Gerd Held / 22.06.2015 / 06:30 / 3 / Seite ausdrucken

Europas Angst und Hochmut (Das Griechenland-Abenteuer, Teil 2)

Man kann in der Griechenland-Affäre nach Tätern und Opfern suchen, doch verkennt diese Sichtweise, wie sehr Hauptakteure auf beiden Seiten miteinander verstrickt sind. Obwohl die Ergebnisse der griechischen Mitgliedschaft im Euro-System katastrophal sind, obwohl in Griechenland eine Regierung an die Macht gelangt ist, die alle Verträge für null und nichtig ansieht, ist man immer noch dabei, einen „Kompromiss“ zu suchen. Einen Kompromiss! Zwischen was denn? Hier sind nicht zu starke Akteure am Werk, sondern zu schwache. Nichts wird wirklich entschieden, nichts wird dauerhaft aufgestellt. Es ist ein großes Schlittern.

Hans-Werner Sinn (IFO-Institut) hat vorgerechnet, dass in den letzten 5 Jahren die Schulden Griechenlands, trotz Schuldenschnitts seitens der privaten Gläubiger und trotz stark verringerter Zinsen, von 48 Mrd. auf 330 Mrd. gestiegen sind. Zugleich hat sich die Arbeitslosenrate von 11% auf 26% erhöht. Nun soll es weitergehen, sogar mit noch höheren Defiziten und noch höherer Fremdfinanzierung – da liegt der neue Korridor der Einigung, das wird nun „Kompromiss“ genannt. Wer glaubt im Ernst daran, dass auf dieser fortgesetzten Talfahrt auf einmal ein Wachstumspfad gefunden wird? Niemand. Keiner der Akteure teilt mit, wo er liegen könnte. Es wird auch gar nicht ernsthaft gesucht. Vielmehr findet eine ganz andere Wendung statt. Man spricht von Vertrauen und Vertrauensverlust, eine Psychologisierung politischer und wirtschaftlicher Fragen findet statt. Griechenland soll – mit Euros natürlich – motiviert werden. Und umgekehrt soll auch Europa durch kein „negatives Signal“ beunruhigt werden. Man macht Europa zum Sensibelchen, das um jeden Preis bei Stimmung gehalten werden müssen.

Es ist ein Pfeifen im dunklen Walde. Auch wenn sich die sogenannten „überzeugten Europäer“ mächtig in die Brust werfen, ist etwas ganz Anderes deutlich hörbar – eine tiefe Angst. Man beschwört die „unabsehbaren Folgen“ eines Grexit. Gerade in diesen Tagen, wo so vieles für diesen Schritt spricht, wird deutlich, in welchem Maße der Umgang mit Griechenland im Schatten eines höheren Dogmas steht: dem Dogma, dass es „undenkbar“ sei, dass aus der Währungsunion ein Mitglied ausscheidet. Hier regiert eine Sprache der großen Metaphern. Da spricht der deutsche Vizekanzler vom „Stein, der aus dem europäischen Haus herausgebrochen würde“ und dadurch Europa „in einen anderen Aggregatzustand“ versetzt würde. Bei der Kanzlerin heißt es „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“. Ja, ja, und wenn solche Dogmen zur Macht gelangen, scheitert der demokratische Staat - weil es nichts mehr zu entscheiden gibt. Der Leitartikler der FAZ (Klaus-Dieter Frankenberger, 16.Juni) metaphert schon ahnungsvoll mit: „Wenn das europäische Gewebe ausfranst, wer weiß, was sich noch alles löst? Wer weiß, welche Kräfte sich diesen Erosionsprozess zunutze machen?“ Wer weiß, wer weiß… Überall lauern finstere Kräfte im wabernden Nebelwald. Und wer fällt uns da ein? Na klar, die Russen. „Diese Furcht“, schreibt Frankenberger über das Grexit-Gespenst, „ist heute vielleicht noch größer, da zur Schuldenkrise ein geopolitischer Großkonflikt in Europa hinzugekommen ist, die Ukraine/Russland-Krise“. 

Da steht es: Es geht um Furcht. Der europäische Zusammenhalt wird mit dem Hinweis auf Bedrohungen beschworen. Es ist eine gemeinschaftliche Angst, die die europäischen Akteure im Fall Griechenland umtreibt. Das „Immer-enger-vereint“ ist zu einem „In-Angst-vereint“ geworden.

