Vor einem halben Jahrhundert, von 1966 bis 1976, fegten Mao Zedong und seine Frau Jiang Qing, die Anführerin der berüchtigten „Viererbande“, mit eisernem Besen durch die chinesische Kulturgeschichte. Was nicht der kommunistischen Ideologie entsprach, flog über Bord. Museen wurden geplündert, Kunstwerke vernichtet, Universitäten geschlossen. Am Pranger stand, wer da nicht mittun wollte. Tausenden drohte das Schlimmste.
Es sollte endlich Schluss sein mit der Freiheit des Denkens und der Künste. Im einstigen Reich der Mitte ging es der Kultur an den Kragen. Die Partei rächte sich an den Gebildeten, den lebenden und an denen, die früher geschaffen hatten, was den Genossen nie zugänglich war. Die aufgepeitscht Meute trat die Geschichte von Jahrtausenden mit den Füßen. China taumelte im fernen Osten durch eine „Kulturrevolution“, die der Westen und vorneweg Deutschland heute nachholen wollen.
Auch wenn es hierzulande vorerst noch halbwegs zivilisiert zugeht, so sind doch die Anfänge gemacht. Historisch beschränkte Eiferer schlagen der kulturellen Barbarei die Gasse. Was nicht in das Weltbild eines spießig anmaßenden Moralismus passt, verfällt dem Verdikt. So lächerlich das von Fall zu Fall anmuten mag, ernst zu nehmen sind die Rüpeleien allemal.
Der Mohr muss weg!
Gleich, ob eine Kampagne dagegen losgetreten wird, dass es in Frankfurt noch immer eine „Mohren-Apotheke“ gibt, oder ob auf Plakaten mit Gemälden von Egon Schiele intime Körperregionen überklebt werden, weil eine „Ethikkommission“ Darstellungen der entblößten Vulva oder des Penis für „zu anstößig“ hält. Dass es sich dabei um die nachträglich Zensur von Kunstwerken handelt, die vor einem Jahrhundert entstanden, spielt für diejenigen keine Rolle, deren geistiger Horizont dem einer Eintagsfliege entspricht.
Ohne einen blassen Schimmer von der Kulturgeschichte vergreifen sie sich scheinheilig moralisierend an dem, was über die Jahrhunderte auf uns gekommen ist. Wegen tatsächlicher oder unterstellter Verfehlungen der Künstler sollen ihre Werke nicht länger zu sehen sein. Tradierte Namen, die auch Zeugnisse der Vergangenheit sind, werden ausgelöscht, nur weil wir sie heute, unter ganz anderen Verhältnissen, nicht mehr gebrauchen, weil sie der political correctness widersprechen.
Eine naseweise Berichtigung der Geschichte, auf deren Schultern wir stehen. Denn immerhin verdanken sich die freizügigen Gemälde und Graphiken Egon Schieles, um bei dem Beispiel zu bleiben, nicht zuletzt dem Bestreben, sich über die Verklemmungen seiner Zeit zu erheben. Der Künstler nahm sich Freiheiten, die für uns selbstverständlich geworden sind, für manche offenbar schon wieder zu selbstverständlich.
Die Rache der Kleingeister
Aber es geht ja auch nicht um die Werke an sich, sondern um die vermutete Unmoral ihrer Schöpfer. Weil sie ihnen das Wasser nicht reichen können, sie insgeheim um ihr Genie beneiden, ziehen Sittenwächter und Betschwestern über die Kunst her. Mit ihrer Verurteilung und Aussonderung wollen die ewig zu kurz gekommen Kleingeister Rache nehmen. In der ferneren Vergangenheit sowie in die Gegenwart müssen sie auslöschen, was sie selbst nicht zustande brächten.
Der auf dem Ticket seiner Mutter Senta Berger zum „Star-Regissuer“ (BILD) aufgestiegene Simon Verhoeven machte erst vor wenigen Tagen nicht nur das „Arschloch“, den „egomanischen Schreihals“ und „Gewalttäter“ Dieter Wedel persönlich zur Schnecke. Er verlangte zugleich, seine Filme „nie wieder auszustrahlen“.
Nur, was haben Dieter Wedels Taten, für die er einstehen muss, sollte sich das bislang Kolportierte bestätigen, was haben sie mit seinen gefeierten Filmen zu tun? Sind die Publikumserfolge plötzlich künstlerisch wertlos, verwerflich, selbst womöglich ein Akt sexueller Belästigung? Haben die Selbstgerechten noch alle Tassen im Schrank?
Wie kommen sie darauf, aus acht harmlosen Versen Eugen Gomringers, einem Großen der deutschen Nachkriegsliteratur, „sexuelle Belästigung" herauszulesen, obwohl es da einzig um Alleen, Blumen und Frauen geht? Weshalb soll das Gedicht an der Außenwand einer Berliner Hochschule verschwinden? Konnten die Deppen den Text in spanischer Sprache überhaupt lesen?
Nackte Frauen in den Armen geharnischter Männer
Vermutlich haben sie die Zeilen so wenig verstanden, wie sie in der Lage wären, die künstlerische Bedeutung eines Peter Paul Rubens zu erfassen, die malerische Kraft und den mythische Kontext von Gemälden, auf denen nackte Frauen geharnischten Männern in den Armen liegen. Gezeigt werden diese unschätzbar wertvollen Werke gerade eben in einer großen Sonderausstellung des Frankfurter Städel-Museums. Man sollte sich beeilen, sie zu sehen, bevor sie womöglich als purer Sexismus enttarnt werden.
Auch sonst ist Eile geboten. Denn wer weiß, ob es demnächst nicht zur Einrichtung einer Historikerkommission kommt, die erforschen soll, unter welchen Umständen dieses oder jenes Kunstwerk entstand, ob die Künstler es womöglich mit den Modellen getrieben haben. Um die Venus von Milo, die Bordell-Szenen von George Grosz, um Goyas „Nackte Maja“, Picassos Akte könnte es ein für allemal geschehen sein. Nicht zureden von der Grafik Gustav Klimts, darunter die Skizzen masturbierender Frauen. Schweinkram über Schweinkram, geschaffen von Männern, die die Frauen mit sexueller Gier auszogen. Schlichter geht es nicht.
Wo Bildung und Wissen um die Kulturgeschichte durch Eifer und Hysterie ersetzt werden, verfällt die Kunst dem ideologischen Urteil. Es drohen kulturrevolutionäre Zustände, ästhetische Bevormundung, Gleichschaltung und der Sieg der Einfalt über die Freiheit. Die deutsche Öffentlichkeit ist auf dem besten Wege, es den Chinesen gleichzutun, weniger brutal gewiss, doch nicht prinzipiell anders. Viel werden wir dagegen nicht ausrichten. Gibt es doch nach Albert Einstein nur zwei Dinge, die „unendlich“ sind, „das Universum und die menschliche Dummheit“, wobei er sich beim Universum „nicht ganz sicher“ war.