Johannes Richardt, Gastautor / 30.07.2015 / 14:12 / 1 / Seite ausdrucken

Glücksspielregulierung: Lotterie in Babylon

Von Johannes Richardt

In der Erzählung „Die Lotterie in Babylon“ skizziert der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges die Umrisse eines Gemeinwesens, dessen Geschicke voll und ganz von einer allmächtigen Lotteriegesellschaft bestimmt werden: Eine Ziehung degradiert dich zum Bettler, die nächste erhebt dich zum König. Das Los verurteilt Menschen zum Tode oder begnadigt sie. Es gilt: Kein Entscheid ist endgültig. Gewissheiten gibt es nicht. In der literarischen Fiktion wird der Zufall zum alles durchdringenden, schwindelerregenden Lebensprinzip erhoben. Reale Gesellschaften hingegen gehen von bewusst handelnden Menschen aus, die man für ihre Taten auch verantwortlich machen kann.

Das gilt auch für das hiesige Lottowesen. Nicht das Spiel des Zufalls, sondern die Willkür der Besitzstandswahrer sorgt hier aktuell für ein kaum durchschaubares, Grundsätzen von Recht und Demokratie spottendes Durcheinander: Regulierer handeln ohne öffentliche Kontrolle, Suchtrisiken werden konstruiert, Graumärkte gedeihen, private Anbieter werden diskriminiert und Steuermilliarden gehen verloren. Aber der Reihe nach: In Deutschland besteht das sogenannte Lottomonopol, wonach nur die staatlich konzessionierten Lottogesellschaften der Länder Lotto durchführen dürfen. Private Unternehmen dürfen – Erlaubnis vorausgesetzt – gegen Gebühren Lottoscheine anbieten und an die staatlichen Lottogesellschaften weitergeben, dürfen jedoch nicht selbst Lotterien veranstalten. Zudem gibt es einige Anbieter mit Sitz im Ausland, die ohne deutsche Konzession Wetten auf das deutsche Lotto anbieten.

Das Lottomonopol wird mit dem 2004 in Kraft getretenen „Staatsvertrag über das Lotteriewesen in Deutschland“ (Lotteriestaatsvertrag) begründet. 2008 einigten sich die Länder auf den „Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland“ (Glücksspielstaatsvertrag, GlüStV). Er beschränkte sich nicht mehr auf Lotterien, sondern regelte unter der Prämisse der Spielsuchtbekämpfung alle Glücksspiele – also auch Sportwetten, Geldspielgeräte, Spielbanken und -hallen oder Pferdewetten. Das Lottomonopol blieb unangetastet. Der GlüStV lief 2011 aus. 2012 trat der Erste Glücksspieländerungsstaatsvertrag (GlüÄndStV) in Kraft. Er enthält neben dem Totalverbot des Online-Glücksspiels eine siebenjährige, sogenannte „Experimentierklausel“, die den Sportwettenmarkt für private Anbieter öffnen soll.

An dieser Klausel entzündet sich zurzeit ein Streit, der weitreichende Folgen für das gesamte deutsche Glücksspielwesen, inklusive Lotto, haben kann. Denn die Öffnung für private Anbieter kommt einfach nicht in die Gänge. Die Branche überzieht die Länder deshalb mit Klagen, diese wiederum blockieren die Umsetzung, wo sie nur können. Am 30. Juni dieses Jahres hat das für den EU-Binnenmarkt zuständige Ressort der Europäischen Kommission ein sogenanntes Pilotverfahren gegen die Bundesrepublik eröffnet. „Totales Chaos auf dem Glücksspielmarkt“, beschrieb die Bild-Zeitung am 22. Juli 2015 keineswegs übertrieben die aktuelle Situation.

