Bernhard Lassahn / 08.08.2016 / 16:20 / 2 / Seite ausdrucken

Exegese eines Liedes: Dieses Mehr, Mehr, Mehr stimmt nicht

Lieber Dirk, bei der Lektüre deines Textes „Das Märchen mit den drei Planeten: Heute ist Welt-Misanthropen-Tag“ hat mich besonders gefreut, dass zum Schluss noch ein Lied erklingt. Ich bin schließlich bekennender Liedermacher und erlaube mir eine selbst gemachte (Liedermacher machen bekanntlich alles selber) Übersetzung des berühmten Liedes beizulegen, das eigentlich aus zwei Liedern besteht: aus 'Over The Rainbow' und 'Wonderful World' von Israel Kamakawiwoʻole, dem sanften Riesen (das sind die, die im Flugzeug nicht auf die Toilette passen).

In beiden Liedern ist der Regenbogen das zentrale Motiv - er ist hier allerdings nicht als Symbol für sexuelle Vielfalt gemeint, sondern als Zeichen für die Schönheit und den besonderen Glanz der Welt. Du zitierst das Original von Armstrong, das zwei interessante Unterschiede enthält (kurz: beim sanften Riesen kommt die bemerkenswerte Zeile vor "I like the dark", die es so bei Armstrong nicht gibt und bei der Frage um das zukünftige Wissen heißt es bei Armstrong "ich", so wie zitiert, und beim Riesen "wir").

Das ist auch genau die Stelle, zu der ich eine Kritik anbringen will - oder sagen wir mal: einen Kommentar. Die Kritik kommt nicht von mir, sondern von meinem Vater, also aus der vorhergehenden Generation. Er sieht das anders. Zunächst das Lied in voller Länge, das du gerne locker überfliegen kannst, ich habe mich bemüht, die Leichtigkeit einzufangen, so dass es eben nicht "bemüht" wirkt. Daher auch – zur Auflockerung – ein bisschen Uh, hu, hu.

Hier meine oben erwähnte Übersetzung:

Mein blauer Vogel

Über Dächer und Wolken

hoch im Wind,

wo die Träume der Menschen

noch längst nicht verflogen sind-i-ind. Uh, hu, hu – oh!

Wo auch mein blauer Vogel

heimlich fliegt und

all die Kümmernis hier

in ganz weiter Entfernung liegt-ie-iegt, uh, hu, hu!

Selbst wenn ich gar nicht fliegen kann,

glaube ich noch immer an

das leichte Le-e-ben!

Hoch über jedem Streit und Kampf,

über Qualm und Pulverdampf,

da will ich schwe-e-ben. Hoch

über Dächer und Wolken

hoch im Wind,

wo die Aussichten sehr, sehr viel

schöner und klarer sind-i-ind, ei-ei-ei:

Ich seh’ Blumen am Weg

und erkenne sogar,

wie sie blühen, so als wären

sie nur für uns da,

und dann denk ich mir so:

              Gar nicht schlecht, diese Welt!

Die Wolken so weiß

oder Brieftauben-grau.

Doch ich weiß nicht genau,

ob nicht die Nacht

mir noch besser gefällt:

              Gar nicht schlecht, diese Welt.

Wo Regenbogenfarben

im Abendsonnenlicht

Spiegelbilder haben

im menschlichen Gesicht.

Wo ein Paar sich umarmt,

und sie flüstern sich zu:

- was man sonst im Film kennt -

„I, ... I love you.“

Und die Kinder brüllen,

so als würden sich nie

ihre Wünsche erfüllen,

und doch werden sie

viel mehr wissen, als man

sich jetzt vorstellen kann. A-a-a!

Selbst wenn ich gar nicht fliegen kann,

glaub ich noch immer an

das leichte Le-e-ben!

Hoch über jedem Streit und Kampf,

über Qualm und Pulverdampf,

da werd ich schwe-e-ben.

Über Dächer und Wolken

hoch im Wind,

wo die Träume vom Glück

noch ohne Erfüllung sind.

Bei mir kommt also an der kritischen Stelle weder "ich" noch "wir", sondern "man". Was ist nun der Einwand von meinem Vater (der nicht nur der älteren Generation angehört, sondern sich auch obendrein mit dem Wissen der Generationen vor ihm gut auskennt und weiß, welche Fremdsprachen Rousseau im Alter von zehn Jahren beherrschte - solche Dinge halt. Er meint: Die schreienden Kleinkinder der zukünftigen Generation werden nicht "mehr" wissen, sondern "etwas anderes". Aha. Hat sich hier also der (zu) einfache Wachstums- und Fortschrittsgedanke auch auf das Nicht-Materielle übertragen - die Vorstellung von einem Mehr-Mehr-Mehr, bis wir platzen? So schön das Lied ist ... dieses Mehr, Mehr, Mehr stimmt nicht.

La, la, la:
Dein Bernhard

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Leserpost

netiquette:

Caroline Neufert / 08.08.2016

Schönes Lied, obwohl ich nur traurige Erinnerungen daran habe, Ansonsten nett ... - und sie werden sogar weniger wissen ;-)

Alexander May / 08.08.2016

Bei aller Liebe handelt es hierbei doch nur um eine semantische Spitzfindigkeit. Möglich, dass das zukünftige Individuum nicht wirklich ein quantitatives mehr an Wissen hat, wobei das keineswegs sicher ist. Man muss dabei noch nichtmal bis zum Transhumanismus und möglichen technologischen Erweiterungen für das Gehirn gehen. Allein die Tatsache, dass immer mehr Wissen zur Verfügung steht und gelernt werden kann, kann im Schnitt durchaus auch zu einem Mehr an Wissen beim Individuum führen. Und selbst wenn nicht, dann packe ich einfach meine eigene semantische Spitzfindigkeit aus und sage, dass im Lied nur davon die Rede ist, dass mehr gelernt wird, nicht dass mehr als Wissen hängenbleibt. Aber darüber hinaus geht es ja im Kontext auch gar nicht um das Wissen der zukünftigen Individuen, sondern der zukünftigen Generationen welches in seiner Gesamtheit solange steigt wie es keine größeren Katastrophen à la Meteoriteneinschlag oder nuklearem Weltkrieg gibt. Und in dem Zusammenhang haben dann auch die Individuen zumindest qualitativ mehr Wissen. Der alte Schamane wusste vielleicht die komplexen Schritte und Gesänge des Regentanzes, wenn der Ingenieur heute stattdessen aber weiß wie man Bewässerungssysteme konstruiert, dann hat er schlicht mehr qualitatives Wissen welches ihm und der Menschheit zugute kommt.

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