Paul Nellen / 23.05.2016 / 15:00 / 1 / Seite ausdrucken

Eine leere Bierflasche voll mit Solidarität für die Armen

Gestern Abend war der Sommer in Hamburg angekommen, endlich und unwiderruflich. Das ganze Schanzenviertel rund um die Rote Flora glich, nebst dem benachbarten Karoviertel, einer nächtlichen italienischen Stadt während einer Hitzewelle. Wer vom Häuschen in der Toscana träumt, kann schon in der "Bronx von Hamburg" an einigen Abenden entspannte Piazza-Atmosphäre genießen, wie sie in manchen Filmen Fellinis herrscht.

Ich schlängele mich mit meinem Späteinkauf durch die lachende, schwatzende, trinkende Menge. An einer Ecke sehe ich, wie vor mir eine junge, unauffällig gekleidete Frau gerade einen letzten Schluck aus ihrer Bierflasche nimmt. Dann stellt sie die leere Pulle an die gegenüberliegende Hauswand und wendet sich ab. Warum macht sie das?

Zieh ab Alter, zischt mich der Freund an

Irgendjemand wird bestimmt noch heute Abend mit alkoholisiertem Übermut dagegenkicken und die Flasche mit Karacho in einen Scherbenhaufen verwandeln. Für jeden Radfahrer und Gassigeher mit seinem kaniden Begleiter in den nächsten Tagen, bis die Straßenreinigung kommt, ein großes Ärgernis.

Denkt die Frau nicht voraus? Zumal sie sich ihrerseits jetzt anschickt, das Schloss ihres Fahrrades zu öffnen, um mit ihrem Freund von dannen zu radeln. Erinnert sie sich nicht an die unfreiwilligen Schlangenlinien, die sie und ich als Radler um die vielen Scherbenreste aus durchzechten Nächten überall auf den Straßen von St. Pauli machen müssen und die immer wieder in Reifenflickerei enden?

Ich gehe auf die Frau zu: Warum sie eine Glasflasche einfach so auf dem Fußweg entsorgt, ungeachtet der absehbar misslichen Folgen? Zieh ab, Alter, zischt ihr Freund mich an. Noch bevor ich reagieren kann, dreht sich seine Begleiterin um: Es gibt Arme in der Stadt, die sammeln Pfandflaschen! Und für die steht die Flasche jetzt da, sagt sie. Mit triumphalistischer Betonung auf "da".

Ein Beispiel überlegter Solidarität mit den Armen

Was für ein saubermännischer Nörgler ich doch bin, der glaubt, eine viel Jüngere noch nacherziehen zu müssen! In Wahrheit ist die vermeintliche Frevlerin ein moralisches Vorbild, ihre anscheinend gedankenlos entsorgte Hinterlassenschaft ein Beispiel überlegter Solidarität mit den Ärmsten. Für eine Sekunde bin ich der Blamierte. Aber einen Vernunft-Trumpf habe ich noch: "Geben Sie die Flasche doch regulär ab, das eingenommene Pfand drücken Sie dem nächsten Flaschensammler in die Hand, dem Sie begegnen! Das wäre doch die sauberste Lösung! Das völlig ungewisse Schicksal der Flasche wäre damit gesichert – genau in Ihrem Sinne!" Einen Moment scheint es, als schmeckte die Frau meinem Argument nach. Doch bevor sie antworten kann, drängt ihr Freund sie schon von mir fort. "Komm jetzt, der sucht Streit!" Beide lösen ihre Räder von dem Baumschutzbügel, an dem sie lehnen, und fahren davon.

Der Drang, etwas Gutes tun zu müssen, scheint heute bei Vielen übermächtig zu sein und jedes Vor-Bedenken auszulöschen. Auch die Kanzlerin folgt diesem Prinzip in ihrer Flüchtlingspolitik – ein Danach und Wie-weiter gilt da fast schon als unmoralisch. Bereits ihr Atomausstieg aus Anlass der Fukushima-Katastrophe besaß einen gleichsam religiösen Zug, ein missionarisches "Kehrt um, tut Buße!" Vor dem drohenden Ende die erlösende Wende. Siehe, wir machen alles neu. Wir schaffen das! Tun wir's jetzt, bezahlt wird später, Hauptsache, es schafft Gutes. Und damit tut es auch uns allen gut. Aber Wohlstand, um dessen Erhalt es immerzu geht, bringt auch schlechtes Gewissen mit sich – das war zu allen Zeiten so, wie wir spätestens seit dem heiligen Franziskus wissen. Sein päpstlicher Namensvetter von heute wird nicht müde, uns immer wieder daran zu erinnern.

Heuchelei die Faulheit zur Tugend erhebt

Angesichts von Armut, Unterdrückung und Zerstörung betäuben wir unsere Gewissensbisse mittels kleiner Wohltätigkeiten oder durch Ablasshandel. Heuchelei, die die Faulheit oder den Hang zum Luxus zur Tugend erhebt, kennt viele Wege. Wir fahren gerne den vielkolportierten SUV, wenn er uns nur schnell zum Bio-Hofladen fährt, wo wir uns "öko" und "nachhaltig" für zwei Wochen eindecken, und wir kaufen bedenkenlos ein energie- und rohstoffreich produziertes Zweit- oder Dritt-Flachbildschirm-TV-Gerät, sodass wir in allen Zimmern Empfang haben, weil wir zugleich einen Öko-Obolus in Form eines höheren Grünstrom-Preises entrichten. Substanziell an den Zuständen, die die Natur zerstören, die Gesellschaft bedrücken, spalten oder andere zu Verlierern machen, ändern wir freilich nichts, es sei denn um den Preis, dass wir uns und unser wachsendes Anspruchsdenken grundlegend ändern. Aber diesen Preis will eigentlich niemand zahlen, nicht mal die Grünen und alle, die es auf den Kirchentagen beschwören.

Bei Bill Clinton war es noch einfach die Wirtschaft – "it's the economy, stupid!" –, um die sich alles zu drehen hatte und die Erlösung versprach. Heute geht es dagegen um zur Schau gestellte Werte. Jeder hat sich dabei zu positionieren. Selbst die Achtlosigkeit, mit der eine Bierflasche einfach auf der Straße zurückgelassen wird, bekommt noch einen Tugendbonus, mit dem man sich schmücken kann. Dafür darf der Arme die Flasche, wenn er sie am nächsten Morgen noch findet, gerne auch behalten und das Pfand für sich einstreichen. So ist – Kreislaufwirtschaft der Heuchelei – am Ende doch jedem gedient, und alles kann, mit gutem Gewissen, beim Alten bleiben.

Die Chinesen sagen es durch ihre Schriftzeichen, die für das Wort "Deutschland" stehen, was unser Land von den höchsten Schaltstellen der Macht bis hinunter zu den Biertrinkern an der Ecke prägt. Chinesen sind höfliche Menschen. Und deswegen nennen sie Deutschland auch nicht das Land der Heuchler. "De guo", die phonetische Umschreibung für Deutschland, heißt wörtlich: Tugend-Land.

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Christoph Behrends / 24.05.2016

Diese selbstgerechte deutsche “Tugendhaftigkeit”, die nie einfach nur “Probleme lösen”, sondern stets alles Elend dieser Welt - gerne auch auf einmal - “beseitigen” will, macht krank. Oder ist sie selbst die Krankheit? Danke für den hintergründigen Einblick aus dem Land der Mitte.

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