Rainer Grell / 17.09.2016 / 06:01 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 9 / Seite ausdrucken

Gehts nicht auch ohne Nationalhymne?

„Das Lied der Deutschen, auch Deutschlandlied genannt, wurde von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf der – seinerzeit britischen – Insel Helgoland gedichtet.“ So steht es bei Wikipedia. Wir haben also gerade den 175. Geburtstag dieses Liedes hinter uns, dessen dritte Strophe bekanntlich unsere Nationalhymne ist: Einigkeit und Recht und Freiheit ... „Die Melodie stammt ursprünglich aus dem 1797 entstandenen Kaiserlied von Joseph Haydn, der offiziellen Volkshymne Gott erhalte Franz, den Kaiser für den damaligen römisch-deutschen Kaiser Franz II. aus dem Haus Österreich.“ Und, man höre und staune: „Am Weimarer Verfassungstag des Jahres 1922, dem 11. August, wurde das Lied der Deutschen vom ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) zur Nationalhymne bestimmt.“ Mal ehrlich: Haben Sie das alles gewusst?

Die Nazis haben dann nur noch die erste Strophe gesungen, in der Deutschland „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ reicht. Schauen Sie sich das mal auf der Karte an: Die Maas bildet die Grenze zu Holland, dagegen wäre nichts zu sagen. Aber die Memel, die hat es in sich. Lassen wir mal offen, ob sie jemals Deutschlands Grenze markierte. Seit 1945 jedenfalls nicht mehr. „Belt“ ist ebenfalls nicht ohne, gibt es doch deren drei (Großer und Kleiner Belt sowie Fehmarnbelt), die Deutschland von Dänemark trennen, und 1841, als Fallersleben sein Deutschlandlied schrieb, sah es noch ganz anders aus. Und auch die Etsch hat als deutsche Grenze ein „Gschmäckle“, mag auch das an ihrem Oberlauf gelegene Südtirol, die nördlichste Provinz Italiens (Alto Adige mit der Hauptstadt Bozen/Bolzano) mehrheitlich (62,3 Prozent) deutschsprachig sein. Solche Kriterien mögen für Putin eine Rolle spielen.

Da braucht man nicht mehr zu diskutieren, welche Bedeutung die Worte „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ nach der Vorstellung von Fallersleben und der Nazis hatten. Die erste Strophe ist historisch derart kontaminiert, dass sie nur noch als schlechtes Beispiel taugt.

Täusche ich mich oder klingt da nicht Stolz mit  – und wenn ja, worauf?

Aber warum brauchen wir überhaupt eine Nationalhymne, wo doch der Nationalstaat angeblich passé ist und „Nationalismus“ und das entsprechende Adjektiv geradezu Schimpfwörter sind? Okay, Jürgen Trittin braucht keine, hat er doch, nach eigenem Bekunden, auch als Umweltminister niemals die Hymne mitgesungen, worin er sich übrigens von deutschen „Nationalspielern“ wie Mesut Özil und Lukas Podolski nicht unterscheidet (Miroslav Klose und Sami Khedira haben erst mitgesungen, als sie Interimskapitäne waren). Und warum erheben wir uns, wenn die Hymne gesungen wird. Dass man im Stehen besser singen kann als im Sitzen, kann schwerlich der Grund sein (die Amis legen sogar ihre rechte Hand aufs Herz, wenn das „Star-Spangled Banner“ aufgezogen und die „broad stripes and bright stars“ besungen werden).

Wenn die Fußballnationalmannschaft spielt, kann man ja noch irgendwie verstehen, dass vorher die Nationalhymnen beider Mannschaften gespielt werden. Und auch bei der Siegerehrung der Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen oder anderen internationalen Sportwettbewerben erscheint das Abspielen der jeweiligen Nationalhymne noch entfernt nachvollziehbar. Aber wie sieht es vor einem internationalen Boxkampf aus? Kämpfen die Klitschkos tatsächlich für die Ukraine und Felix Sturm oder Jürgen Brähmer für Deutschland? Da klingen doch wohl tiefere Schichten in uns an. Oder wie sehen Sie das?

