Bernhard Lassahn / 18.10.2010 / 23:24 / 0 / Seite ausdrucken

Goethe in der Zeitmaschine

Ich war in ‚Goethe’, einem Hollywoodfilm mit deutschen Geldern, in dem es um den jungen Goethe in seiner Zeit in Wetzlar geht. Es wird einem gleich klar, was ihm damals fehlte: Ritalin. Er ist viel zu zappelig. Wenn er durch eine Gasse hastet, verursacht er gleich vier Beinahunfälle. Er ist ein schwieriger Jugendlicher, der als Kommentar zu seiner nicht bestandenen Prüfung ein keckes LECKET MICH in großen Buchstaben in den frischen Schnee steppt, damit gleich klar ist: Er liebt große Worte. Zumindest große Buchstaben.

Wenig später liebt er auch Lotte. Bei der ist er allerdings an ein Frauenzimmer geraten, das die Zügel fest in der Hand hält. Sie sagt ihm, wann der richtige Moment für einen Kuss gekommen ist, woraus sich spontan eine Sexszene in einer malerischen Ruine bei Regen ergibt, die mich als Vierzehnjährigen stark aufgewühlt hätte. Der Film ist ab sechs. Nein, es war nicht die Kondom-Werbung – „Gib Aids keine Chance“ – auch wenn es ähnlich aussah. Das war der Hauptfilm.

Auch in meinem Alter hat es mich überrascht, dass sie dermaßen schnell zur Sache kommen, mehr noch: dass sie es überhaupt tun. Weltschmerz hatte ich mir immer anders vorgestellt, ich dachte, es wäre das Leiden des kategorischen Menschen in der hypothetischen Welt, und das Leiden bestünde darin, dass es zu solchen Szenen eben gerade nicht kommt! Etwa doch? Es fehlte noch, dass Goethe nach getaner Tat eine Dose aus den Tiefen seines übergroßen Hemdes fummelt und I LOVE YOU an die Ruinen sprayt.

Vorher gab es noch ein wenig Lyrik; Goethe lässt sich ein paar Zeilen von Lotte abringen, an denen sie - im Unterschied zu seinem Vater - sofort das Talent erkennt, schließlich handeln die Zeilen ja auch von der erwachten Liebe zu ihr. Der Film tut so, als wüsste dieses aufgeweckte Frauenzimmer so viel wie der heutige Kinogänger, der sich nicht vorstellen kann, dass die historischen Figuren sich das noch nicht vorstellen konnten. „Lächerlich“, findet sie, dass er bei so schöner Lyrik nicht an sich glaubt. Sie weiß ja nichts von den Absagen, die Goethe schon hinter sich hat. Und er weiß nicht, dass sie auch nicht richtig an ihn glaubt.

Sie haben sich aber schon ein wenig kennengelernt. Er ist mit einem flotten Pferd durch blühende Landschaften geritten, um sie zu besuchen, hat sich gleich an den Herd gestellt und mit ihr zusammen Brot nach altem Rezept gebacken, als wollte er sich um einen Platz in ihrer Wohngemeinschaft bewerben. Er empfiehlt sich als Softie und Hausmann und freundet sich sofort mit den Kindern an. Da er virtuos Cembalo spielen kann und so ein Instrument schließlich in jedem noch so verarmten Haushalt herumsteht, kann er gleich den Mozart-Kanon mit der Zeile „und dreh den Arsch zum Mond“ zum Besten geben, was alle lustig finden.

Das ist auch richtig so: Goethe hat bekanntlich den kleinen Wolfgang Amadeus anlässlich einer spektakulären Aufführung gesehen, als dieser gerade mal vier Jahre alt war und von seinem Vater als dressiertes Äffchen vorgeführt wurde und noch weit davon entfernt war, mit eigenen Kompositionen bekannt zu werden. Es stimmt also schon irgendwie, nur die zeitliche Reihenfolge nicht. Das fällt aber nicht weiter auf, weil an dem Film sowieso fast alles falsch ist. In seiner ersten Zeit in Weimar hat Goethe tatsächlich ein ausschweifendes Leben geführt. Ihm stand sogar ein stolzes Pferd zur Verfügung (nach heutigen Maßstäben ein Sportwagen), das er „Poesie“ nannte. Da konnte er ordentlich auf den Putz hauen. In Wetzlar nicht. Auch hier stimmt das Vorher-und-Nachher nicht. Und schon in jungen Jahren zitiert dieser Goethe gelegentlich aus dem ‚Büchmann’, dabei weiß doch jeder, dass diese beliebte Zitatensammlung erst nach seinem Tod erschienen ist.

