Die Nachricht ist ein Running Gag. Sie gehört zu dem Material, mit dem die Redaktionen das jährlich aufbrechende Sommerloch stopfen. Zuverlässig konnte man das Vertraute jetzt wieder bei BILD, bei FOCUS- sowie bei ZEIT Online lesen und im Deutschlandfunk hören: Die Bayern wollen sich von Deutschland abspalten, noch nicht alle, aber doch 32 Prozent, laut einer repräsentativen Umfrage. Erschrecken soll die Meldung niemanden, eher erheitern.
Zwischen den Zeilen werden wir aufgefordert, uns vor Lachen auszuschütten: Auf eine solche Schnapsidee kann doch nur kommen, wer zu tief ins Glas schaute, sich das Hirn mit der dritten Maß Paulaner vernebelt hat. Diese Schluchten-Jodler am unteren Rand des Landes! Wir haben es doch immer gewusst, wobei wenigstens der ZEIT journalistisch zugute zu halten ist, dass sie in ihrer kurzen Meldung erwähnt: Auch 22 Prozent der Saarländer und der Thüringen wünschten sich „eine staatliche Souveränität“, ebenso wie 21 Prozent der Befragten in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Das ist da wie dort keine Mehrheit. Mehr als eine Minderheit ist es aber allemal. Wer sie als den halbgescheiten Bodensatz der Gesellschaft abtun wollte, müsste sich zumindest fragen, wie es kommt, dass die deutsche Wirtschaft - und die bayrische zumal - gleichwohl floriert wie nie zuvor. Mit einem Bevölkerungsanteil von beinahe einem Drittel Deppen wäre das wohl kaum möglich. Schließlich leben wir nicht im Zeitalter grober Handarbeit, als es der Mann der Faust war, der das Bruttosozialprodukt mit seinem starken Arm steigerte, sondern im 21. Jahrhundert, in einer Epoche, in der die Vernunft und der Verstand eines jeden über den Erfolg entscheiden.
Eine Trendwende am Horizont
Menschen, die qualifiziert und klug genug sind, diesen Anforderungen zu genügen, ist zuzutrauen, dass sie nicht bloß die Weißwurst im Kopf haben, wenn sie sich für die staatliche Unabhängigkeit ihres Landes aussprechen. Dies lächerlich zu finden genügt nicht, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Das gilt umso mehr, als es um eine Entwicklung geht, die sich auch anderswo in Europa abzeichnet, bisweilen sogar schon weiter fortgeschritten ist als in Bayern. Tatsächlich bedarf es noch einiger Phantasie, sich auszumalen, wie das Land als eigener Nationalstaat, losgelöst von der Bundesrepublik, existieren könnte. Niemandem ist es zu verdenken, will ihm diese Vorstellung kurios, befremdlich oder irrwitzig anmutet.
So verständlich das einerseits sein mag, so unübersehbar sollte andererseits auch sein, dass es sich hier um das Wetterleuchten einer politischen Trendwende von europäischen Ausmaßen handelt. Die Iren, die Bretonen, die Basken, die Flamen oder die Korsen, alle streben sie zurück in die Länder, mehr noch in die Regionen. Ein Aufbruch entgegengesetzt der Richtung, in die die politische Klasse Europas die Völker lenken möchte. Während diese alles daran setzt, ein Großreich zu schaffen, in dem die politische Bürokratie von Brüssel aus unumschränkt herrschen kann, versprechen sich jene eine selbstbestimmte Zukunft von der Rückkehr zu kleineren staatlichen Einheiten.
Das babylonisch sprachverwirrte Vielvölker-Konglomerat hat abgewirtschaftet, noch bevor es politisch zementiert werden konnte. Historisch überlebt, weil unvereinbar mit dem demokratisch Selbstbewusstsein einer aufgeklärten Gesellschaft, waren die Ambitionen der Eurokraten von vornherein. Würden sie verwirklicht, fielen wir zurück in die Zeit autokratisch, monarchisch oder totalitär beherrschter Gesellschaften.
Von Karl dem Großen zu Kaiser Franz Joseph
Karl der Große grüßt da aus der weiteren Vergangenheit ebenso wie Stalin aus der näheren. Dass der eine Europa zivilisatorisch voranbrachte, indes der andere die Barbarei aufleben ließ, ändert nichts daran, dass ihre Staaten allein durch den Bezug der Untertan auf die Autorität des jeweiligen Herrschers zusammengehalten wurden. Und was wäre aus der Donaumonarchie geworden, wären ihre Völker nicht auf Kaiser Franz Joseph fixiert gewesen, mehr oder weniger gezwungen.