Im Medaillen-Ranking der Olympischen Spiele 2016 stehen nicht etwa die deutschen Sportler an 5. Stelle, sondern „Deutschland“. 1936 in Berlin wundert einen das nicht (da stand übrigens das „Deutsche Reich“ an erster Stelle, sowohl bei der Goldmedaillen als auch in der Gesamtzählung), aber heute, nach 80 Jahren! Manches ändert sich eben nicht. Und in diesen Tagen verkündete die immer noch als seriös geltende FAZ: „Erstmals seit Steffi Graf steht mit Angelique Kerber wieder eine Deutsche im Damen-Tennis an der Spitze.“ Und die nicht minder seriöse „Welt“ titelte auf der ersten Seite mit Bild „Unsere neue Nummer eins“. Täusch ich mich oder klingt da nicht Stolz mit (und wenn ja, worauf?) Doch auf der ewigen Bestenliste in diesem Zusammenhang steht immer noch die BILD-Schlagzeile vom 20. April (ausgerechnet!) 2005 „Wir sind Papst“.  

Landsleute stehen uns irgendwie näher als andere

Wir sind zwar alle Menschen, doch stehen uns Landsleute irgendwie näher als andere. Wie sonst wäre es zu erklären, dass man sich unwillkürlich freut, fern der Heimat einen Deutschen (egal ob Männlein oder Weiblein) zu treffen. Und warum wird stets erwähnt, dass sich unter den Toten eines Flugzeugabsturzes über dem Pazifik oder den Opfern eines Terroranschlags in Kabul oder Paris „auch mehrere Deutsche“ befanden? Wird das Unglück oder der Anschlag dadurch tragischer? Bertolt Brecht, der nicht im Verdacht steht, gefühlsbetont oder gar national gewesen zu sein, hat diese Antwort (für die DDR) gegeben:

Anmut sparet nicht noch Mühe,

Leidenschaft nicht noch Verstand,

dass ein gutes Deutschland blühe

wie ein andres gutes Land.

 

Dass die Völker nicht erbleichen

wie vor einer Räuberin,

sondern ihre Hände reichen

uns wie andern Völkern hin.

 

Und weil wir dies Land verbessern,

lieben und beschirmen wir’s.

Und das liebste mag’s uns scheinen,

so wie andern Völkern ihr’s.

Es ist also offenbar etwas in uns, in vielen jedenfalls, das uns eng mit dem Land verbindet, in dem wir unsere Wurzeln haben, mögen sie lang oder kurz sein. Das bewirkt, dass Deutschland uns näher steht, als jedes andere Land. Und das gilt natürlich für die Angehörigen anderer Länder und Völker gleichermaßen. In diesem Sinne, aber nur in diesem, geht uns Deutschland über alles. Man muss es ja nicht unbedingt laut hinausschreien.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Emil Sondermanns / 18.09.2016

Sie waren früher vor allem zum gemeinsamen Einpeitschen vor Kriegen gedacht. Heute liest man in Nationalhymnen zivilisierter Ländern oft den Werdegang zur Demokratie und Absichtserklärungen für grundlegende Menschenrechte. Beim Anhören bzw. Zusehen von Gesängen fiel mir die Sänger-Inbrunst bei der schottischen Hymne auf. Neben “God save the queen” wird bei bestimmten Events auch “The flower of Scotland” gesungen, die einen Verteidigungskrieg gegen den englischen König Edward beschreibt. Hier ein Auszug aus der türkischen Hymne zum Vergleich: Nicht wend’ dein Antlitz von uns, O Halbmond, ewig sieggewohnt. Scheine uns freundlich Und schenke Frieden uns und Glück, Dem Heldenvolk, das dir sein Blut geweiht. Der deutschen Hymne gegenüber ist nichts einzuwenden: Einigkeit, Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand, wie wahr. Ob das Recht noch einzuhalten ist und die Freiheit, wenn diametral entgegengesetzte Werteverständnisse aufeinander treffen: Darüber müssen wir uns dauerhaft unterhalten, es ist kein Selbstläufer. Unsere Nationalhymne ist insofern vor allem eine Mahnung an uns alle.

Karla Kuhn / 17.09.2016

Danke Frau Broakulla für Ihren sehr schönen Brief. So soll es sein. Jedes Land hat eine Nationalhymne, sie ist wichtig für die Menschen. Auch bei Siegerehrungen finde ich es wichtig, dass die Nationalhymne des Landes aus dem der Sieger stammt, gespielt wird. Die Diskussionen über die Nationalhymne, über Vaterlandsstolz etc. finde ich überflüssig wie ein Kropf. Kein Franzose, Italiener oder Engländer käme auf die Idee, seine Staatszugehörigkeit anzuzweifeln. Das machen nur bestimmte Gruppen von den Deutschen. Ich jedenfalls singe die Nationalhymne gerne und lauthals mit.  Übrigens kann man Hoffman von Fallersleben keine Neigung zu den Nazis nachsagen, die waren zu seiner Zeit gar nicht präsent.