Es gab mal einen Videorecorder mit Timerfunktion. Da konnte man einstellen, von wann bis wann etwas aufgenommen werden sollte. Bei einem der alten Modellen konnte man das Datum beliebig einstellen, was zu dem Witz Anlass gab: Stell doch mal den Recorder auf vorigen Sonntag und nimm den ‚Tatort’ auf, der letzte Woche gelaufen ist. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich die Autoren des Drehbuchs so einen Videorecorder zum Vorbild genommen haben. Sie übertragen heutige Klischees und feministische Korrektheit von der überlegenen Frau in eine frühere Zeit, von der sie von vorneherein keine Ahnung haben wollen. Sie haben sich nicht an der alten Literatur orientiert, sondern an der neuen Technik. Das merkt man schon an den computersimulierten Hintergründen.

Goethes Worte haben besondere Kräfte. Moritz Bleibtreu, sein Vorgesetzter, der ebenfalls ein Auge auf Lotte geworfen hat, braucht noch eine gute Schlagerzeile, die er bei seinem Antrag zur Verlobung anbringen kann. Vielleicht hat er mal den Film ‚Cyrano de Bergerac’ gesehen . Goethe – ohne zu ahnen, wer das Opfer seines Zauberspruches werden soll – schlägt vor: „Es ist die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält“. Moritz Bleibtreu ist so blöd, dass er nicht etwa sagt: Das kommt mir irgendwie bekannt vor, so einen Spruch kann ich mir auch selber ausdenken. Im Gegenteil. Er tut, als wäre er nie auf so etwas Tolles gekommen. Er spielt eine Art Doppelrolle. Einerseits ist er als Gegenspieler zu Goethe der unsympathische Idiot, dann wiederum ist er nicht nur beruflich erfolgreich und gesellschaftlich angesehen und ein guter Schütze; er ist auch jemand, der Lotte soziale Sicherheit bieten kann. An ihn glaubt sie mehr als an Goethe.

Stimmt. So ist es auch im Buch, in dem berühmten ‚Werther’: Da muss der Arme einsehen, dass seine Angebetete mit einem anderen zusammen ein glückliches Paar abgibt. Nur er ist unglücklich, weil er übrig bleibt in einer Welt, die ohne ihn und ohne sein Leiden völlig in Ordnung ist und in dieser Ordnung auch nicht in Frage gestellt wird. Das ist ja gerade der Weltschmerz. Der andere Mann ist nicht etwa eine Karikatur, sondern eine durchaus akzeptable Wahl für die Frau, die neuerdings als eine gesehen wird, die zunächst ihre erotischen Gelüste auslebt, aber gleichzeitig darauf achtet, versorgt zu werden.

Nun wird es spannend. Die beiden ungleichen Konkurrenten um Lottes Gunst geraten aneinander, Moritz Bleibtreu fordert Goethe zum Duell. Der kann aber im Unterschied zu seinem Gegner, wie wir inzwischen wissen, nicht besonders gut schießen und trifft auch nicht. Sein Vorgesetzter schießt zum Glück in die Luft. Das ging noch mal gut. Und schon werden sie verhaftet, wegen unerlaubtem Duellieren. Goethe muss in den Kerker, obwohl er eigentlich derjenige war, der zum Duell gefordert wurde. Da kann man mal sehen, wie kompliziert die Rechtslage früher war. Während er nun im Kerker ein Buch mit selbstgemachten Zeichnungen bei Kerzenlicht schreibt, dass die Feder nur so über die leeren Seiten huscht, kann die Hochzeit zwischen Lotte und Goethes Vorgesetztem ungestört stattfinden.

Als Lotte das Manuskript zugestellt wird, besucht sie Goethe in der Zelle und knallt ihm erstmal eine, weil sie mit dem Schluss des Buches, wo es zum Selbstmord kommt, nicht einverstanden ist; dann erklärt sie ihm, dass sie ihren Ehemann liebt und zu ihm als Versorger steht, weil ein schwärmerischer Werther ihr nicht das bieten kann, was der Ehemann ihr bietet. Sie hatte zwar gesagt, dass Goethe an sich glauben soll, dass sie an ihn glaubt, hatte sie nicht dazugesagt.

Als er gescheitert zu seinem Vater zurückfährt, erlebt er in Frankfurt eine Überraschung. Damals hatten Verlage noch nicht so lange Vorlaufzeiten wie heute. Es gab noch keine Buchmesse und keine Elke Heidenreich. Es ging aber auch so. Ganz Frankfurt ist auf den Beinen und drängelt sich in einen Buchladen, um den Bestseller von Goethe zu kaufen. Der wird erkannt, erklimmt das Dach einer Postkutsche und während die Menge „Johann! Johann!“ skandiert, durchmischt mit der Parole „Ein Rudi Völler, es gibt nur ein Rudi Völler“ (aber da könnte ich mich verhört haben), signiert Goethe sein Buch, das er bei der Gelegenheit selber zum ersten Mal in der Hand hält, mit einem Montblanc Kugelschreiber.

