Von Klaus D. Leciejewski
Als junger habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Humboldt-Universität in Ost-Berlin wurde ich einmal beauftragt, vor Mitarbeitern der Staatlichen Plankommission eine Serie von Vorträgen über Entwicklungen in der westlichen Volkswirtschaftslehre zu halten. Mein erster Vortrag beschäftigte sich mit den theoretischen Grundlagen der jährlichen Berichte der „Fünf Weisen“. An seinem Ende stellte ich meinen Zuhörern die folgende Frage:
„Jedes Jahr werden durch Sie die Planungsresultate eines Jahres mit den früheren Planungsvorgaben verglichen. Welche Schlussfolgerungen für Korrekturen ziehen Sie daraus für die nächsten Planungsansätze?“ Schweigen bei den Zuhörern! Danach nahm mich der Abteilungsleiter beiseite, der mich eingeladen hatte: „Klaus, Du bist Gast hier, aber niemand darf uns derartige Fragen stellen. Die Beschlüsse der Parteiführung sind nicht hinterfragbar und sie werden auch nicht korrigiert.“
Ich war kein Praktiker in der DDR, sondern – abgesehen von meinem individuellen Leben – ein reiner Theoretiker, und deshalb in manchen politischen Fragen etwas naiv. Aber vielleicht gehört ein wenig Naivität dazu, um sich zuerst im Kopf mit unbequemen Fragen zu beschäftigen und diese danach auch in die Welt hinein zu stellen. Im vereinten Deutschland sollte eine Einstellung, wie ich sie in der DDR erlebt hatte, selbstverständlich zur Vergangenheit gehören. Unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem lebt vom öffentlichen Stellen unbequemer Fragen und der darauffolgenden Auseinandersetzung mit ihnen.
Zeitumstellung nach der Zeitreise
Eine unbequeme Frage lautet: Gibt es Zustände und Regeln in unserem Land, die zwar hinterfragt werden können, aber die Fragen dazu ohne Konsequenzen bleiben? Letztendlich geht es um die Frage, wieweit unsere Gesellschaft noch veränderungsfähig ist.
Dazu ein auf den ersten Blick reichlich belangloses Beispiel. Es ist wissenschaftlich und ökonomisch völlig unbenommen, dass die jährlich zweimalige Zeitumstellung weitgehend wirkungslos ist. Nach aller bisherigen Erfahrung ist sie eine unsinnige Maßnahme. Das bestreiten Regierungsverantwortliche auch gar nicht, verweisen aber auf die Schwierigkeit einer einheitlichen europäischen Regelung. Im Klartext heißt dies nichts anderes, dass schon bei einem banalen Problem die deutsche Regierung unfähig ist, einen gemeinsamen europäischen Beschluss über dessen Lösung zu erreichen. Aber gleichzeitig verkündet sie, dass Europa auf ein neues Fundament gestellt werden muss. Was wird dies für ein Fundament sein, wenn es aus zahlreichen Löchern bestehen wird? Mein praktischer Vorschlag: Die Uhren im Bundestag am Tag der Umstellung so schnell laufen zu lassen, dass in diesem einen Tag ein halbes Jahr vergeht!
Lebenslänglich an der Mautstelle
Außer den Herren Seehofer und Dobrindt findet sich in unserem Land niemand, der in der Pkw-Maut ein Zukunftsprojekt sieht. Allerdings war dies schon immer so. Trotzdem wurde massenhaft Geld in diese fixe Idee gesteckt, die ausschließlich zur politischen Profilierung der beiden obigen Herren dienen sollte. Und das Resultat? Lächerlichkeit, Blamage, Ansehensverlust! Irgendetwas scheinen die beiden Herren von der Chaos-Theorie zwar gehört, aber wohl nicht so richtig verstanden zu haben. Warum lässt Herr Kauder in der Unionsfraktion nicht eine offene Abstimmung über die Pkw-Maut durchführen, um gegenüber den beiden Herren Klarheit zu schaffen, und ihren Wählern eine Orientierungsbasis zu ermöglichen? Mein praktischer Vorschlag: Vor der Straße zum bayrischen Parlament eine Mautstelle einrichten mit den beiden Herren als Kassierer, aber bitte lebenslang!
Einkommenssteuer für die Ewigkeit
Jahrzehntelang wird über eine Reform der Einkommensbesteuerung diskutiert. Keine Koalition hatte die Kraft aufgebracht, eine solche konkret auf den Weg zu bringen. Der Hinweis auf die damit verbundenen Schwierigkeiten weist nur auf die vorhandene Unfähigkeit der Spitzenpolitiker hin. Waren nicht auch die Veränderungen im System der Arbeitsförderung durch Schröder 16 Jahre lang von Kohl als undurchführbar behauptet worden? Kohl meinte, eine solche Reform nicht für den Erhalt seiner Macht zu benötigen. Schröder sah dies anders, im Gegensatz zu großen Teilen seiner Partei, denn ohne diese Reformen hätte die SPD die nächste Wahl noch viel krachender verloren, was die übernächste bewies. Wird eine solche Reform erst innerhalb einer tiefen Wirtschaftskrise angepackt werden? Mein praktischer Vorschlag: Allen Bundestagsabgeordneten ein Jahr lang ausschließlich ein normal besteuertes Gehalt kurz über der ominösen Grenze zu zahlen!