Nun könnte man einwenden, dass im Fall Griechenland tatsächlich eine besondere Notlage gegeben sei. Ein Ausnahmezustand sozusagen, der alle Sicherungen der normalen Vernunft außer Kraft setzt. Das ist hier nicht der Fall. Über Hellas ist keine Katastrophe hereingebrochen, kein Erdbeben, kein Krieg. Es geht um Versorgungsansprüche – und zwar auf einem beträchtlichen Niveau, wenn es man es mit den osteuropäischen Mitgliedern der EU vergleicht, oder – im Fall der IWF-Kredite – mit den Problemländern im Weltmaßstab. Die Rolle des IWF ist besonders delikat. Eigentlich hätte der IWF nur Kredite in Höhe von 600% der griechischen Anteile am Fonds vergeben dürfen. Aber nach Griechenland hat er viel mehr überwiesen. Von der Gesamtsumme der IWF-Kredite sind gegenwärtig zwei Drittel an drei Länder vergeben: an Griechenland, an Portugal und an die Ukraine. Die Risiken tragen dabei auch Einzahler-Länder wie Indien (vgl. Winand von Petersdorff in der FAZ vom 11.Juni). Das ist eine völlig unhaltbare, für Griechenland und Europa beschämende Schieflage.

Es geht also nicht um Not, sondern um Ansprüche. Und zwar um ein gehobenes europäisches Anspruchsmaß an Einkommen, Versorgung und Sicherheit. Mit dieser Anspruchshöhe wird wiederum der Einfluss des „Modells Europa“ verbunden. Es geht also nicht um die Existenz Europas, sondern um eine mehr oder weniger große Einflusssphäre. Erst in diesem Zusammenhang bekommt das „kleine Griechenland“ auf einmal eine strategisch-große Bedeutung. Es verkörpert europäische Geltungsansprüche. Die europäische Angst ist nicht die Angst vor einer absoluten, existenzbedrohenden Not und Gefahr, sondern die Angst vor einem Geltungsverlust. Eine Angst auf hohem Niveau. Eine Angst im Streben nach Einfluss auf Andere, nach der Rolle eines weltpolitischen Attraktors, nach einer wirtschaftlichen Unumgehbarkeit. Es ist eine Angst, die auf ein beträchtliches Maß an Hochmut gebaut ist.

Auch Griechenland spielt seine Rolle in diesem Angst-Hochmut-Syndrom. Es ist Trittbrettfahrer dieses Syndroms. Auf dieser Geschäftsgrundlage kann es über seine Verhältnisse leben. Sein politisches Kalkül setzt darauf, als eine Art „Grenzstein“ die Größe des europäischen Hauses zu markieren – und deshalb unverzichtbar zu sein. Fällt Griechenland aus dem Euro, ist Europa irgendwie kleiner und das hält es nicht aus – Tsipras und Co. haben ihren Hebelpunkt jener Mischung von Angst und Hochmut gefunden, die in Europa regiert. 

Ist es falsch und böse, dass Europa Geltungsansprüche hat? Gewiss nicht. Es ist nicht falsch, dass die Europäische Union sich erweitert (durch neue Mitglieder, durch Nachbarschafts-Partnerschaften). Es ist auch nicht falsch, dass sie für sich ein gehobenes politisches und wirtschaftliches Niveau festlegt, die über dem Weltdurchschnitt liegen (durch geforderte Normen und durch Förderungen bei ihrer Erfüllung). Aber alles ist eine Frage des Maßes. Hier gibt es ein klassisches Problem aller staatlichen Gebilde: die Überdehnung. Wird die Erweiterung zu weit getrieben oder wird das Anspruchsniveau zu stark erhöht, dann droht ein Zusammenbruch des ganzen Systems. Wenn einzelne Bruchstellen eine dieser Überdehnungen signalisieren, kommt es darauf an, dass man die Kraft hat, an einer solchen Stelle den Rückzug anzutreten (einen Rückbau zu veranlassen). Deshalb ist es auch so wichtig, schon in den Grundlagen staatlicher Gebilde (Verfassung oder zwischenstaatlicher Vertrag) überhaupt Rückbau-Möglichkeiten und Ausstiegs-Mechanismen vorzusehen. In militärischen Dingen gilt der Grundsatz, dass man keinen Krieg – und würde er aus noch so edlem Motiv geführt – eingehen soll, ohne die Tür zu kennen, durch die man wieder aus ihm herauskommt. Das gilt auch für jedes größere finanzielle Engagement, das den Haushalt eines Staates in Beschlag nimmt. Geschieht das nicht, muss man von Hochmut sprechen. Und es droht das Angst-Hochmut-Syndrom, von dem hier die Rede ist. 