Das Pilotverfahren ist sozusagen der letzte Warnschuss der EU-Kommission vor einem Vertragsverletzungsverfahren. Denn seit vielen Jahren artikuliert die Kommission immer wieder ihre Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Glücksspielgesetze mit dem Europäischen Recht, vor allem hinsichtlich der Bestimmungen für einen gemeinsamen Binnenmarkt. Laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2010[3] lässt sich das Sportwettenmonopol, das übrigens auch als Präzedenzfall für das Lottomonopol gilt, zwar rechtfertigen, wenn es tatsächlich dem Gesundheitsschutz – also in diesem Fall der Spielsuchtprävention und dem Schutz der Bevölkerung vor den schädlichen Folgen von unkontrolliertem Spiel – dient. Der deutsche Gesetzgeber argumentiert nun, dass sich diese Schutz- und Lenkfunktion durch ein staatliches Monopol am besten erreichen lasse. Vor diesem Hintergrund sei eine Einschränkung des Grundrechts auf Berufsfreiheit [4] zulässig. Nur: Einem Realitätscheck hält diese Behauptung nicht stand.
„Angesichts eines Marktanteils von 30 Prozent „illegaler“ Glücksspiele im Bereich der Sportwetten muss man den Staatsvertrag wohl als gescheitert betrachten.“

Zu Recht verweisen die Binnenmarktwächter auf den Umstand, dass man angesichts eines Marktanteils von 30 Prozent „illegaler“ Glücksspiele im Bereich der Sportwetten die Lenkungsabsicht des Staatsvertrages wohl als gescheitert betrachten muss. Von einem funktionierenden Jugend- und Spielerschutz könne im Hinblick auf den hohen nicht regulierten Graubereich im (Online-)Glücksspiel nicht die Rede sein. Zudem kritisiert die Kommission, dass es an einer sinnvollen Evaluierung[5] der Wirksamkeit der Bestimmungen fehlt. Für die Kommission bestehen somit „erhebliche Zweifel am Erreichen der Ziele des Glücksspielstaatsvertrages.“ Deshalb wird die Bundesrepublik gebeten, bis zum 7. September zehn detaillierte Fragen aus Brüssel zu beantworten – z.B. wie sie das unionsrechtswidrige Sportwettenmonopol „unverzüglich“ beenden wolle.

Es darf bezweifelt werden, dass die deutsche Glücksspielregulierung den kritischen Fragen Brüssels standhalten wird. Nun sollte man zwar nicht den Fehler machen, ausgerechnet in einer von öffentlicher Kontrolle und Rechenschaftspflicht so maximal entrückten Institution wie der Europäischen Kommission einen großen Vorstreiter in Sachen Freiheit und Demokratie sehen zu wollen. Aber in diesem Fall muss man den Kommissaren in der Sache dennoch Recht geben. Auch in juristischen Fachkreisen herrscht schon lange große Einigkeit darüber, dass der GlüStV und in der Folge der GlüÄndStV gescheitert sind. Das deutsche Glücksspielwesen bedarf einer grundlegenden Revision, die nicht zuletzt auch das Lottomonopol zur Disposition stellen wird. Denn weder die rechtliche Begründung des Monopols noch die politischen Regulierungsinstanzen oder die Organisationsstruktur der Monopolisten sind eines demokratischen und freiheitlichen Gemeinwesens würdig.

In letzter Zeit haben einige Rechtsgutachten etablierter Juraprofessoren die Verfassungsmäßigkeit der aktuellen Glücksspielregulierung angezweifelt. So stellt ein rechtswissenschaftliches Gutachten des Europarechtsexperten Hans Jarass fest, dass der Glücksspielstaatsvertrag nicht mit dem EU-Recht konform ist. Das im Glücksspielstaatsvertrag faktisch festgeschriebene Lotterieveranstaltungsmonopol zugunsten bestimmter inländischer staatlicher Veranstalter beeinträchtige die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union garantierte Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit. Das legitime Ziel der Vermeidung von mit Spielabhängigkeit verbundenen Gefahren müsse auf verhältnismäßige Art und Weise und vor allem in kohärenter sowie systematischer Weise verfolgt werden. Gerade das Kohärenzgebot werde wegen der intensiven Werbung des Deutschen Lotto- und Totoblocks verletzt, die man wohl kaum mit dem Anspruch begründen könne, der Spielabhängigkeit vorbeugen zu wollen. So haben sich die Werbeausgaben der Landes-Lotteriegesellschaften 2013 gegenüber dem Vorjahr um etwa 50 Prozent erhöht. Aber auch das Ziel, mit Hilfe des Monopols vor Manipulation und kriminellem Verhalten zu schützen, zweifelt das Gutachten an, ebenso das Argument, wonach die Monopolstrukturen des Lotteriewesens tatsächlich die Steuerung für die Behörden vereinfachen.

