Vera Lengsfeld / 31.10.2017 / 06:00 / Foto: Lucas Cranach / 15 / Seite ausdrucken

Gehört Luther zu Deutschland?

Warum wirft der Autor Klaus Rüdiger Mai in seinem gleichnamigen Buch diese Frage auf? Weil er sich berechtigte Sorgen um die Akzeptanz der geistigen Wurzeln Europas macht. Anlass dafür gibt es genug. In Zeiten, wo ausgerechnet im Hinblick auf den 500. Jahrestag der Reformation von einem evangelischen Theologen behauptet wird, man müsse mehr bieten als das übliche „Luthertralala“, und der den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, in seine Kirche einlädt, damit dieser im Anschluss an den Gottesdienst anlässlich des Reformationstages einen Vortrag halten kann, sind erhebliche Zweifel angebracht, welchen Stellenwert der große Reformator in seiner Kirche noch hat.

Nicht nur in seiner Kirche. In Deutschland. Klaus Rüdiger Mai legt gleich zu Beginn seines Essays den Finger auf die Wunde:

„Europa entstand...vor allem aus dem Geist des Christentums, denn aus dem Geist des Christentums, insbesondere der Trinität, erwuchsen die Aufklärung, die Idee der Menschenrechte, die modernen Wissenschaften und die großen technischen und zivilisatorischen Erfolge... Europa wird christlich sein, oder es wird nicht sein. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass alle Europäer Christen zu sein haben...sondern das verweist allein...auf christliche Grundlage und Identität unserer bürgerlichen Werte. Vergisst Europa diese, vergisst es sich selbst.“

Leider ist dieses Vergessen in vollem Gange. Wer verächtlich von Luthertralala redet, dem ist nicht mehr bewusst, „dass mit Luther das moderne Deutschland und Europas Moderne beginnen“, wie Mai die Ausgangsthese seines Essays formuliert.

 „Am Anfang der Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte steht Luthers Wort von der Freiheit des Christenmenschen, weil in diesem Text das Individuum entdeckt wird...und die neue Weltsicht vom Individuum ausgeht“.

Freiheit existiert, oder sie existiert nicht, jenseits von Gefühlen

Diese von Luther angestoßene große historische Entwicklung, so Mai, scheint heute kraftlos geworden, ziellos zu verebben. Es besteht die reale Gefahr, dass aus der Freiheit ein Freisein von der Freiheit wird. Wenn die Freiheit aber, wie der rumänische Philosoph Emil Cioran vermutet, nur ein Gefühl wäre, würde das den Mächtigen in die Hände spielen, die meinen, man solle sich mit dem Gefühl begnügen. Aber Freiheit existiert, oder sie existiert nicht, jenseits von Gefühlen. Nichts ist so sehr in Gefahr, wie die Freiheit, deren Wesen „in der Suche nach Wahrheit“ besteht.

Wir befinden uns in einem historischen Umbruch. Geschichte findet zwar unabhängig von ihrer Beurteilung durch den Menschen statt, aber keineswegs über ihren Köpfen.

„Unter keinen Umständen dürfen die Menschen der Propaganda der Mächtigen auf den Leim gehen, dass sie diesen Prozessen hilflos ausgeliefert seien“, mahnt Mai. „Luther weist den Weg...die Menschen besitzen die Vollmacht und die Fähigkeit einzugreifen, zu steuern, zu gestalten. Der Popanz der Alternativlosigkeit, die Monstranz einer sich selbst vergottenden Herrschaft...entblößt doch nur Hybris und Misstrauen gegenüber den Menschen, einen Hang zur Tyrannis... Das unselige Programm der Alternativlosigkeit verhöhnt die Freiheit des Christenmenschen... Eine Welt ohne Alternativen wäre eine Welt aus Knechten.“

Luthers Waffe gegen die Obrigkeit war die Sprache

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Luther hochmodern ist. Luthers Waffe gegen die Obrigkeit war die Sprache. Er wollte keine Sprache der Eliten, sondern aller Deutschen. Seine Bibelübersetzung „empfing ihre Impulse aus dem großartigen Zusammenspiel von Sprache...dem Glauben eines freien Christenmenschen, mithin aus Sprache, Glauben und Freiheit“. Das macht zugleich die deutsche Identität aus, um die unsere „Eliten“ heute schleichen, „wie die Katze um den heißen Brei“. Die Sprache ist längst nicht mehr frei in Deutschland, sie wurde ins Prokrustebett der politischen Korrektheit gezwängt.

