Maxeiner & Miersch / 02.08.2014 / 11:57 / 2 / Seite ausdrucken

Fröhlich kapitulieren

„Kapitulation“ hieß einer der größten Hits der Berliner Band „Tocotronic“, ein leicht melancholischer Lobgesang auf das Loslassen können, wenn die Dinge nicht so laufen wie man möchte und das Weitermachen zur Qual wird. Für deutsche Chefs, so lasen wir gerade in einer Pressemitteilung der Max Grundig Klinik für psychologische Medizin, kommt Kapitulation niemals in Frage. 78 Prozent der Führungskräfte, so ergab eine Umfrage des Hospitals, halten „Aushalten“ und „Durchhalten“ für ganz besonders wertvolle Eigenschaften. Daher fehlt es der Klinik auch nicht an Patienten.

Warum hat das Kapitulieren einen so schlechten Ruf? Wir wollen jetzt nicht mit der deutschen Geschichte kommen und dem Führerbunker. Auch im Privatleben gilt vielen Menschen eiserner Durchhaltewille als edle Haltung. Wer das ungeliebte Studium abbricht oder den sicheren Job hinschmeißt, stößt auf Unverständnis. Durchhalten bis zur Rente ist ein sozial anerkanntes Ziel.

Das gilt auch für Überzeugungen. Die meisten Menschen bauen ihre Weltanschauung mit Anfang zwanzig, zunächst noch in Form von Bretterbuden, wie sie auf Abenteuerspielplätzen stehen. Im Laufe des Lebens wird die zugige Hütte dann mit Beton ausgegossen und im fortgeschrittenen Alter hat mancher eine Gesinnungs-Burg errichtet, die gegen Attacken von Fakten rundum geschützt ist.

Politik funktioniert ganz ähnlich. Wer an der Macht bleiben will, muss in erster Linie durchhalten. Die Energiewende wird so unbeirrbar durchgezogen wie einst der Ausbau der Atomenergie. Oder die EU-Agrarpolitik, die erst dann neu justiert wurde, als nichts mehr ging. Kapitulation niemals!

Den Führungskräften tut das Beharren nicht gut, erklärt die Max Grundig Klinik. 81 Prozent der Durchhalter leiden an Schlafstörungen. In Chefetagen finden sich dreieinhalbmal so viele psychisch kranke Menschen wie im Durchschnitt der Bevölkerung, wie Wissenschaftler der Universität of British Columbia in Hunderten Interviews herausgefunden haben. Bestimmte Formen des Irrsinns, so schließen die Forscher, fördern den beruflichen Erfolg. Seit Freud wissen wir, dass der Neurotiker seine Neurose mit aller Kraft verteidigt. Wer gesund bleiben will, sollte öfter mal kapitulieren. Das hält jung, ist aber nicht Karriere förderlich.

Erschienen in DIE WELT am 01.08.2014

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Heinz Grube / 02.08.2014

Und was hat das mit den Palästinensern zu tun?

Andreas Gerlach / 02.08.2014

Danke für den Kommentar. Ich kann mich erinnern, vor ca. zwei Jahren bei SPON geschrieben zu haben, typisch deutsch sei es, bis zum bitteren Ende durchzuhalten, was natürlich die Wörter Endsieg und Endlösung bestens zum Ausdruck bringen und zugleich die pervertiertesten Auswüchse “deutschen Idealismus” zum Ausdruck bringt. Natürlich wurde das nicht veröffentlicht. War wohl zu hoch und wegen der Reizwörter galt es wohl als Verharmlosung der Verbrechen des Dritten Reiches. Und in vielen kleinen politischen Projekten kommt es immer wieder zum Tragen, ob Energiewende, EEG, Atomausstieg, Dosenpfand, duales System etc. pp. Ein Schritt zurück ist unmöglich. Jeder weiß, dass die Bismarkschen Sozialsysteme nicht mehr funktionieren, aber wehe, jemand rüttelt daran. Die Politik hat ja schon Probleme, das durch Hartz IV obsolet gewordene Wohngeld abzuschaffen.

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