Ein weiteres vor kurzem veröffentlichtes Rechtsgutachten setzt sich mit dem sogenannten Glücksspielkollegium – also dem Koordinierungsgremium der Bundesländer in der Glücksspielregulierung – auseinander. Bereits seit einer Weile wird von Branchenvertretern, Juristen aber auch von Journalisten zunehmend Kritik gegenüber dieser Institution laut. Dessen Arbeit liege im Dunkeln. Sitzungstermine, Tagesordnungen oder Protokolle würden nicht veröffentlicht. Es gäbe keine offizielle, öffentliche Liste mit den Namen der Mitglieder. Eine Richterin bezeichnete das Gremium als „intransparent“ und „fehlerbehaftet“. Rechtsanwälte sprechen von einem „Geheimbund“ oder einer „Dritten Macht im Staat“. Nun kommt der Augsburger Staatsrechtler Gregor Kirchhof zu dem Schluss, dass die gesamten Entscheidungsstrukturen des Kollegiums gegen das Grundgesetz verstoßen. Es fehle an demokratischer Aufsicht und Kontrolle. Legislative Entscheidungen werden entweder per Dekret direkt umgesetzt oder im Rahmen von Treffen der Ministerpräsidenten im Kleingedruckten entschieden. Oft wissen die Ministerpräsidenten gar nicht, was entschieden wird, oder sind nicht selten gegen ihren Willen an die mehrheitliche Entscheidung (zwei Drittel) im Kollegium gebunden. Unternehmen werden zu ihren Lizenzanträgen im Kollegium nicht angehört. Es gibt keinerlei Rechtsanspruch, eine Lizenz zu erlangen. Auch der Staatsrechtler Thomas Würtenberger kritisierte vor wenigen Monaten die fehlenden demokratische Legitimations- und Kontrollketten des Glücksspielkollegiums.


Sowohl unter europarechtlichen Gesichtspunkten als auch hinsichtlich der Demokratietauglichkeit der zentralen Regulierungsinstanz, dem Glücksspielkollegium, gibt es also erhebliche Zweifel am aktuellen Regulierungs-Status-Quo. Ein weiterer Punkt von nicht unerheblicher Relevanz soll hier nur kurz angerissen werden. Im Kern rechtfertigt sich das deutsche Glücksspielmonopol, wie bereits erwähnt, durch den Gedanken der Suchtprävention. Nun haben Suchtforscher dargelegt, dass es sich bei der Spielsucht grundsätzlich – bei allen Spielarten, übrigens! –  um ein randständiges Phänomen handelt und man im Zusammenhang mit Lotto sogar behaupten kann, dass sie so gut wie gar nicht existiert. Selbst regulierungs- und monopolfreundliche Wissenschaftler wie Tilman Becker, geschäftsführender Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim, wo das jährliche „Glücksspielsymposium“ stattfindet, meint, dass die Maßnahmen zur Spielsuchtprävention beim Lottospiel über das Ziel hinausschössen. So seien Werbeverbote „für Lotterien und ungefährliche Spiele unsinnig, denn es gibt so gut wie keine pathologischen Lotteriespieler“.