Sich die Freiheit zu nehmen, sich aller Möglichkeiten, die Sprache bietet, zu bedienen, hat die Herrscher schon immer herausgefordert. Luther wurde von der päpstlichen Kurie angeklagt, weil er sich nicht ihrer Benutzungsvorschrift, ihrer Sprache bediente. Das Wissen, dass jeder Versuch, Sprache durch eine Sprachpolizei und Sprachgerichtshöfe einzuschränken, Willkür bedeutet, „ermutigte Luther zur Furchtlosigkeit im Denken, im Reden und im Schreiben“. Angesichts einer Kirche, die sich willig der politischen Korrektheit unterwirft und sie nach Kräften befördert, wird klar, warum Luther den Bedford-Strohms, den Käßmanns und den Marxens größtes Unbehagen verursacht.

Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen" ist das Gründungsmanifest des modernen Europa. Die Konsequenz bedeutet eine „Abkehr von jeder supranationalen Herrschaft und die Hinwendung zu einem dezentralen Föderalismus. Nicht in einem Zentralstaat, sondern in seinen Regionen ist der Mensch frei“. Das ist eine Wahrheit, die unsere Eurokraten, die das Europa der Vaterländer, wie es von den Gründern der Europäischen Gemeinschaft gedacht war, in einen Zentralstaat verwandeln wollen, ignorieren.

Die EU, angeführt durch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker („Wenn es ernst wird, muss man lügen“), ist „voller geheimer Abkommen und Verhandlungen, sie behandelt hierin den europäischen Bürger wie eine feindliche Macht, vor der man, was man plant und umsetzt, unter allen Umständen geheim halten muss, vom Anfa-Abkommen bis zu den TTIP-Verhandlungen“.

Den immer massiver vorgebrachten Forderungen, über Aspekte der Wahrheit zu schweigen, muss mit Luther entgegengehalten werden, dass nur Wahrheit zur Freiheit führt, dass Handeln an Verantwortung gebunden sein muss. Er sagt: „Das wollen wir so klar machen, dass mans mit Händen greifen solle, auf dass unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben.“  Das heißt: Ohne Meinungsfreiheit keine Freiheit.

An erster Stelle nicht Menschlichkeit, sondern Recht

Faulheit und Feigheit sind Gründe, warum viele Menschen zeitlebens unfrei bleiben. Luther hat schon vor Immanuel Kant dazu ermuntert, den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Das ist bis heute das beste Mittel, um Tyrannen zu entmachten.

Aber hat Luther nicht gegen die „räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ gewütet? Hat er, denn er fühlte sich mitverantwortlich für die grausame Gewalt, die im Bauernkrieg von allen Seiten ausgeübt wurde. Übersehen wird, dass er sich mit ebenso scharfen Worten gegen die Obrigkeit wandte, weil es  „ihr Versagen, ihr Hochmut, ihre Eitelkeit, ihr Eigennutz, ihre Gier, ihr Geiz, ihre Hybris, ihre Arroganz, ihre Habsucht, ihre Gottlosigkeit und Verschlagenheit war, die zum Aufstand der Bauern geführt hatte“. „Nicht Menschlichkeit, sondern Recht stand für ihn an erster Stelle, Recht, damit auch wieder Menschlichkeit aufleben konnte.“ Das hätte Luther auch den heutigen Regierenden ins Stammbuch geschrieben, dass sich ihre Moralität „nicht in der moralischen Deklaration, sondern im effektiven Regierungshandeln“ zeigt.

„Ich fürchte, dem wird nicht zu wehren sein, die Fürsten stellen sich denn fürstlich und fangen wieder an, mit Vernunft und säuberlich zu regieren. Man wird nicht, man kann nicht, man will nicht eure Tyrannei und Mutwillen auf die Dauer leiden.“ Das setzt, wie Mai bemerkt, voraus, dass die sogenannte „Elite“ wieder Demut lernt, anstatt den Glauben an sie einzufordern.

Gehört Luther zu Deutschland?

Die Achse des Guten wiederholt aus Anlaß des heutigen Reformationstages einige der meistgelesenen Texte, die in letzter Zeit zum Thema erschienen sind. Dieser Beitrag von Vera Lengsfeld erschien erstmals am 22.Februar Februar dieses Jahres und hat nichts an Aktualität eingebüßt.

