Wolfram Weimer / 23.03.2017 / 17:00 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 15 / Seite ausdrucken

Fünf Gründe, warum Schulz überschätzt wird

Die SPD feiert Martin Schulz inzwischen wie eine Groupie-Truppe ihren Popstar – kreischend und völlig ergeben. Das Parteitags-Wahlergebnis von 100 Prozent ist der Höhepunkt eines Politfestivals, das man derart nur aus Diktaturen kennt, niemals aber der streitlustigen und richtungsbunten Sozialdemokratie zugetraut hätte. Inmitten des Jubel-Taumels ahnen altgediente Parteivordere freilich, dass die 100 Prozent in Wahrheit gar nicht gut sind, sondern verdächtig machen.

Plötzlich ahnt das Publikum, dass mit der SPD-Show um ihren Heiland irgendetwas nicht stimmt. Nicht nur bei Journalisten werden jetzt die Reflexe der Kritik wach. Auch das breite Publikum geht auf die instinktive Suche, was an dem Kandidaten nicht so hundertprozentig ist. Plötzlich spaziert die Vokabel “überschätzt” durch die Martins-Republik.

Insgesamt erwächst der SPD aus der 100-Prozent-Wahl also ein doppeltes Problem. Zum einen hängt sie die Messlatte für Martin Schulz zu hoch. Zum anderen legt sie ihr eigenes Schicksal mit ultimativer Geste in die Hände eines einzelnen Mannes. Sollte Martin Schulz Fehler machen, in Skandalen stürzen oder einfach nur scheitern, so wird der Schaden für die 100-Prozent-Partei enorm.

Die fünf Gefahren für die so gewaltig aufgeblasene Kandidatur:

Erstens hat Schulz ein Altlasten-Problem. In seinen Jahren als EU-Spitzenpolitiker hat er wohl ein wenig zu tief für sich und seine Getreuen in EU-Taschen gegriffen. Es geht um Sitzungsgelder, rechtswidrige Beförderungen und Sonderzahlungen. Der Haushaltskontrollausschuss im Europaparlament rügt, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung prüft, die Opposition empört sich bereits über “dreiste Vetternwirtschaft”. Politisch gefährlich ist der Vorgang, dass Schulz in exzessiver Weise (an 365 Tagen im Jahr!) Tagegelder in Anspruch genommen hat. Als der Vorgang von der ARD aufgedeckt wurde, bestritt er zunächst vor laufender Kamera, die 365 Tagessätze zu erhalten. Auch bei der Vermengung von Wahlkampfaktivitäten und Parlamentsarbeit stehen – insbesondere mit Blick auf seinen Wahlkampfmanager Markus Engels – fragwürdige Gehaltszuschläge und Reisekostenerstattungen in der Kritik.

Schulz hat es als EU-Parlamentspräsident derart geschickt mit Residenzzulagen, Kostenpauschalen und Tagegeldern auf die höchste Verdienstsumme gebracht, die je ein deutscher Politiker aus Steuergeldern erhalten hat – rund 280.000 Euro jährlich netto. Bei einer Steuer- und Abgabenquote von 45 Prozent entspricht dies brutto über 500.000 Euro.

Die Berichte und Enthüllungen über diese Altlasten könnten eine Belastung im Wahlkampf werden. Manche Beobachter in Berlin fühlen sich bereits an den seinerzeitigen Absturz von Peer Steinbrück erinnert, nachdem die hohen Honorare für Rednerauftritte bekannt geworden waren.

Zweitens hat Schulz ein Bilanz-Problem. Er saß 23 Jahre im EU-Parlament, er war sieben Jahre Fraktionsvorsitzender und fünf Jahre sogar Parlamentspräsident. Er verkörpert die EU der vergangenen Jahre wie kaum ein anderer Europäer. Doch ist die EU just in seinen Verantwortungsjahren in schwere Existenznot geraten. Von der Migrationskrise über den Schuldenkrach bis zum Brexit hinterlässt das Gespann Juncker-Schulz ein tief zerrüttetes Projekt. Für die Europafreunde gilt er als unglücklich gescheitert; für die Europafeinde ist er gar die Verkörperung der bürgerfernen, selbstgefälligen Bürokraten-EU.