Der Jurist Dirk Uwer spricht im Zusammenhang mit den nicht vorhandenen Lottosüchtigen sogar von einer „Fiktion der Glücksspielsucht im Lotteriebereich“. „Im Bemühen um vordergründige Legitimation durch Suchtbekämpfung haben die Länder um die Sicherung ihrer Monopolrente willen eine Suchtgefahr teils frei erfunden (etwa bei Klassenlotterien oder dem Zahlenlotto) oder überhöht (etwa bei Sofortlotterien), obwohl es damals wie heute keinerlei empirische Grundlagen dafür gibt, dass von herkömmlichen Zahlenlotterien überhaupt Suchtgefahren in gesellschaftlich relevantem Umfang ausgehen.“[14] Dementsprechend liegt für ihn das Kernübel des GlüStV nicht in der gleichwohl auch kritikwürdigen Tendenz zum ausufernden paternalistischen Staat, die durch den vorgeschobenen Schutzpflichtgedanken im Glücksspielsektor an Dynamik gewinnt, noch schwerer wiegt, dass wir es mit einem Staat zu tun haben, der die Bürger über die eigentlichen (monetären) Zwecke seiner Gesetzgebung belügt.

Vor dem Hintergrund der logisch, rechtlich und ethisch löchrigen Legitimation des Lottomonopols lohnt ein Blick auf die Beschaffenheit seiner organisatorischen Strukturen. Das deutsche Lotteriewesen ist sehr unübersichtlich und intransparent organisiert. In jedem Bundesland ist eine Lotteriegesellschaft mit der Durchführung der Lotterien beauftragt. Es handelt sich meist um eine Gesellschaft privaten Rechts, deren Gesellschafter von Land zu Land allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Gesellschafter von West-Lotto, der größten Gesellschaft, sind etwa die ebenfalls staatseigene NRW-Bank und die Nordwestlotto GmbH. Gesellschafter der Toto-Lotto Niedersachsen sind die Norddeutsche Landesbank Girozentrale, die Förderungsgesellschaft des Niedersächsischen Sparkassen- und Giroverbandes, der Landesportbund Niedersachsen und sogar der Niedersächsische Fußballverband. In Bayern ist die Lotteriegesellschaft hingegen Teil der Landesverwaltung. Die Landes-Lotteriegesellschaften haben sich im Deutschen Lotto- und Totoblock zusammengeschlossen, der die Lotterien durchführt, wie es im öffentlich nicht zugänglichen „Blockvertrag der deutschen Lotto- und Totounternehmen“ geregelt ist. Dabei werden riesige Geldsummen erwirtschaftet. Zwar sind die Umsätze seit Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrags 2008 gesunken, sie betrugen aber 2013 immer noch mehr als sieben Milliarden Euro – wozu auch die deutliche Preiserhöhung für das Hauptprodukt „Lotto 6aus49“ im Mai des Jahres einen erheblichen Teil beitrug.

Aus einem Vortrag eines WestLotto-Vertreters auf dem Hohenheimer Glücksspielsymposium im Jahr 2014 wird deutlich, wie sehr die aktuellen Regeln der Glücksspielbranche und damit auch dem Steuersäckel des Staates geschadet haben. Während sich der Lotterie- und Wettspielmarkt in Deutschland seit Mitte der 1970er Jahre parallel zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts entwickelte, kam es seit Inkrafttreten des Lotteriestaatsvertrags (2004) und der beiden Glücksspielstaatsverträge von 2008 und 2012 zu einem regelrechten Einbruch des Marktes.Wohingegen laut World Lottery Association (WLA) der Umsatz der Lotteriemärkte weltweit im Schnitt um 8 Prozent pro Jahr steigt, ist der legale deutsche Markt von 2005 bis 2014 um 24 Prozent geschrumpft – in Branchenkreisen geht man von einem Gesamtumsatzminus von rund 17 Milliarden Euro in diesem Zeitraum aus. Den Ländern gingen allein aus dem staatlichen Lottogeschäft Steuern und Sozialabgaben von 7,8 Milliarden Euro verloren.

