Eugen Sorg, Gastautor / 09.07.2017 / 12:00 / Foto: Rod Waddington / 2 / Seite ausdrucken

Gott verschwand beleidigt gegen Norden

Von Eugen Sorg.

Das Leben des damals 32 Jahre alten Conradin Perner war beneidenswert leicht. Am Morgen hielt der junge Bündner Vorlesungen über französische Literatur an der Uni Khartum, wo er eine Professur hatte, den Nachmittag verbrachte er mit Freunden in Kaffeehäusern, am Abend sass man vor seinem Haus, schaute in den tintenblauen Wüstenhimmel, zog an der Wasserpfeife, schlürfte süssen Tee und erzählte sich Geschichten, die wie "frohe weisse Segel durch die Nacht glitten". Es hätte ewig so weiter gehen können, hätte er nicht eines Tages die Bekanntschaft eines Südsudanesen gemacht, eines Angehörigen der Anuak. Dieser berichtete ihm von seinem kleinen Volk, das als "wild" verrufen und dessen ursprüngliche Lebensweise aufgrund der abgelegenen Lage im äthiopisch-sudanesischen Grenzgebiet ziemlich ursprünglich geblieben sei.

Da brach in Perner wieder diese Unruhe auf, diese Sehnsucht, diese Neugierde nach Unbekanntem, deren Grund ihm verborgen blieb, die er aber schon als Kind verspürt hatte. Er stöberte in den Archiven Khartums nach Aufzeichnungen. Es gab kaum Berichte oder Meldungen, keine Anuak-Wörterbücher. Neuland leuchtete wie eine Verheissung vor Perner.

Seine Recherchen fielen auf. Die arabischen Behörden argwöhnten, er sei ein Spion und legten ein Dossier über ihn an. Angehörige anderer Stämme schmeichelten: "Was willst du bei diesen Primitiven, die ihre eigenen Grossmütter fressen. Komm zu uns. Wir sind interessanter." Der Schweizer Professor müsse geisteskrank sein, befanden einige. Nein, widersprachen andere, er sei normal, aber man habe ihn zu Hause fortgejagt.

Fünf Jahre im Dschungel

Die Beschäftigung mit den Anuak sollte Perners Rastlosigkeit eine Richtung und einen Sinn geben und zu einem lebenslangen Abenteuer werden. Von 1975 bis 1988 widmete er sich ausschliesslich der ethnologischen Erforschung des nilotischen Kleinvolkes, fünf Jahre davon lebte er mit diesem zusammen. Aber auch danach weilte er immer wieder in der Nähe, sei es als Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes, der Uno oder als Friedensvermittler der Schweizer Regierung im sudanesischen Bürgerkrieg.

Das wissenschaftliche Resultat sind eine achtbändige Monografie, ein vierbändiges Wörterbuch, eine Grammatik, eine Sammlung mit Liebesliedern, Mythen, Spottversen, Gleichnissen – das kulturelle Gedächtnis der Anuak.

Die Anuak, Mitte der Siebzigerjahre noch halbnackte Stämme, die mit Speeren jagten und in Strohhütten auf Kuhhäuten schliefen, erscheinen in Perners Berichten als zivilisierte, humorvolle und tapfere Menschen, die ihr Zusammenleben durch Regeln und gegenseitige Solidarität organisieren. Sie haben ein stolzes Bewusstsein ihres genuinen Werts als Menschen, Respekt und Würde sind auch im Alltag gelebte Begriffe. Sie anerkennen eine Sphäre des Göttlichen, aber ihr Verhältnis zu Gott ist eher philosophisch als fromm.

Gott geht zu weit

Lange hätten die Menschen und Gott leidlich miteinander gelebt, erzählt ein Stammesmythos. Da habe Gott plötzlich von ihnen verlangt, dass sie ihm den Hintern leckten. Die Anuak hätten abgelehnt, sie seien anständige Menschen. Darauf sei Gott beleidigt gegen Norden verschwunden. Die Araber und die Weissen zeigten weniger Scham und seien dafür mit Reichtum belohnt worden. Solange sich Gott nicht bessert, meinen die Anuak, solle er bleiben, wo er ist.

In diesem Jahr hat Perner noch das Buch "Why did you come if you leave again" veröffentlicht, eine Art "journal intime" seiner Jahre im Busch, eine packende Schilderung der ungeahnten Schwierigkeiten und grotesken Rückschläge, mit denen ein Feldforscher fertig werden muss. Er erzählt von Fieberanfällen, Schlangenbissen, schrecklicher Diarrhö, Hunger, Einsamkeit und abgründigen Sinnkrisen, aber auch von der wachsenden Vertrautheit mit seinen Gastgebern, vom langsamen Hineinwachsen in deren Sprache und deren erstaunliche Welt, und davon, wie er sich selber dabei verändert.

Trotz Sympathie und gelebter Nähe zu seinen «Untersuchungsobjekten» bleibt er jedoch der nüchterne, disziplinierte Beobachter. Perner ist ein Entdecker und Abenteurer, er forscht mit existenziellem Einsatz. Als ehemaliger Kletterer hat er früh gelernt, auch in rauschartigen Höhen kühl und konzentriert nach sicheren Griffen im Fels zu suchen. Seine Berichte aus dem Anuak-Land sind der reiche Lohn dieser Unerschrockenheit. Sie bereichern unser Wissen über den Menschen, über seine Möglichkeiten, seine Vielfalt, seine unerschöpfliche Kreativität im Guten wie im Bösen.

Zuerst erschienen in der Basler Zeitung hier

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Leserpost

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Winfried Sautter / 09.07.2017

... und heute tragen die Anuak Adidas-Sneaker und haben I-Phones. Was die Anthropologen nicht begreifen, ist, dass die “Edlen Wilden” es nur deshalb (noch) sind, weil sie (noch) keine Möglichkeit hatten, sich mit den Segungen der modernen Zivilisation zu korrumpieren. Anthropologie ist zivilisationskranke Romantik, wie sie nur bei uns möglich ist. Eigentlich ein Zeichen der Dekadenz.

Norbert Reuther / 09.07.2017

Seid der “Good Luck Mr. Gorsky”-Anekdote über Neil Amstrong in den 90ern habe ich keine so gute Geschichte wie diesen “Gott geht zu weit”-Mythos der Anuak. Danke für’s erzählen.

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