Drittens hat Schulz ein Glaubwürdigkeits-Problem. Dereinst feierte er Gerhard Schröders Agendapolitik als historische Großtat, nun will er die Revision. Jahrelang lobte er die (inzwischen gescheiterte) Wirtschaftspolitik des französischen Sozialisten Hollande, jetzt feiert er den wirtschaftsliberalen Macron, da der in den Umfragen plötzlich vorne liegt. Auf dem Davos-Gipfel attackiert er Hollands Premier Rutte als Europa-Kritiker, nach dessen Wahlsieg fühlt er sich mit ihm als Sieger gegen den Rechtspopulismus. Bei Arbeitgebern redet er wirtschaftsfreundlich, bei Gewerkschaften plötzlich wirtschaftskritisch. Besonders verblüffend ist seine Haltung zur Steuerhinterziehung, die er in Reden dramatisch anprangert. In seiner Amtszeit aber ließ er erst die aggressive Steuervermeidung durch Luxemburg laufen und stellte sich hinterher – als Kritik laut wurde – schützend vor seinen luxemburgischen Freund Jean-Claude Juncker.

Viertens hat Schulz ein Positionierungsproblem. Als EU-Parlamentspräsident hat er lautstark Positionen eingenommen, die in Deutschland reichlich unpopulär sind – für gewaltige Transfers an Griechenland, für Eurobonds und für die europaweite Einlagensicherung, die deutsche Sparguthaben kollektiveren und ins offene Risiko stellen würde. Schulz droht damit im kommenden Wahlkampf als der Mann zu wirken, der das Portemonnaie der Deutschen nach Südeuropa verschenken will.

Auch in der Sicherheits- und Migrationsfrage stand Schulz lange für eine Politik der Grenzöffnung und für die Aufnahme der Türkei in die EU. Da aber die entgleiste Migration zur zentralen Frage der deutschen Politik geworden ist, wird Schulz seine Position dazu nur schwer justieren können. Er versucht es mit Ablenkung und setzt alles auf soziale Verteilungsfragen. Doch die Mehrheit der Deutschen will derzeit weniger den Ausbau des Sozialstaats als vor allem Schutz und Sicherheit vor Kriminalität wie Islamismus. Seine Akzentuierung der angeblich schweren sozialen Probleme Deutschlands sorgt außerdem dafür, dass er sich einerseits als Kritiker der eigenen SPD-Regierungserfolge in ein Dilemma bringt, andererseits als Vaterlandskritiker da steht, was einem Kanzlerkandidaten eher schadet als nützt.

Fünftens hat Schulz ein Opportunismusproblem. Die Welt bezeichnet ihn als “lupenreinen Populisten”. Das Deutschlandradio nennt ihn einen “cleveren Opportunisten”. Die Zeit moniert “kaum inhaltliche Akzente”. Der Stern kritisiert seine “gigantische Phrasendreschmaschine” und fühlt sich an einen anderen Gefälligkeitsredner erinnert: “Alles erinnert (…) an den Aufstieg von Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). An den ‘Außergalaktischen’, wie Horst Seehofer ihn einst nannte. Do you remember? An dessen Schwiemel-Schwafel-Reden, in denen er nichts Konkretes sagte, aber hinreißend lächeln konnte.”

Selbst in den eigenen Reihen wird seine Technik als eine neue Art von “rotem Populismus” angesehen. Seine Kritiker meinen, er mobilisiere Ängste, weigere sich aber in vielen Fragen, konkret Positionen zu beziehen, um Widerstände zu vermeiden. Er badet lieber in Emotionen und trocknet sich im Ungefähren. Das Problem dabei – des Kaisers neue Kleider wirken nicht mehr, wenn die Nacktheit irgendwann sichtbar wird. Dem bösen Wörtchen “überschätzt” wird er bald etwas Tragbares entgegen setzen müssen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European hier.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Wolfgang Richter / 24.03.2017

Dem Zeitgeist entspricht es wohl, daß den Fans des “St.Maatin” alle diese Probleme ziemlich egal sind. Ein Teil hofft offenbar kritiklos, daß die Spezialdemokraten dauerhabt ihr Tal der Tränen verlassen. Und dann hat er das Glück, in einer Zeit anzutreten, da es anderen völlig egal ist, wer als halbwegs wählbarer Kandidat präsentiert wird, so lange nur die Chance besteht, eine zutiefst verhaßte “Raute”, die man nicht mehr ertragen möchte, in die politische Bedeutungslosigkeit zu schicken, ausgeblendet alle Risiken und Nebenwirkungen,

Karl Baumgart / 24.03.2017

Es gibt Momente bei meiner täglichen Lektüre des Blogs “Achse des Guten”, in denen ich tiefe Dankbarkeit empfinde…

Oliver Hoch / 24.03.2017

Schulz hat durchaus schon etwas positives bewirkt. Nach Monaten des Zögern habe ich jetzt endlich meinen Austritt aus der SPD erklärt. Danke, Martin.