Auch der Markt für Lotterievermittlung im Internet ist durch das Internetverbot ab 2009 eingebrochen. Habe er 2008 noch bei 656 Millionen Euro Kundenausgaben gelegen, seien es 2009 nur noch bei 242 Millionen und im Jahr 2012 sogar nur noch 100 Millionen Euro gewesen. Mit einem Internetanteil von 0,5 Prozent der Gesamtumsätze bei Lottospielen belegt Deutschland weit abgeschlagen einen der hintersten Plätze. In Finnland beträgt der Anteil 32,4 Prozent, in Dänemark 24,9 Prozent und in Schweden 20,7 Prozent.

Gerade private Lotto-Anbieter werden in Deutschland durch den GlüÄndStV und die zuständigen Behörden systematisch diskriminiert. Staatliche Anbieter haben nach Aufhebung des Verbots früher als private Anbieter die Genehmigung für die Wiederaufnahme der Geschäfte erhalten; gleiches galt für Werbegenehmigungen. Auch mussten sich private Anbieter mit härteren Jugendschutzbestimmungen als ihre staatliche Konkurrenz herumschlagen, die ihre Lottoangebote regulatorisch in eine ähnliche Liga wie harte Pornografie rückten. Die staatlichen Monopolisten nutzen ihre Stellung auch, um Konkurrenz aus dem Markt zu drücken, wie der im letzten Jahr gerichtlich behandelte Fall der FLUXX GmbH zeigt, die vom Deutschen Lotto- und Toto-Block auf kartellrechtswidrige Weise bei der Ausübung ihrer Geschäfte behindert wurde.

Verstöße gegen das Kartellrecht haben im Lottoblock eine gewisse Tradition. So wurde bereits im Jahr 1999 dem Lottoblock vom Bundesgerichts (BGH) untersagt, gewerbliche Spielvermittler von der Spielteilnahme auszuschließen. Im Jahr 2005 stoppte das Bundeskartellamt den Versuch von Lottogesellschaften, einen im Internet erfolgreichen gewerblichen Spielvermittler zu erwerben. 2006 untersagten es die Wettbewerbshüter dem Lottoblock, neue Geschäftsmodelle privater Vermittler aus dem Markt zu drängen. Das Bundeskartellamt stellte dabei verschiedene Verstöße gegen das deutsche und europäische Kartellrecht fest, die u.a. vom BGH bestätigt wurden. Auch verstoßen die Landes-Lotteriegesellschaften ständig gegen die vom Gesetzgeber zur Rechtfertigung des Monopols erlassenen Auflagen im Zusammenhang mit Werbung und Vertrieb. Wegen dieser Verstöße wurden sie in den letzten Jahren in Dutzenden von Verfahren verurteilt. Nicht immer hielten sie sich im Anschluss an die gerichtlichen Verbote und machten in einigen Fällen sogar bis zur Zwangsvollstreckung weiter.

Selbst die nicht-profitorientierte Konkurrenz der staatlichen Lottomonopolisten leidet unter der Regulierung. Während Länder wie Norwegen Lizenzen für die Veranstaltung von Soziallotterien vergibt und auch in den Niederlanden weitere Öffnungen geplant sind, ist es in Deutschland für Soziallotterien sehr schwer, Fuß zu fassen. Seit Anfang des Jahres versucht es die von Diskus-Olympiasieger Robert Harting und anderen gegründete Deutsche Sportlotterie. Diese wurde lange von den Landessportbünden, dem Deutschen Olympischen Sportbund und den Lotto-Gesellschaften bekämpft – u.a. mit dem Argument, sie kannibalisiere die Bereitschaft der Menschen, den Sport finanziell zu unterstützen.[23] Gescheitert war im Jahr 2003 ein Versuch der Organisationen Unicef, Greenpeace, Terre des Hommes und Kindernothilfe, das Projekt „Unsere Welt – Die Lotterie für Mensch und Tier“ zu etablieren. Dabei wurden u.a. Vorwürfe erhoben, die staatlichen Monopolisten hätten die Soziallotterie als Konkurrenten betrachtet.[24] Zu den etablierten Soziallotterien zählt die Deutsche Fernsehlotterie. Aber auch sie hat seit Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages mit deutlich sinkenden Einnahmen zu kämpfen – von 73,8 Millionen 2008 auf 51,7 im Jahr 2013. Dies führt sie in einem Positionspapier vor allem auf bürokratische Hürden und Beschränkungen im Vertrieb und in der Werbung nicht zuletzt im Internet zurück – wie sie für den Lottoblock nicht gelten.

