„Ich denke, dass wir größtenteils zu einer Geschlechtsidentität gezwungen werden,“ schrieb die Gender-Theoretikerin Judith Butler. „Es kann gut sein, dass es immer schwieriger wird, die exakte Trennlinie zwischen männlich und weiblich zu ziehen.” Ob sie dabei an die Seepferchen (Hippocampus) dachte? Bei diesen pferdeköpfigen kleinen Fischen ist die Trennlinie in der Tat kaum zu ziehen. Beim Liebesspiel spritzen Weibchen ihre Eier mit Hilfe einer penis-ähnlichen Legeröhre in die männliche Bauchtasche. Dort werden sie befruchtet, in Gewebe gebettet und ausgetragen. Nach zehn bis zwölf Tagen pressen die Männchen ihre geschlüpften Nachkommen unter wehenartigen Krämpfen ans Licht der Welt.
Seepferdchen-Männchen tragen die Eier aber nicht nur durch die Gegend, wie es menschliche Väter mit ihren Babys im Tragetuch tun. Ihr Job geht über das reine Ausbrüten hinaus, und entspricht einer echten Schwangerschaft. Denn ähnlich wie trächtige Säugetier-Weibchen, versorgen Seepferdchen ihren Nachwuchs mit Sauerstoff und Nährsubstanzen. Gesteuert wird dieser Vorgang von dem Hormon Prolactin, das auch bei Frauen die Milchproduktion stimuliert.
Seepferdchen sind mit dieser einzigartigen Fortpflanzungsmethode voll auf der Höhe des Gender-Diskurses. Aber sie haben noch mehr zu bieten. Wie die singenden Buckelwale erbringen die Seepferdchen auch kulturelle Leistungen. Ihre Talente liegen in den Bereichen Tanz und Farbdesign. Chamäleongleich können sie ihre Farbe wechseln: Je nach Stimmungslage oder Tarnabsicht prä¬sentieren sie sich in rot, beige, grün, grau und sogar neongelb, einfarbig oder getupft.
Verliebte Paare fassen sich bei den Schwanzspitzen und vollführen schwebend anmutige Reigen, der zum Romantischsten gehört, was das Tierreich zu bieten hat. Dabei drehen sie gemeinsam Pirouetten im Seegras oder wirbeln in harmonischer Zweisamkeit über den Meeresgrund. Nach diesem Synchronschwimmen beginnt das Weibchen den Balztanz, auf dessen Höhepunkt Sie Ihm zirka 200 Eier in die Öffnung seiner Brutkammer appliziert.
„Die großen Wunderwerke Gottes und die Geschicklichkeit der Natur erzeigen sich in vielen wunderbarlichen Geschöpfen,“ schrieb der große Schweizer Naturforscher Conrad Gesner im 16. Jahrhundert über die Seepferdchen, „inbesonderheit in die-sem gegenwärtigen Meerthier oder Fisch.“
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ZWISCHEN TIEREN
Von Michael Miersch und Claudia Bernhardt
Nur auf Papier und nur hier:
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