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M. Strobel / 31.10.2017

Sehr geehrte Frau Lengsfeld, Dieses mal muss ich vehement widersprechen. Europa ist nicht wegen, Stunden trotz des Christentums zu dem geworden, was wir heute alle schätzen. Es waren - und sind - Dogmatismus, Engstirnigkeit und angebliche Unfehlbarkeit der eigenen Ideen schon immer die Feinde der Freiheit und gleichzeitig die bestimmenden Merkmale aller monotheistischen Religionen. Keine andere Idee neben sich zu dulden hat den Fortschritt verhindert. Die wurde erst durch die Entmachtung der KircheN in der Aufklärung in Europa zum Motor von Wissenschaft und Verbesserung. Wir sind deshalb weiter entwickelt, weil wir andere Ideen tolerieren, und das tun wir erst seit die Kirche nicht mehr die komplette Macht hat. In einer besseren Welt gibt es nicht mehr, Stunden weniger Religion in der Öffentlichkeit, den Religion sollte meiner Meinung nach Privatsache sein. Sie haben allerdings Recht, dass andere Religionen das noch weniger können als das Christentum. Wir sollten alle gemeinsam für eine Welt ohne lähmende Dogmen und rückständige Allmachtsphantasien kämpfen, ob nun von Gotteskriegern, Ökoperfektionisten oder (Inter)-nationalsozialisten.

Helmut Driesel / 31.10.2017

Alles Martin oder was? Natürlich gehört Luther zu Deutschland. Schauen Sie mal, sehr geehrte Frau Lengsfeld, was heute dazu auf T-Online steht: “Prolog: Das Jubiläumsjahr überrascht mit Luther-Tomaten (besonders bissfest), Martin Luther als Playmobilfigur (die sich besser verkauft als Darth Vader, ironischerweise die dunkle Seite der Macht) und Luther-Socken (für besonders Standhafte). Nur Luther-Kondome mit der Aufschrift „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ waren der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dann doch zu viel. Immerhin gibt es am Dienstag einen eigenen Feiertag zu Ehren der Reformation. Erstaunliches also ist geschehen, in einem Land, in dem das christliche Abendland neuerdings gern bemüht wird, die Religion laut Kirchenmitgliedschaft aber auf dem Rückzug ist.” Und noch mehr lesenswertes. Besser kann man über Luther nicht schreiben. Luthers Freiheit war aber keine Freiheit für Atheisten oder die Anhänger anderer Gottheiten. Auch Sie müssen irgendwann noch einsehen, dass Freiheit Handlungs- und Entscheidungsfreiheit bedeutet, nicht etwa Denk- oder Meinungsfreiheit. Was insofern viel mit klassischer Thermodynamik zu tun hat. Es tut mir leid, mit Ihren Freiheitssätzen kann ich nicht anfangen. Mit Luther schon.

Wilfried Cremer / 31.10.2017

Luther hielt seine Sicht der Freiheit aber auch für alternativlos. Das kam nicht nur in seinem Antisemitismus zum Ausdruck. Er wollte der einzige, der größte Reformator sein. Sonst hätte er das, was er tatsächlich wurde, nämlich Spalter des Christentums bis in unzählige Denominationen, gebilligt. Er ist ein Urtyp der Selbstberufung. Und da, wo es ihm half, war auch er unterwürfig gegenüber Fürsten. Sein Absegnen hochherrschaftlicher Bigamie ist eine Metapher für die Reformation als geistlichem Ehebruch. Die Entstehung des modernen Europa beruht nicht auf der sogenannten Reformation, sondern (unter anderem) auf der Reibung an ihr. Aus Frankreich, Italien und anderen vorwiegend katholischen Regionen kamen bekanntlich ebenfalls wichtige Anstöße.

Michael Jansen / 31.10.2017

Alle 500 Jahre wieder? Feiertags-Anbiederei heute Nach Ramadan den Futtertag tun manche bei uns kund, als Feiertag im Bund. Da lob ich mir den Muttertag… Ganz pfiffig wär ein Buttertag: Den Armen gebt zwei Pfund! Das wäre mal ein Grund. – Warum nun dieser Luther-Tag?! Wer Reden halten will, sei frei. Dafür braucht‘s keinen Feiertag; das Wichtigtun lasst bleiben! Mein Vorschlag, statt der Frömmelei: Am Müller- oder Meier-Tag würd ich Gedichte schreiben.

Bryan Hayes / 31.10.2017

Bei dieser Art von Betrachtungen, so auch hier, wird häufig die zentrale Schlüsselbedeutung des zentralen, konstituierenden Metakonzepts der antiken, griechischen Philisophie vergessen, nämlich das Konzept, dass jede Person selbst, unabhängig von Herkunft etc., strukturiert (!) und erkenntnisorientiert (!) über beliebige Themenkreise nachdenken kann und soll, statt einfach irgendwelchen Doktrinen oder (angemassten) Autoritäten nachzudackeln. Die Rhetorik, die Meinungsbeeinflussung durch Verwendung der Sprache, stammt übrigens auch von dort, allerdings zum größeren Teil aus der politischen Sphäre, genauer, aus der demokratischen Sphäre. (Luther hat diese vielfach in ihrer Wirkung verstärkt durch Einsatz des Massenmediums Buch.)

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