Es ist an der Zeit, wieder einmal an Thomas Bernhard, den letzten österreichischen Großschriftsteller, zu erinnern, einen freien Geist, der ohne Nachkommen geblieben ist. Alles, was auf ihn folgte, war literarische Angeberei, mehr oder weniger anspruchsvoll herausgeputzt.
Man denke nur an den schwermütig grimassierenden Robert Menasse, wie er im Windschatten der Macht ein bisschen poltert, um dann mit eingelegter Lanze durch die offenen Scheunentore des Mainstreams zu stürmen – derzeit gerade voran in die „postdemokratischen“ Verhältnisse der Vereinigten Staaten von Europa. Das gefällt vielen und bedeutet nichts. Die Methode ist ein probates Mittel des Erfolgs in der postmodernen Society. Auch der Deutsche Roger Willemsen beherrscht sie aus dem Effeff; auch seine Gesellschaftskritik kitzelt, ohne Wunden zu berühren, die schmerzen könnten.
Nicht so bei Thomas Bernhard. Was er schrieb, taugte nicht zur gefälligen Unterhaltung. Nie ist er mit seinem Publikum Geisterbahn gefahren. Wer seine Bücher gelesen, seine Stücke gesehen hat, kann der Wirklichkeit nicht entkommen. Große Literatur tut ihre Wirkung, direkt und über den Tag hinaus. Sie schmerzt, weil sie sich dem Schmerz des Schriftstellers an den Verhältnissen, nicht seiner Eitelkeit verdankt. Weder Preise noch Lobreden konnten Thomas Bernhard besänftigen, ihn veranlassen, die Misere in ein milderes Licht zu tauchen, sie wenigstens so darzustellen, dass sich nicht jeder betroffen fühlen musste, weil ja alles so schlimm nicht sein kann und immer noch andere da sind, die man vors Loch schieben kann, Juden, Ausländer, Besserverdienende, Wutbürger oder Populisten.
Nie hat sich Thomas Bernhard verführen lassen, seinen Landesleuten über den Weg zutrauen. Stets war ihm bewusst, wie bedenkenlos die Menschen den Rattenfängern nachlaufen, wenn sie ihnen nur das Lied von der Lösung aller Probleme vorpfeifen. Das Stück, in dem er das darstellte, hieß „Heldenplatz“, so wie der Platz mitten in Wien, auf dem die Österreicher 1938 den Einzug Hitlers feierten, jubelnd, mit Blumen und Fahnen in ausgelassenem Freudentaumel.
Dass das Stück gerade zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“ an Deutschlands auf die Bühne des Burgtheaters kam, nicht als Historienspektakel, sonder als das Gegenwartsstück einer Gesellschaft, die noch immer so handeln könnte, wie sie es ehedem getan hat, erregte die Gemüter bis zum Wutausbruch. Wie immer reagierten die Ertappten empört, verbal in den Medien und handfest auf der Straße. Vor dem Eingang zum Burgtheater sollte ein Fuder Kuhmist abgekippt werden, damit den Nestbeschmutzern in die Nase stinke, was man von ihnen hält. In den Augen vieler mutierte der Dramatiker zu einer Hassfigur, die andere diffamiert, weil sie selbst nicht von der Vergangenheit lassen kann. Von dem Verdacht, sie könnten erneut auf einen „Führer“ setzen, fühlten sich die Bürger zutiefst beleidigt, verletzt in ihrer demokratischen Würde, damals 1988.
Unterdessen jedoch scheint sich das Blatt abermals gewendet zu haben. In der vergangen Woche, am 7. und am 8. Mai, war es in verschiedenen Zeitung zu lesen: Bald dreißig Prozent der Österreich stimmen zu, wenn es heißt: „Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern muss.“ So das Ergebnis einer Umfrage des Zukunftsfonds der Republik Österreich. Schon 2010 hatten in einer ähnlichen Umfrage dreißig Prozent gemeint, dass der Nationalsozialismus „auch etwas Gutes“ gehabt habe.
