten: als soziales Wesen vollwertig zu funktionieren.
Eine sinnvolle Armutsmessung erfordert damit natürlich mehr Gehirnschmalz als das hirnlose 60%-vom-Durchschnitt-Berechnen konventioneller Armutsstudien. Insbesondere hängt die Notwendigkeit eines Gutes für ein menschenwürdiges Dasein nicht mehr vom allgemeinen Wohlstand ab, also davon, ob meine Nachbarn diese Güter ebenfalls besitzen – das Phänomen der Ungleichheit, das sich in der konventionellen Armutsquote niederschlägt, bleibt außen vor. Auch diese kann man mit gutem Recht beklagen, ihre Reduktion ist unter sonst gleichen Umständen immer wohlfahrtsmehrend. Nimmt man Bill Gates eine Million € weg und schenkte die dem Schreiber dieser Zeilen, nimmt die gesamte Wohlfahrt zu. Denn der gefühlte Verlust bei Gates ist trivial verglichen mit dem Gewinn an Wohlfahrt auf der Seite des Empfängers. Aber der Empfänger war vorher doch nicht arm.
So wie die Ungleichheit verschwindet allerdings auch die echte Armut nur, wenn man den Armen etwas gibt. Die 60%-vom-Median-Armut dagegen verschwindet auch dann, wenn man nur den Reichen etwas nimmt. Warum schöpfen wir nicht bei allen Bundesbürgern jegliches Einkommen über 11.000 Euro jährlich ab (und schenken das Bill Gates)? Dann sinkt der Median drastisch ab, fast alle haben mehr als 60% davon, und die Armut in Deutschland ist ein-für-allemal verschwunden.