Von Klaus Rüdiger Mai.
Wenn Theologie den politisch Andersdenkenden theologisch als Feind definiert, wird sie zur politischen Theologie und bald schon zur pseudotheologischen Politik. Zu den Waffen im Kampf um die Deutungshoheit gehören Etiketten, die von der Politikwissenschaft wie im sozialistischen Wettbewerb in einem fort produziert werden, nicht um Wirklichkeit auf den Begriff zu bringen, sondern um Kritik zu neutralisieren und die Kritiker einzuschüchtern.
Das Etikett „Populismus“ beispielsweise gehört zu den Schlachtrufen, die dem eigenen Machterhalt eine moralische Fassade sichern und den Kritiker zum Feind erklären sollen. […].
Ein […] Beispiel liefert ein Interview des Tagesspiegels mit dem Berliner Bischof Markus Dröge zum Reformationstag 2017: „Wenn heute Menschen an mich herantreten, gerade aus dem rechtspopulistischen Lager, und sagen, die Kirche soll sich um das Seelenheil kümmern und nicht ständig in die Politik hineinreden, dann haben wir uns dagegen deutlich zu verwahren.“ Das ist erst einmal richtig. Die Kirche kann sich nicht verbieten lassen, Stellung zu politischen Problemen zu beziehen. Die Frage ist nur, wie sie das tut. Sie sollte, wie schon mehrfach herausgestellt, nicht parteipolitisch sprechen und nicht die Gesellschaft in Lager einteilen und sich dabei das Recht herausnehmen zu bestimmen, wer in welches Lager gehört.
Vor allem aber sollte sie nicht, wie Dröges Antwort impliziert, Kritik an politischen Verlautbarungen von Kirchenvertretern sofort mit Rechtspopulismus in Zusammenhang bringen. Damit würgt man von vornherein jede Diskussion ab und entzieht sich der Auseinandersetzung.
Wann wird ein Wort politisch?
Möglich wäre doch auch zu sagen: Gegen die Forderung, dass Kirche sich ums Seelenheil kümmern und nicht ständig in die Politik hineinreden solle, möchte ich folgende Argumente ins Feld führen. Damit wäre die Debatte ohne Stigmatisierung eröffnet, und man könnte ausführen, was das sogenannte „Seelenheil“, selbst ein oft nur polemisch benutzter Begriff, mit dem christlichen Gewissen und das wiederum mit der Politik zu tun hat. Man könnte darauf hinweisen, dass schon die SED-Führung die DDR-Kirchen unablässig in ähnlicher Weise vermahnt hat. Danach allerdings müsste man konkret fragen: Welche politische Äußerung eines Kirchenvertreters wird aus welchen Gründen kritisiert? Oder wird gar kritisiert, dass Kirche sich vornehmlich politisch äußert und das in immer gleicher parteipolitischer Ausrichtung? Das scheint mir die Stoßrichtung von Wolfgang Schäubles Buch „Protestantismus und Politik“ zu sein, der ja sicher nicht aus dem „rechtspopulistischen Lager“ stammt.
Was aber ist eigentlich eine politische Äußerung? Wenn Bischof Dröge im genannten Interview darauf abhebt, die inzwischen vielleicht wieder revolutionäre Botschaft sei, „dass wir für die Menschenwürde jedes Menschen eintreten und nicht nur für die, die uns nahe sind“, dann ist das theoretisch völlig korrekt. Es bedeutet, dass ich als einzelner Christ niemanden grundsätzlich davon ausschließe, mein Nächster werden zu können. Politisch aber wird eine solche Aussage erst, wenn es darum geht, welche praktischen Konsequenzen aus ihr für staatliches Handeln gezogen werden. Weder ein einzelner Christ noch der deutsche Staat ist in der Lage, den reichlich sieben Milliarden Menschen auf der Welt praktische Unterstützung zu leisten. In der Praxis also muss ausgewählt und begrenzt werden. Und dafür benötigen wir Rechtsetzungen.
Darüber ist der politische Streit zu führen. Allgemeine universalistische Aussagen in diesem Zusammenhang sind per se unpolitisch! Denn Politik ist die Kunst des Möglichen. Die politische Debatte fängt erst bei den Grenzziehungen und Abwägungsprozessen an. Da aber hilft der Verweis auf die Bibel und vor allem auf die Bergpredigt im einzelnen nicht mehr weiter.
Wenn sich die kirchlichen Eliten mit den politischen Eliten verbinden, eine allzu große Nähe eingehen und fragwürdige theologische Aussagen treffen, um parteipolitische Vorstellungen zu propagieren, dann begibt sich die Kirche in die babylonische Gefangenschaft der Politik.
In diesem Zusammenhang ist Martin Luthers große reformatorische Schrift „De captivitate babylonica ecclesiae“ aktuell, in der davor gewarnt wird, dass sich die Kirche verführen lässt, sich wie ein weltlicher Machthaber zu verhalten und politisch zu agieren. Wovor Kirche in jedem Fall Abstand zu halten hat, ist: vor der Macht. Macht strebt immer zum Absoluten und muss daher durch das Prinzip des Wechsels gebändigt und durch den demokratischen Mechanismus des check and balances begrenzt werden. Die fehlende Begrenzung von Macht bringt nicht nur einen modernen Absolutismus hervor, sondern wirkt sich auf die demokratischen Prozesse sklerotisch aus. […]
Einfache Wahrheiten wie Grundrechenarten
Die SPD und die Linken haben die soziale Frage vergessen, sie haben die Menschen, für die sie Politik machen, aus den Augen verloren. Dadurch verlieren sie den Boden unter den Füßen. Und auch die Kirche, scheint es, will eher die Gemeinden loswerden durch immer neue Zusammenlegungen und Einsparung von Pfarrern, als die wunderlichsten Sonderpfarrstellen und politischen Einrichtungen zu reduzieren.