Und dreißig Prozent, das ist mehr als der schwarzbraune Bodensatz der bürgerlichen Gesellschaft. Das entspricht ungefähr dem Stimmenanteil, der genügte hatte, um die Weimarer Republik durch die Diktatur Hitlers zu ersetzen. Allerdings ist es nun auch nicht so, dass es sich bei dem Verlangen nach autoritärer Führung um ein speziell österreichisches Phänomen handelt. Wir erleben ähnliches in Frankreich, in Ungarn oder in Italien. In Deutschland gibt es seit Jahren Umfragen, in denen sich etwa Hälfte mehr autoritäre Führung wünscht. Als Angela Merkel nach ihrer ersten Wahl erklärte, von nun an werde „durchregiert“, hat ihr das große Sympathie eingetragen. Nur wenige wollten erkennen, wie gefährlich nahe ihre wundersam-befremdliche Wortschöpfung dem Verb „durchgreifen“ steht. Nicht zu reden von dem Verständnis, das gerade jetzt viele der autoritären Machtentfaltung eines Wladimir Putin entgegenbringen, einem, der noch „Schneid“ hat.
Nein, Thomas Bernhard war nicht auf dem Holzweg, kein verbitterter Misanthrop, der sich einen Spaß daraus gemacht hätte, das Volk zu beschimpfen. Er hat nur erkannt, welch gefährliche Faszination die Macht auf den Menschen ausübt, wie bereitwillig er seine Rechte für ein Heilsversprechen an die Führer verhökert, dann zumal wenn die Verhältnisse unsicherer zu werden drohen. Deshalb auch führen die Österreichischen Forscher die Ergebnisse ihrer Umfrage auf eine „sozio-ökonomische Krise“ zurück. Sie befördere die „Führersehnsucht“. Tatsächlich haben wir das in der Geschichte des Öfteren erlebt. Dass sich ähnliche Entwicklungen jetzt unter den Bedingungen juristisch gefestigter Demokratien wiederholen, ist ein Alarmsignal, das alle aufschrecken sollte, Bürger wie Politiker.
Droht doch nicht mehr und nicht weniger als der Verlust des Respekts vor der Demokratie. Weil wir sie zum Kuhhandel haben verkommen lassen, kommt uns die Achtung, die ihr gebührt, abhanden. Jedermann versucht sich ihrer auf seine Weise zu bedienen, um ein möglichste guten Schnitt zu machen. Die Politiker versprechen dem Bürger das Blaue vom Himmel herunter, um gewählt zu werden, und die Bürger verlangen dafür, was sich nicht mehr bezahlen lässt. Die Schulden, die das nach sich zieht, werden zum politischen Problem, da sie die Gestaltungsräume immer weiter einengen.
Die geplünderte Demokratie ist in die Hände ihrer Finanziers gefallen, „marktkonform“ geworden. Es verfestigt sich der Eindruck der politischen Handlungsunfähigkeit in der Demokratie. Dass wir diesen Zustand selbst provoziert haben, gerät dabei schnell in Vergessenheit, während der Ruf nach dem starken Mann lauter und lauter wird. Er soll es in die Hand nehmen, soll wieder Ordnung schaffen, für klare Verhältnisse sorgen so wie Putin auf der Krim und demnächst vielleicht in der ganzen Ukraine.
Thomas Bernhard, der 1989, im Jahr nach der Aufführung seines Dramas „Heldenplatz“, verstorben ist, würde diese Entwicklung wohl kaum verwundern. Auch das dümmlich gescheite Gerede vom notwendigen Anbruch einer „postdemokratischen Epoche“ und der Restaurierung eines josephinischen Beamtenapparats, wie er dem EU-Apologeten Robert Menasse in Brüssel vorschwebt, entspräche am Ende nur dem, was Bernhard bereits 1988 befürchtete. Dafür, dass er ihnen den Verrat an der Demokratie vorhersagte, haben sie ihm schon damals ihren Mist vor die Türe gekippt, nicht nur verbal.