M.Hofmann / 17.09.2016

Täusche ich mich oder klingt da nicht political correctness mit - wenn ja, warum?

Hubert Bauer / 17.09.2016

“Deutschland, Deutschland über Alles” ist sicher zweideutig und somit ist es gut, dass die erste Strophe des Deutschlandliedes heute nicht mehr gesungen wird. Gemeint war damit aber nicht, dass Deutschland über allen anderen Nationen der Welt steht. Im Jahr 1841 gab es noch gar kein Deutschland als Staat. Dieser wurde erst im Jahr 1871 gegründet. Gemeint war vielmehr, der Wunsch der meisten Deutschen nach einem gesamtdeutschen Bundesstaat, der über den Interessen der vielen Landesfürsten am Beibehalten des damaligen deutschen “Flickenteppichs” stehen sollte. Damit erklärt sich auch die Nennung von Flüssen, die nie in Deutschland gelegen haben. 1841 war noch nicht absehbar, welche Gebiete einem künftigen Deutschland beitreten wollen; insbesondere Österreich war sehr fraglich.

Hartmann Ulrich / 17.09.2016

Es ist historisch ziemlich abwegig, Hoffmann von Fallersleben in einem Atemzug mit den NS zu nennen. Ein “schlechtes Beispiel” ist die 1. Strophe des Deutschlandliedes höchstens deshalb, weil die Worte “über alles” mißverständlich sind. Die geographischen Angaben umschreiben grob das damalige Gebiet des Deutschen Bundes unter Einbeziehung der preußischen Ostprovinzen; es geht um Zusammenhalt, nicht um Eroberungen. Ob die Grenze Deutschlands einmal an der Memel verlief, kann man nicht offen lassen. Das war so, jedenfalls nach dem Versailler Vertrag, als der Teil Ostpreußens nördlich der Memel von Litauen annektiert wurde. Die Maas bildet hingegen nicht die Grenze zu den Niederlanden; diese verläuft etwas östlich davon. (Zu Hoffmanns Zeiten gehörte auch das niederländische Herzogtum Limburg zum Deutschen Bund.)

Wolfram Thiele / 17.09.2016

Ernst Moritz Arndt: Wo dir Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten und seine Sturmwinde dir mit heiligen Schrecken durch die Seele brauseten, da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland. Wo das erste Menschenaug sich liebend über deine Wiege neigte, wo deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße trug und dein Vater dir die Lehren der Weisheit ins Herz grub, da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland. Und seien es kahle Felsen und öde Inseln, und wohne Armut und Mühe dort mit dir, du mußt das Land ewig liebhaben; denn du bist ein Mensch und sollst nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.

Gottlieb Renschu / 17.09.2016

“Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.” hat im Sinne des Verfassers keinerlei chauvinistische Intension. Es sollte lediglich verdeutlichen, dass eine herzustellende Reichseinigkeit (werfen Sie einen Blick auf eine Landkarte der 1840er Jahre) der Dinge wichtigstes auf der Welt ist.

Emma W. Broakulla / 17.09.2016

Die Nationalhymne trägt meiner Meinung kaum zu falschem “Vaterlandsstolz” bei. Ich denke sie erinnert uns ein bisschen daran in welchem Land wir leben und wofuer das Land steht. “Einigkeit und Recht und Freiheit fuer das deutsche Vaterland” daran ist nichts Falsches. Andere Länder singen ebenso mit mehr oder weniger Stolz ihre Nationalhymne. Ich finde das ist eines sehr schöne Sitte! Seit einigen Jahren lebe ich in Schweden und die Schweden singen die Nationalhymne ihres Mutterlandes ebenfalls im Stehen, gerne und mit Inbrunst. Und wenn ich bei so einer Gelegenheit dabei bin, singe ich auch als Nichtschwede mit. Weil ich gerne dort lebe und mich dort zuhause fuehle. “Ja jag vill leva jag vill dö i norden” Fuer mich gilt nicht ” Deutschland ueber alles”, sondern ein Land, welches mir ein gutes und geschuetztes Zuhause bietet, zu wuerdigen und mich zu freuen dass ich dort leben darf. Vor allem die Politiker aller Länder sollten sich beim Absingen der Nationalhymne daran erinnern, dass Sicherheit, Schutz , Geborgenheit und ein auskömmliches Leben fuer die Menschen im Land zu erhalten und zu bewahren, ihre Aufgabe ist.

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