Diese gerade für den Fiskus unerfreulichen Tatsachen scheinen den Lottofürsten im Lande hingegen reichlich egal zu sein. Nach wie vor beharren die meisten von ihnen auf dem längst an der Realität gescheiterten regulatorischen Status Quo. Unternehmen, die so offensiv mit ihrer finanziellen Gemeinwohlorientierung werben, wie es die Lottogesellschaften tun, müssen sich vor diesem Hintergrund schon die kritische Frage gefallen lassen, was für Motive sich tatsächlich hinter ihrer starren Haltung verbergen könnten.

Theo Goßner, Geschäftsführer von West-Lotto (zuvor Bereichsleiter der landeseignen NRW-Bank), verkündete in einer sicherlich auch nicht ganz billigen PR-Broschüre mit dem schönen Namen „Faszination Glücksspiel“, die der Zeitschrift Journalist - also der Mitgliederzeitschrift des Deutschen Journalisten Verbandes - beigelegt war, dass das Engagement von Anbietern wie West-Lotto „nicht im Konfliktfeld zwischen Gemeinwohl und wirtschaftlichen Interessen liegt“.[25] Die Lotto-Bosse alles reine Wohltäter im Dienste der Allgemeinheit, oder wie?

Immerhin kassiert die Landeslottochefin in Baden-Württemberg, Marion Caspers-Merk (SPD), zuvor Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium sowie Drogen- und Suchtbeauftragte, 185.000 Euro (inklusive Prämien) im Jahr, was über dem Niveau eines Landesministers liegt. Ihr Parteigenosse Horst Mentrup erhielt im Jahr 2012 als Lotto-Landeschef in Brandenburg sogar 210.000 Euro. So schlecht bezahlt sind die Spitzenposten im Lottobock nicht, als dass Otto-Normalbürger dort überhaupt keine „wirtschaftlichen Interessen“ vermuten könnte.

Überhaupt sticht es ins Auge, wie viele der sehr ordentlich bezahlten Lotto-Spitzenposten von altgedienten Parteisoldaten oder Fahrensmännern der etablierten politischen Kräfte besetzt werden. Da das Ergebnis der Novo-Recherche den Rahmen dieses Beitrags ein wenig sprengen würde, sind die Namen in eine Fußnote gewandert. Im CSU-regierten Bayern ergießt sich der große Lottogeldsegen sogar bis auf die mittleren Verwaltungsebenen. Knapp 500.000 Euro hat im Jahr 2006 jede der damals noch 32 Bezirksstellen (aktuell sind es 26) erhalten, um neben dem Leiter durchschnittlich noch drei bis vier Mitarbeiter zu versorgen. In der polemischen Juristenzeitschrift myops wurde daraufhin Folgende Rechnung aufgestellt: „Sofern er [der bayerische Lotto-Bezirksstellenleiter, Anm. d. Red] alle seine Mitarbeiter mit dem Hungerlohn eines Juniorprofessors abspeist, kommt er selbst sogar auf das Grundgehalt des Bundeskanzlers.“Nun denn.

Die deutsche Glücksspielregulierung ist ein Beispiel für politisches Versagen auf ganzer Linie. Weitestgehend unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit konnten sich hier im Laufe der Jahre undemokratische und intransparente Institutionen und Verfahren etablieren, die nun der Chance für eine sinnvolle Öffnung des Marktes im Wege stehen. Die Staatsmonopolisten haben gezeigt, dass sie es nicht können. Die Strukturen sind verfilzt und leisten das Gegenteil von dem, was sie vorgeben zu leisten. Es geht nicht um die Bekämpfung der Glücksspielsucht oder andere vorgeschobene Gemeinwohlinteressen, sondern ausschließlich um den Erhalt des Monopols als Selbstzweck.