Wohlhabende Armutsforscher
Jahr für Jahr legt die Bundesregierung einen Armutsbericht vor. Es ist wissenschaftlich unbestritten, dass seine statistischen Aussagen rein gar nichts mit Armut zu tun haben. Selbst die Charakterisierung als „Armutsgefährdung“ ist nicht weiter als eine Anbiederung an die Regierung. Armut ist nicht definierbar. Sämtliche Versuche damit produzieren nur Ungereimtheiten, im Vergleich zu etlichen unserer Nachbarn sogar peinliche. Selbst verquaste Hinweise auf die Nichtmöglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe sind purer Nonsens, denn wo müssen Hartz 4 - Empfänger einen Mitgliedsbeitrag im lokalen Fußballverein bezahlen oder für die Benutzung öffentliche Transportmittel? Zudem haben wir in Deutschland zahlreiche Menschengruppen, die sich ganz bewusst mit nur innerhalb eines einzigen Gesellschaftsbereiches betätigen. Warum also wird dieser Bericht nicht abgeschafft, wenn er doch außer Kosten nur jährlichen Mediennachrichten produziert?
Die Antwort darauf ist die Gleiche wie bei der Einkommenssteuer. Die Spitzenpolitiker sind zu schwache Persönlichkeiten, um das Interesse des Landes gegen vielfältige Interessengruppen durchzusetzen. Noch ein Apercu dafür: Bei der letzten Bundespräsidentenwahl hatte „Die Linke“ einen sogenannten „Armutsforscher“ als Kandidaten aufgestellt, der als ein lebenslang vom Staat ordentlich besoldeter Professor kein armer Mensch ist. Warum hatten die FDP oder auch die AfD diesem Scharlatan nicht einen „Reichtumsforscher“ entgegengestellt? Mein praktischer Vorschlag: Alle Journalisten, die diesem Bericht Publizität verschaffen, müssen verpflichtet werden, einen Monat lang darüber täglich einen anders formulierten Artikel zu schreiben!
Gedankenlose Begriffskonjunktur
In unserem Land gibt es stets eine Konjunktur. Das ist die Konjunktur von völlig inhaltslosen Begriffen. Das herausragende Beispiel dafür ist die sogenannte „soziale Sicherheit“. Ich habe einmal während der Diskussion über einen Vortrag in Köln des damaligen saarländischen Ministerpräsidenten und heutigen Verfassungsrichter Peter Müller, nachdem er diesen Begriff in seinem Vortrag mehrfach verwendet hatte, die Frage gestellt, ob er mir beantworten könne, wie er soziale Sicherheit definiert. Lapidar antwortete er mir, dass er dies nicht könne, um wenige Minuten danach in der Antwort auf eine andere Frage diesen Begriff wie selbstverständlich erneut zu verwenden. Geht es noch perfider? Mein praktischer Vorschlag: Jedes Jahr denjenigen Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten, der am häufigsten diesen Begriff benutzt hatte, automatisch zum Kölner Karnevalsprinzen zu machen!
Retten mit Schulden
Die sogenannte Griechenlandrettung hatte zwar einige Auswirkungen auf das Haushaltsverhalten der griechischen Regierung und ebenso auf Strukturen der staatlichen Organisation, aber insgesamt verlängerte sie die wirtschaftliche Agonie des Landes. Deshalb stimmten auch erhebliche Teile der Regierungspartei von Frau Merkel dagegen, wenn dies auch nicht die Mehrheit war, stimmten die meisten Unionsabgeordneten nur aus opportunistischen Motiven dafür. In ihren Wahlkreisen gebrauchten sie hingegen eine andere Sprache. Nur die Linken in der SPD und Linkspartei sowie die Grünen waren im Parlament fast einheitlich dafür. Allerdings konnten sich auch deren Finanzexperten nicht der Einsicht des Scheiterns dieser Politik entziehen, aber sie konnten sich nicht gegen die überwältigende Mehrheit ihrer Partei durchsetzen, da diese ein anderes Staatsverständnis vertritt, nach der eine permanente Erhöhung der Schulden der sozialen Wohlfahrt dient.
Damit begann im Bundestag eine neue Epoche. Noch niemals zuvor hatte ein Regierungschef gegen die Mehrheit der eigenen Partei regiert. Welche Konsequenzen für unser Land werden sich aus der Unfähigkeit zur Korrektur der eigenen Fehler ergeben? Mein Vorschlag: Sämtliche Abgeordnete, die für die Fortführung der Kredite an Griechenland gestimmt haben, sollten ihre Diäten, Übergangsgelder und späteren Ruhestandsgehälter vollumfänglich für die Tilgung der uneinbringbaren Kredite einsetzen, denn sie sind für den Schaden am deutschen Volk verantwortlich!
Im Sprachgebrauch von Publizisten und Politikern ist der banale Ausdruck „Ein Stück von …“ weit verbreitet. In diesem Sinne haben wir in der Bundesrepublik inzwischen „ein Stück von der DDR“ erreicht. Wie wird es mit unserem Land weitergehen?
Klaus D. Leciejewski hat an verschiedenen deutschen Hochschulen Wirtschaft gelehrt, ist Autor mehrerer Sachbücher und Publizist. Er ist mit einer Kubanerin verheiratet und lebt einen großen Teil des Jahres auf Kuba.