Horst Jungsbluth / 24.03.2017

Wenn man all das, was der Autor hier zutreffend aufgelistet hat, Revue passieren lässt, dann bleibt wenig Positives über den Kanzlerkandidaten Martin Schulz zu berichten, wobei sicherlich noch einiges dazu kommt. Insofern scheint die geradezu hysterische Begeisterung über diesen “Phrasendrescher”, der offenkundig die Zustände in seinem Land nicht kennt und das Amt des Bundeskanzlers falsch einschätzt, unverständlich und befremdlich. Die SPD ist in einem katastrophalen Zustand, den Schulz gar nicht ändern kann, will aber aus vagen Gründen rücksichtslos an die Macht und das auch mit den regierungsunfähigen Parteien Grüne und Linke. Das kann gar nicht gut gehen, aber man hat bei der Union zwei Schwächen ausgemacht,  eine ist die Kanzlerin und die andere ist das Unvermögen von CDU/CSU sich mit den Verwerfungen im Lande endlich zu beschäftigen und notwendige Reformen durchzusetzen. So kann es durchaus sein, dass die SPD von dem “Mist” profitiert, den sie selbst angerichtet oder verstärkt hat, da von den Konservativen wie schon 1972 und 1989 in Berlin nichts “kommt”. Für uns Bürger und für unser Land keine guten Aussichten.

Hubert Schmitz / 24.03.2017

Um zu retten, was (vielleicht) noch zu retten ist, also um Rot-Dunkelrot-Grün abzuwenden, ist es allerhöchste Zeit, ein “Schulzeleak” zu starten. Ich habe das Gefühl, dass es da sehr viel zu entdecken gibt.

saskia moser / 24.03.2017

jedes Volk bekommt die Regierung, die es verdient. Wenn es rot rot grün mit Martin Schulz an der Spitze ist, müssen die Bürger eben auch mit der Konsequenz dieser Wahl leben . Grundsätzlich wäre es wunderbar gewesen in der grössten Krise des 21 zwanzigsten Jahrhunderts einen erfahren ” Europäer” an der Spitze der BRD zu realisieren….grundsätzlich schon, wenn es eine Persönlichkeit wäre, die mit Format, Kompetenz und der Verbundenheit zur BRD eine kluge Politik erwarten lassen würde. Aber der designierte Kandidat der SPD lässt eher an einen Emporkömmling denken, der in der eigenen Selbstwahrnehmung badet und vor einer eh schon geneigten Zuhörerschaft erbittet : doch MARTIN, MARTIN gerufen zu werden…..dieses Video ist göttlich, weil selbst die Klakeure sich winden…. Solche charakterlichen Attitüten lassen nicht vermutetn, dass wir es mit einen klugen Staatsmann zu tun bekommen, vielmehr wird das Amt dann wohl ersteinmal dafür herhalten müssen, dem Ego des Martin Schulz zu huldigen, ob wir uns das derzeit leisten können sei dahin gestellt. Aber wie gesagt, wenn wir ihn wählen, haben wir es so gewollt…das ist Demokratie.

Roland Richter / 24.03.2017

Der Schulz will mehr Gerchtigkeit. Da möchte man sich krümmen vor Schmerzen. Plumper hat noch kein Politiker gelogen. Soll er doch wenigstens das Geld, welcher er mit Abrechungsbetrug einnahm, für die Armen und Geknechteten spenden. Wird er nicht und wird aber weiter von mehr Gerechtigkeit schwafeln und der deutsche Wahlplebs wird ihn dafür hochjubeln. Weil die vom Fernsehen und vom Konsum degenerierte dumme Masse den liebt, der am meisten lügt.

Frank Robenek-von Seggern / 24.03.2017

Der Messias, der Gesalbte.  Im Fall Schulz wohl eher der Handgesalbte!

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