Alexander Wendt / 29.01.2016 / 17:55 / 6 / Seite ausdrucken

Freie Fahrt nach Passau

Der New Yorker Autor Tuvia Tenenbom ist vermutlich der beste modern Ethnologe der Welt. In seinen Büchern “Allein unter Deutschen” und “Allein unter Juden” (demnächst: “Allein unter Amerikanern”) nimmt er einfach alles in sich auf, was er sieht und hört, scheinbar naiv wie eine Grimmelshausen-Figur, um die einzelnen Teile dann zu einem erstaunlich luziden Bild zusammenzufügen. Kürzlich reisten er und seine Frau Isi Tenenbom wieder einmal durch Österreich und Deutschland. Isi, ebenfalls eine Ethnologin der reinen Beobachtung,  schickte mir folgenden kleinen Text:
 

Im ICE nach Österreich
Ich stand im Zug Richtung Österreich neben zwei Irakern. Der eine besaß eine Fahrkarte, der andere nicht. Der Iraker ohne Fahrschein schwor, er hätte eine gehabt, ihm ware aber leider alles abhanden gekommen, auch das Ticket. Außerdem hätte er kein Geld für sowas, er erhalte doch nur 114 Euro im Monat, die Karte wäre zu teuer. Die Schaffnerin bestand trotzdemauf einer Fahrkarte und fragte ihn nach seinem Ausweis. Da er keinen vorweisen konnte, gab er an, bei seinem Bruder, dem zweiten Iraker zu wohnen. Auf die Frage nach dessen Wohnadresse, sprich Zustelladdresse für die Fahrkartenrechnung, war er plötzlich nicht mehr sein Bruder.

Nach einem ewigen Hin und Her, zu dem sich dann auch noch der Zugführer und ein Polizist gesellten, übergab er einen Zettel mit einem Namen, und die Schaffnerin händigte ihm die Rechnung aus.
Er solle sie zu einem späteren Zeitpunkt bezahlen.

Er nahm die Rechnung, schüttelte den Kopf, grinste und zerknüllte sie verächtlich vor aller Augen.

Danach schimpfte er auf Deutschland, dass er dieses Land nicht möge und nur gekommen sei, weil zwei seiner Kinder hier wohnten.

Als ich die Bahnbediensteten darauf ansprach, entschuldigten sie sich bei mir wegen des Vorfalls – sie täten doch nur ihre Pflicht, ich sollte nur warten bis wir Passau erreichten, was da alles los wäre.

Als ich ein Foto des Spektakels schoß und weitere Fragen stellte, wurde ich belehrt, dass die Deutsche Bahn eine AG sei, ich mich auf private Boden befände und kein Recht hätte sie bei ihrer Arbeit zu fotografieren.

Unter Aufsicht der Polizei musste ich mein Foto löschen. Danach wurden meine Personalien aufgenommen, für den Fall, dass ich irgendetwas über das Geschehenen veröffentlichen wollte und heimlich schon ein Bild in der Cloud gelagert haben sollte.

Die beiden Iraker stiegen unbehelligt aus.

Siehe auch: http://www.welt.de/politik/deutschland/article120852781/Die-Dame-von-der-Bahn-verweigert-die-Bedienung.html

 

 

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Leserpost

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Peter Minar / 31.01.2016

Eine bezeichnende Geschichte, die so ähnlich tagtäglich dutzendfach geschieht. Wirklich bemerkenswert daran ist, dass sich kaum jemand daran stört. Dass wieder alle wegschauen. Dass, wenn heute gewählt würde, 9 von 10 wieder jene Parteien wählen würden, die die Angestellten von der Bahn, Polizei etc. zu einem derartig absurden Verhalten nötigen.

Melanie Melitta / 30.01.2016

Gut beobachtet und geschrieben aber eine traurige Tatsache. Bitte mehr von diesen Erlebnisberichten.

Bastian Leibold / 30.01.2016

Personalien aufnehmen “für den Fall, daß” - ist das nicht schlichtweg illegal?

Karsten Gränzer / 30.01.2016

Ähnliches habe ich auch erlebt. 30.12.2015 gegen 17:00Uhr in der S-Bahn S3 von Erkner nach Berlin Ostkreuz fand eine Kontrolle der Fahrausweise statt. In einem Abteil saßen 4 Araber, von denen einer keinen Fahrschein hatte. Der Kontrolleur versuchte, ihm verständlich zu machen, was er denn wolle. Das wiederum wollte der Araber nicht verstehen. Begriffen hatte er es schon. Schlussendlich blieb es bei der Aufforderung des Kontrolleurs, der Fahrgast möge doch am nächsten Bahnhof eine Fahrkarte nachlösen. Zwei Abteile weiter wurden zwei deutsche Mädchen, ca. 15 Jahre alt, kontrolliert, von denen ebenfals eine keinen Fahrausweis hatte. Hier schlug der Kontrolleur, dann mit der ganzen Härte der Vorschriften zu - Strafzahlung, Nachzahlung des Fahrpreises und Aufnahme der Personalien. Und wieder wurde mit zweierlei Maß gemessen!! Nachfragen zu seinem Verhalten konnte ich ihm nicht mehr stellen, den der Zug hielt in diesem Moment und der Kontrolleur verschwand sofort in der Menschenmenge.

Theodor Bicking / 29.01.2016

Etwas Ähnliches spielt sich seit vielen Jahren regelmäßig ab in deutschen Bahnen. Nur haben wir bisher auch selber weg geschaut. Hat ja Tradition bei uns.

Wolfgang Richter / 29.01.2016

Da kann man lernen, wenn man es noch nicht weiß, wie in dieser merkelinisch neu gestalteten Republik die Prioritäten gesetzt werden. Ein Standortdeutscher wird für alles u. jedes zur Kasse gebeten; bei einem ausweislosen Zugewan-derten, dessen Identität nicht feststeht, ist es unverhältnismäßig, diesen zur Feststellung der selben oder überhaupt Festlegung seiner Person anhand der Fingerabdrücke diese Identitätsfeststellung durchzuführen. Und dann wundert sich noch jemand, daß Deutschland im Ausland nur noch als Lachnummer wahrgenommen wird. Dies gilt um so mehr bei den zuwandernden Fachkräften, vor allem nach derartigen Erfahrungen. Rechtsstaat geht nach meinem Rechts-verständnis jedoch ziemlich anders.

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