Vieles, was wir gegenwärtig in Europa beobachten und erleben, erinnert an dies Szenario: nicht nur die endlose Griechenland-Affäre, sondern auch der sich immer noch steigernde Mitteleinsatz in der Schuldenkrise, insbesondere seitens der EZB; der Umgang mit den Krisen arabischer Länder und der Ukraine, bei dem sie forsche Töne und hohe Ansprüche („nation building“) mit erstaunlicher Hilflosigkeit mischen; die Festlegung eines Billionen-Jahrhundert-Programms für den ganzen Erdball im Klimaschutz und die Unfähigkeit, auch nur ein etwas vertieftes Handelsabkommen mit den USA hinzubekommen. Die höchsten moralischen Ansprachen angesichts der Migrationswelle und gleichzeitig die Angststarre angesichts des Bruchs des Schengen-Abkommens. Und wir müssen auch feststellen, dass in wesentlichen europäischen Verträgen keinerlei Mechanismen des Austritts, des Ausschlusses oder des Rückbaus festgelegt wurden. Europa ist institutionell gefangen in einer Einbahnstraße zu immer größeren Ausdehnung und zu immer höheren Niveauansprüchen. Es gibt keine Rückbauhebel. Europa schlittert ungebremst in die Überdehnung.

Das Überdehnungsproblem ist ein altes Thema. Es ist auch ein deutsches Thema. Deutschland hat sich als mittlere Macht schwer getan, das richtige Maß zwischen Geltungsanspruch und Zurückhaltung zu finden. Das Bismarcksche Maß hat sich gegenüber der Wilhelminischen Maßlosigkeit nicht halten können – unser Land ist mit einem Hochmut-Angst-Syndrom ins 20. Jahrhundert eingetreten. Umso bedeutsamer ist, dass mit der Bundesrepublik die Wachsamkeit gegen Überdehnungen zur Staatsräson geworden ist. Aber jetzt scheinen neue, größere Proben für die Fähigkeit, im richtigen Moment „nein“ zu sagen, anzustehen. In Europa ist Deutschland eine Führungsmacht und muss dies nun durch eine Rückbau-Entscheidung zeigen – und eben nicht durch ein nibelungentreues Immer-Weiter. 

Das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro-Verbund hat seine Härten und Kosten, aber es handelt sich um eine überschaubare Korrektur. Es geht nicht um die geographische Ausdehnung der EU, sondern um einen restriktiveren Umgang mit dem Anspruchsniveau „Euro“. Bringt Europa diese Antwort zustande, zeigt es Stärke. Diese Antwort wird sich nicht irgendwie aus Gesprächen ergeben. Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Es muss jetzt offen ausgesprochen werden, was zu tun ist. Jedes Zögern lässt diese Klarheit wieder verblassen. Und ohne ein entschiedenes Wort aus Deutschland wird es nicht gehen. Wir müssen uns für so eine Entschiedenheit nicht schämen. 

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Leserpost

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Wolfgang Schlage / 22.06.2015

Ich stimme Autor Held zu. Herausheben möchte ich die vom Autor beschriebene deutsche Neigung zum Hochmut. Auch mancher deutscher Unterwürfigkeit oder scheinbarer Gemeinnutzorientierung liegt ein solcher Hochmut zu Grunde. In der Klimapolitik: nur ein gewisser Größenwahn nährt die Idee, dass Deutschlands “Vorbild” (“einer muss doch vorangehen!”) wirklich die Welt retten könnte. In der Euro-Politik: Nur Überheblichkeit nährt die Illusion, dass mit noch mehr deutschen Opfern (nämlich noch mehr finanzieller “Hilfe”) und durch deutsche Mittel (Sparen, Sparen, Sparen) Griechenland und Europa “gerettet” werden könnten. Richtig ist hingegen: “Wir” können weder Europa noch die Welt retten. So schwankt Deutschland zwischen Überheblichkeit und überheblicher Demut hin und her: eine narzisstische Störung des nationalen Selbstgefühls, gefährlich nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Nachbarn.

Klaus Kalweit / 22.06.2015

Nach Prof. Sinn hat Griechenland seit Februar täglich nicht weniger als für eine Milliarde Euro Waren bestellt und über Target-2 “finanziert”. Der Saldo beträgt inzwischen mehr als 100 Milliarden, auf dem Papier aber sind das keine Kredite, denn natürlich zahlen die Griechen das auch zurück, das wissen wir doch alle, oder? Für die deutsche Industrie ist es das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten, nur basiert es eben auf “frischem” Geld. Andererseits fließt ein ungeheurer Warenstrom täglich nach Griechenland, und böse Zungen stellen zwei Fragen: Kaufen sich die Griechen jetzt auf Pump noch alle schnell eine Luxuslimousine oder ähnliche angenehme Dinge des täglichen Bedarfs? Treten sie auch als Vermittler auf, bestellen Waren für Dritte und leiten sie gleich weiter gegen gutes Geld? Ich kann darauf keine Antwort geben, ich weiß nur eins: Das gesamte Finanzsystem ist inzwischen so pervers, daß es kein gutes Ende nehmen wird.

R. Helene van Thiel / 22.06.2015

Es ist alles noch nicht irrsinnig genug, denn was liest man heute in der Zeitung? “Brüssel fordert mehr Macht im Euro-Raum” (FAZ). Ausgeheckt haben diesen einzigartigen, selbstverständlich unserem Besten dienenden Plan Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EZB-Präsident Mario Draghi.

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