Wie in den guten alten Zeiten absolutistischer Höfe ziehen es die Mächtigen im Glücksspielsektor vor, politische Abmachungen in den Hinterzimmern ihrer undurchsichtigen Organisationen auszuhandeln, statt sich der öffentlichen Beurteilung durch das Volk auszusetzen. Das ist kein Ansatz für das 21. Jahrhundert; auch steht er im Widerspruch zu Liberalisierungstendenzen des Glücksspiels in anderen europäischen Staaten. Die Regulierer repräsentieren vor allem ihren Wunsch, bestehende Privilegien, Einfluss und Geld zu sichern – mit Sicherheit aber nicht die Interessen der Bürger.

Traurigerweise kommt ausgerechnet der bürgerfernen EU-Kommission, der man mit gutem Grund viele der unschönen Attribute zuschreiben könnte, die in diesem Text im Zusammenhang mit den Glücksspielregulieren gefallen sind, so etwas wie die Rolle eines aus Theaterinszenierungen bekannten deus ex machina zu – also einer äußeren Macht, die in einer verfahrenen Situation einen Ausweg aufzeigt, in dem sie die eigentlichen Akteure zum Handeln zwingt. Auch das wirft kein gutes Licht auf unsere gewählten Repräsentanten.

Dass die Steilvorlage aus Brüssel nun von einer Handvoll eher wettbewerbsfreundlich eingestellter Landespolitiker in Hessen bereitwillig angenommen wurde, ist deshalb zu begrüßen. Vor allem vom dortigen CDU-Innenminister Peter Beuth werden Forderungen laut, das Konzessionsverfahren und den Glücksspielstaatsvertrag zu ändern. Gleichzeitig ist es unter fundamentalen Demokratieaspekten erfreulich zu sehen, dass sich überhaupt einmal Politiker deutlich vernehmbar zu solchen Fragen äußern. Denn in den letzten Jahren hat sich die Politik in Sachen Glücksspielregulierung im Großen und Ganzen vor allem durch das große (und wohl vor allem verschämte) Schweigen im Walde auszeichnet.

Dem Thema haftet in der Wahrnehmung vieler etwas Verruchtes an. Als „Mr. oder Mrs. Glücksspiel“ lässt sich in Politik-Talk-Shows zumindest kein Blumentopf gewinnen. So findet auch kaum eine öffentliche Debatte statt. Ein Umstand wiederum, der einer Schar exklusiv bezahlter Eliteanwälte überall im Land beste Geschäfte sichert. Wenn sich unsere Volksvertreter aus ihrer gesetzgeberischen Verantwortung stehlen, funktionierende Regeln für den wirtschaftlichen Wettbewerb aufzustellen, suchen sich widerstreitende kommerzielle Interessen eben andere Arenen für ihren Konkurrenzkampf – in diesem Fall die Gerichte. Wünschenswert ist das nicht, aber nachvollziehbar. Und die Verantwortung für diese Missstände trägt nicht Fortuna oder die Lottofee, sondern ganz allein die zuständige Politik.

Johannes Richardt ist Redaktionsleiter von NovoArgumente. Dieser Beitrag erschien dort zuerst.

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Martin Lahnstein / 30.07.2015

Vielleicht wäre es tatsächlich vernünftig, wenn politische Entscheider in gewissen Situationen das Los entscheiden ließen. Das könnte eine respektable Entscheidung sein: das Los entscheiden lassen! Statt sich und andere mit Tiraden von halbherzigen und halbrationalen Ausflüchten zu quälen. Früher ließen Feldherren in unklaren Situationen die Eingeweide von Opfertieren beschauen oder den Vogelflug beobachten.

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