Wenn aber die kleine globalisierungswillige Elite, dieses neue Establishment, nicht begreift, dass die meisten Bürger in diesem Land eine funktionierende Infrastruktur, ein gutes Gesundheits- und ein gutes Bildungssystem, in summa einen funktionierenden Staat brauchen, dann sind ihre Tage gezählt. Wenn sie nicht die Aufgabe erkennt, die Hoheitsrechte des Staates durchzusetzen, was an den Grenzen beginnt, und eine solidarische Absicherung seiner Bürger glaubhaft und gerecht zu organisieren versteht, wird sie stürzen. Sie muss wie eine Grundrechenart die fundamentale Wahrheit wieder erlernen, dass man keinen Sozialstaat bei offenen Grenzen erhalten kann, wie das Milton Friedman in einem bissigen Bonmot formulierte. Sie hat endlich die simple ökonomische Wahrheit zu verstehen, dass die Menschen, die auf einen Sozialstaat angewiesen sind, einen Nationalstaat benötigen. Sie muss einsehen, dass es asozial und undemokratisch ist, die Abschaffung des Nationalstaates zu fordern.
Der Theologe Günter Thomas urteilt zu Recht über die „radikalen moralischen Universalisten innerhalb und außerhalb der Kirchen“: „Sie wollen nicht anerkennen, dass sich die Einlösung von Menschenrechten und Anerkennung der Menschenwürde nirgendwo anders als in eben solchen nationalstaatlich begrenzten Verantwortungsräumen vollzieht.“ […]
Um noch etwas konkreter zu werden. Der Soziologe Wolfgang Streeck beschreibt die Situation so: „Die Hochphase der Globalisierung begünstigte die Etablierung einer kosmopolitisch orientierten Bewusstseinsindustrie, die ihre Wachstumschancen darin sah, den Expansionsdrang kapitalistischer Märkte mit den libertären Werten der sozialen Revolution der sechziger und siebziger Jahre sowie deren utopischen Versprechen menschlicher Befreiung aufzuladen. Dabei verschmolz die technokratische pensée unique des Neoliberalismus mit dem moralischen juste milieu einer internationalistischen Diskursgemeinschaft.
Ketzer für Kirche und Staat
Die so etablierte Lufthoheit über den Seminartischen dient heute als Operationsbasis in einem Kulturkampf besonderer Art, in dem die Moralisierung des global expandierenden Kapitalismus mit einer Demoralisierung derjenigen einhergeht, die ihre Interessen von diesem verletzt finden.“ Wenn denn Kirche das Gebot der Nächstenliebe ernst nimmt und sich politisch engagiert, d.h. sich christlich engagieren will, müsste sie sich dann nicht an die Seite derjenigen stellen, deren Interessen verletzt werden, anstatt danach zu trachten, zum „Justemilieu“ zu gehören? Das würde verlangen, zuallererst in der Flüchtlingsfrage eine realistische Position zu beziehen.
Wolfgang Streeck diagnostiziert einen Riss „zwischen denen, die andere als ‚Populisten‘ bezeichnen, und denen, die von ihnen als solche bezeichnet werden“, und sieht in diesem Riss, „die dominante politische Konfliktlinie in den Krisengesellschaften des Finanzkapitalismus“. Insofern soll das Wort „Populismus“ nichts erklären, sondern lediglich die eigene Position ohne Diskussion und Begründung absichern, weil dort, wo keine Argumente mehr gefunden werden, ein Anathema gebraucht wird. Der Ketzer ist der Ketzer ist der Ketzer, weil er der Häretiker ist. In der Tautologie wird die Logik besonders zwingend. Streecks Beobachtung gewinnt für die vorliegende Betrachtung eine außerordentliche Bedeutung, weil sie die Frage aufwirft, ob sich auch in der Kirche, dieser „Riss“, diese „Konfliktlinie“ bildet. Wenn Kirchenfunktionäre gedankenlos die neusten Wortschöpfungen der Politikwissenschaft aufgreifen und sich parteipolitisch vereinnahmen lassen oder selbst parteipolitisch agieren wollen im Sinne des oben skizzierten Establishments, dann wird sich auch in der Kirche diese „Konfliktlinie“ auftun.
Den ersten Teil dieser Serie finden Sie hier.
Den zweiten Teil dieser Serie finden Sie hier.
Dieser Text ist ein Auszug aus Klaus-Rüdiger Mais neuem Buch „Geht der Kirche der Glaube aus?“. Es erschien bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.
Zur Streitschrift fand im rbb ein Streitgespräch zwischen dem Autor Dr. Klaus-Rüdiger Mai und dem Kulturbeauftragten der EKD Dr. Johann Hinrich Claussen statt. Es empfiehlt sich aber, nicht die Sendefassung von 15 min, sondern die Langfassunganzuhören, weil die Kurzfassung das Streitgespräch zuungunsten des Autors nicht korrekt abbildet.