Wir ahnten es schon. Im Kerker hatte Goethe keinen Fotokopierer. Lotte hatte das Originalmanuskript, ohne den Verfasser zu fragen, an einen Verleger geschickt, schließlich hat sie auch von dem kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar aus die besten Kontakte zur literarischen Welt und hatte sich auch schon das Copyright für den Markenartikel ‚Werther’ gesichert. Was Goethe nicht gelungen ist, gelingt ihr auf Anhieb: Das Manuskript wird angenommen, und wird ein Erfolg. Es handelt ja auch von ihr und davon, wie liebenswert sie ist. Sie ist nicht nur die Heldin des Buches, sondern auch seine selbst ernannte Agentin.

Auch hier gibt es einen wahren Kern. Der ‚Werther’ war zwar ungewöhnlich erfolgreich, dennoch konnte Johann Wolfgang von Goethe nicht davon leben und musste als „Fürstenknecht“ arbeiten. Bisher dachte ich immer, dass es daran lag, dass es so viele Raubkopien gab und das Urheberrecht noch nicht entwickelt war, es könnte aber auch daran gelegen haben, dass seine Agentin einen sehr ungünstigen Vertrag ausgehandelt hat. Das erfahren wir nicht. Wir erfahren auch nicht, was Lottes frisch gebackener Ehemann dazu sagt, dass sie die Heimlichkeiten ihres Liebeslebens öffentlich gemacht hat.

Lotto wird so idealisiert, dass gar nicht auffällt, wie rücksichtslos sie ist. Zum Schluss sehen wir sie in einem schmucken Jäckchen im Gespräch mit dem ‚Tatort-Kommissar, der sie freundlich fragt, was denn nun an der Geschichte wahr sei. Es ist, sagt sie weise lächelnd, „mehr als Wahrheit, es ist Dichtung“ und meldet damit Titelschutz an für ‚Dichtung und Wahrheit’.

Wer Goethe bisher nicht kannte, kennt ihn auch nachher nicht. Wer ihn nicht mochte und trotzdem in dem Film gegangen ist, wird ihn nachher umso weniger mögen. Wer ihn mochte und in den Film gegangen ist, wird womöglich das Gefühl haben, dass da eine neue Art von Leiden an den Zuschauer weiter gegeben wurde.

Ich mag ihn. Es gab allerdings Phasen, da mochte ich ihn nicht. Gerade weil er so respektiert wurde, schien er einem die Berechtigung zum respektlosen Umgang geradezu aufzudrängen. Ich habe übrigens auch so einen Videorecorder und habe auch mal ein unzeitgemäßes Gedicht auf Goethe geschrieben. Lange her. Um die Wahrheit zu sagen: Nur um eine Studentin, die sich mit einem Referat über ‚Wilhelm Meister’ abquälte, zu trösten, als ich mit einem Kuchen bei ihr in der Wohngemeinschaft auftauchte, den ich nicht selbst gebacken hatte.

So habe ich am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Frauen mit selbstgeschriebenen Reimen zu beeindrucken, damit sie an einen glauben. Ich konnte es nicht. Vielleicht fühle ich mich Goethe deshalb irgendwie nah. Daran konnte auch der Film nichts ändern. Mein Gedicht heißt:

Goethes Leiden

Goethe sprach zu Eckermann:
„Ruf mal bei dem Bäcker an
und bestelle eine Torte.“
„Goethe, was sind das für Worte?“,
fragte Eckermann erschrocken,
„ich bin völlig von den Socken:
Torte essen!? Du sollst schreiben!“

Goethe sprach: „Ich lass es bleiben.
Ich hab den totalen Frust,
hätte ich das gleich gewusst,
hätte ich es ganz gelassen.“

„Goethe, das ist nicht zu fassen!“

„Doch. Ich komm einfach nicht voran.
Der Roman. Er kotzt mich an.“

Darauf sagte Eckermann:
„Lieber Goethe mecker man
nicht so viel, denn deine Leiden
sind noch relativ bescheiden.
Denk wie stark erst die Beschwerden
all der Leser werden werden,
die das ganze dann studieren
und darüber referieren.
Wie werden deren Leiden sein?“

Goethe sprach: „Das seh ich ein.“

 

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