Kein Staat, dessen Herrschaftsgebiet sich über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg erstreckt, kann den Bürgern de facto ein Mitspracherecht einräumen, selbst wenn er es ihnen de jure zugestehen sollte. Die Regierten sind ihrer Regierung schlichtweg zu weit entrückt. Im wahrsten Sinne des Wortes vermag die Mehrheit nicht zu verstehen, was die Machtzentrale über sie verfügt. Gleiches gilt im umgekehrt Fall. Jede Großmacht wäre verloren, ließen sich ihre Anführer auf die jeweils besonderen Interessen der politisch zusammengeschweißten Länder und Regionen ein. Würden sie es tun, entstünde das blanke Chaos. Das ist keine Frage der Moral. Vielmehr liegt es im Wesen der Großmacht begründet, dass sie über die Köpfe der Bürger hinweg regieren muss.
Dazu bedarf es nicht einmal Diktatoren wie Lenin oder Stalin, die sich auch mit der Schaffung der Sowjetunion die Gefahr demokratischer Bestrebungen vom Halse schafften. Es genügt schon die Installation einer Funktionärselite in Brüssel, um die scheinheilig verkündeten "demokratischen Verhältnisse" im politischen Geschäft ad absurdum zu führen. Bösen Willen muss man dem Einzelnen dabei gar nicht unterstellen.
Es geht um Teilhabe an der Demokratie
Zu konstatieren ist lediglich das bedenkenloses Funktionieren beim Aufbau anachronistischer Machtstrukturen. Welchen Schaden die Deutschen damit schon einmal angerichtet haben, steht auf einem anderen Blatt. Hier interessiert es nur insofern, als es eine bedrohliche Geschichtsvergessenheit bezeugt. Eine Gefahr, die vielen zunehmend Angst macht. Sie deshalb einer reaktionärer Folklore zu bezichtigen ist geradezu absurd, um das Mindeste zu sagen.
Wenn ein knappes Drittel der Bayern für eine nationale Selbständigkeit ihres Bundeslandes votiert, dann erheben sie lediglich Anspruch auf politische Verhältnisse, die ihnen wieder die selbstbewusste Teilhabe an der Demokratie erlauben. Weder wollen sie König Ludwig uns dem Himmel zurückbeordern oder Passkontrollen an den Grenzen zu Hessen, Sachsen, Thüringen und Baden-Württemberg einführen, noch streben sie aus Europa heraus. Wie sollte das gehen? Unser Erdteil ist kein Puzzle, das sich in seine Einzelteile zerlegen lässt. So wurde nur der politische Kontinent zusammengeschustert: ein absurdes Gebilde, in dem das Leben bürokratisch erstarrt.
Um damit auszukommen, kann man zweierlei tun. Man kann den Apparat ignorieren, den ganzen EU-Verein links liegen lassen und sich schwarz ärgern über die Vielzahl unsinniger, bisweilen dämlicher Verordnungen, die er produziert, um nur irgendetwas zu tun. So halten es die meisten. Oder man versucht wieder für sich selbst einzustehen in politischen Einheiten, die sprachlich und kulturell so begrenzt sind, dass die Bürger einander noch verstehen und gemeinschaftlich ein Selbstbewusstsein entwicklen, das es ihnen erlaubt, souverän mit den anderen zu verkehren - wirtschaftlich, politisch und kulturell. Das ist der Weg, den jene einschlagen, die die Demokratie wieder auf den festen Grund nationaler oder regionaler Identität stellen wollen.
Sie der Lächerlichkeit preiszugeben, nur um das Sommerloch zu füllen, fällt leicht. Allerdings spricht unterdessen manches dafür, dass die Entwicklung schon bald über die Köpfe der Spötter hinweggehen könnte. Schon heute sind sie auf dem Holzweg. Auf der Agenda der Geschichte steht die Abkehr von den Großmachtphantasien einer politischen Klasse, die um ihrer selbst Willen "durchregiert".
PS. Wie wäre es, würden wir uns an der Schweiz ein Beispiel nehmen? Denn der gern erhobene Einwand, gerade sie sei doch ein mehrsprachiges Land, verfängt mitnichten, da die Eidgenossen eine gemeinsame Geschichte verbindet, so fest, dass sie sich nahezu basisdemokratische Verhältnisse leisten können. Ihr Saldo spricht ohnehin für die Chancen der kleineren Länder im Rahmen der Weltwirtschaft.