Am letzten Nachmittag des alten Jahres kauf ich ein bißchen Hummus und Pita, Bagel und Lox fürs Neujahrsfrühstück ein. Der Verkehr ist fließend, aber stockend—anscheinend hat jeder noch eine Kleinigkeit zu erledigen, bevor für 2006 die Klappe fällt. An einer Ampel hupt jemand mehrfach, direkt rechts neben mir. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie man mir winkt. Ein Bekannter vielleicht? Jetzt gucke ich voll rüber und höre aus dem offenen Fenster wahnsinnig lauten Hip-hop dröhnen, zu dem der Fahrer wie bekloppt in seinem Sitz auf und ab hüpft, von keinem Sitzgurt gefesselt. Es ist ein junger Bursche, Latino vielleicht, neben ihm eine übertrieben geschminkte, nicht besonders schlanke junge Schönheit in engem Kleid, wahrscheinlich ebenfalls Latino, und hinten im hellbraunen Auto sitzt noch ein Pärchen—die sind mit Sicherheit Latino. Er grinst breit und zeigt auf meinen Wagen. Geht etwa einem meiner Reifen die Luft aus? Oder ist das ein Trick, um mich irgendwie reinzulegen? Ich denke kurz an meine 9mm-Glock unter dem Fahrersitz, die ich in Sekundenbruchteilen hervorzaubern könnte. Der Mann streckt seinen linken Daumen hoch aus dem Fenster, dann macht er eine Kurbelbewegung: Ich soll mal das Fenster aufmachen. Naja, die Türen sind sowieso automatisch verschlossen, also gucke ich schnell auf die Ampel etwa sechs Wagenlängen vor mir, sie ist immer noch rot, und drücke auf den Knopf fürs rechte vordere Seitenfenster. Er lehnt sich mir entgegen und brüllt irgendwas. Ich kann über dem Lärm seines auf volle Pulle laufenden Hip-hop kein Wort verstehen, aber der Akzent ist einwandfrei mexikanisch, oder sonstwie mittelamerikanisch, also spanisch. Verdammt, was will der Typ von mir? Reflexiv will ich eigentlich wieder auf den Knopf drücken und das Fenster zumachen, die Ampel wird ja ohnehin gleich auf grün springen. Stattdessen lege ich zu meiner Überraschung meine rechte Hand ans Ohr. Er lacht und dreht an seinem Radio, bis sein Hip-hop, in dem ich nun spanische Worte ausmachen kann, dem Gebrause der Verkehrskreuzung Platz einräumt in der Kakophonie. Er pumpt seine linke Faust erneut aus dem Fenster, den Daumen steil nach oben. “Heh man”, ruft er in seinem vielleicht guatemalischen, auf jeden Fall jedoch spanisch getönten Akzent, “Lincoln car, good choice! My car is Lincoln too!” Er öffnet die Faust, reicht hoch hinauf und haut mit seiner Pfote mehrmals aufs Dach seines ältlichen Town Car—ein “full size luxury” Modell, das eigentlich eher zu gutbetuchten Pensionären paßt. “Just bought it! Great car! Great car! Happy New Year!” Er dreht seinen Hip-hop wieder auf und lehnt lässig den Arm über den Fensterrahmen. Die Ampel zeigt endlich grün, der Verkehr setzt sich in Bewegung. Ich seh’s ihm an, am liebsten möchte er vor Freude losrasen, aber es geht nicht, wir sind alle eingekeilt in vier Spuren langsam losstotternder Schlangen. Er kann nichtmal den Motor durch die Drehzahlen hochjagen, das funktioniert bei Automatik nicht, wenn er nicht dem Vordermann draufknallen will. Die vier winken mir fröhlich zu. “Happy New Year!” rufe auch ich, obwohl sie das nicht mehr hören können. Ob sie legal hier sind? Wahrscheinlicher ist es, daß sie zu den trotz der großen immigrationsfeindlichen Töne mancher Politiker und gelegentlicher Polizeirazzien geduldeten Millionen gehören, die der Armut ihrer Heimat entkommen sind und sich mit harter Arbeit den Traum vom besseren Leben erfüllen möchten. Der ältliche, aber gepflegte Lincoln ist der Grundstock ihrer Hoffnung, eines neuen Selbstbewußtseins und eines Stolzes, auf dem besten Weg zu sein: dem Weg vom Mittelamerikaner zum “real American”. Sie rufen es laut in die Welt, und jeder andere, der auch einen Lincoln fährt, egal welches Modell, ist nun ihr Companero. Doch, das neue Jahr fängt gut an; ich hätte dem jungen Mexikaner oder Nicaraguaner oder Guatemalen jedoch gerne geraten, sich von nun an anzuschnallen…