Gastautor / 21.04.2017 / 15:27 / Foto: Holger Ellgaard / 7 / Seite ausdrucken

Europa-Reisen: Ich bin dann mal weg, sprach die Vielfalt

Von Haio Forler.

1980 muß es gewesen sein, als ich das erste Mal ein "Interrail-Ticket" kaufte. Es kostete 270 D-Mark, und jeder meiner Bekannten wollte eines haben. Es war der Eintritt in die weite Welt. Die Länder unterschieden sich, ein jedes Land hatte etwas Spezielles. Alles Fremde, und ich denke dies ist nicht nur meinem Alter oder der durch meinen Beruf bedingten Weitläufigkeit geschuldet, hatte etwas Geheimnisvolles. Manches davon war Klischee, oder auch nicht, wer konnte das schon so genau vor Abfahrt sagen. Selbst heute möchte ich in der Nachschau diese Klischees nicht missen.

In Bonn stieg ich ein. "Non aprire prima che il treno sia fermo". Diesen Satz, an jeder Türe der Eisenbahn unverrückbar verblockt, werde ich nie vergessen. Er hatte etwas Reizvolles, Unverständliches. Aber bald, da war ich sicher, würde ich die Bedeutung wissen. Das Ticket galt einen ganzen Monat lang, und ich durfte alle Länder des damaligen Europa kostenlos bereisen.

Manchmal, an einer Landesgrenze, stoppte der Zug für 20 Minuten. Eine Kontrolle, oft Militär, ging durch den Zug und ließ sich die Ausweise zeigen. Nie wäre ich auf die Idee verfallen, diesen kleinen Aufenthalt als besonders störend oder hinderlich zu empfinden. In Monaco gar wurden die meisten durchgewunken, und selbst an der Grenze des damaligen Jugoslawien dauerte der Aufenthalt nicht länger als eine Viertelstunde.

Eher als hinderlich empfand ich, daß ich 30 Tage lang mit nur 950 D-Mark auskommen mußte. Auch habe ich Grenzen damals nie als etwas Nachteiliges, Einschränkendes gesehen. Im Gegenteil freute ich mich darauf, dass dort etwas Neues, gänzlich Anderes beginnt. Eine Art Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, die sich von der meinen unterschied und mich umso neugieriger machte.

Den relativierenden Imperativ gab es nicht

Welche Unterschiede! Frankreich war Frankreich, die Schweiz war die Schweiz. Und wollte ich die schrägen oder auch guten Eigenarten der Portugiesen kennenlernen, dann fuhr ich, Überraschung, nach Portugal. Nicht auf allen Bahnhöfen Europas waren wie heutzutage dieselben Warenhausketten vertreten, repräsentiert durch McDonalds, Nordsee, KFC, den üblichen Telekommunikationsanbietern und einem obligatorischen Spaß-Friseur.

Nein, alle hatten etwas Besonderes. Der alte Bahnhof von Budapest mit seinem berühmten Markt war eine Offenbarung, der Bahnhof in Paris nicht minder. Um so spannender, bunter, bereichernder empfand ich den Umstand, daß die Franzosen dort ungerne Englisch sprachen. Europa war gespalten und daher differenziert, eingenartig und individuell - es war einfach schön. Und ich hätte schwören können: wäre ich in Stockholm ausgestiegen, hätte ich vorrangig Schweden gesehen.

Und als ich in Ljubljana mit einem jugoslawischen Soldaten in der Mittagshitze bei einem Bier auf der Stadtmauer zusammensaß, da mußte man uns nicht erzählen, wie wir uns zu verhalten hätten. Den relativierenden Imperativ, der Kulturen und Bahnhöfe einebnet, den gab es nicht. Der Reiz lag in der Verschiedenheit, nicht im täglichen durch Medien schon penetrant verbreiteten Postulat ihres Gegenteils. Man hatte zu diesen Zeit wohl Verschiedenheit noch nicht mit Abwertung verwechselt. Stolz hat er mir erzählt, wie er doch Tito liebt. Befremdlich war dies für mich, war ich doch politisch noch recht ungebildet. Aber spannend und neu fand ich es. Ich erinnere mich, daß er mir nach meiner Rückkehr in den Westerwald eine Karte schrieb, und ich, naiv-gütig, sendete ihm noch das halbe Päckchen Tabak zurück, das ich versehentlich bei unserem Bierchen einsteckte. Nicht ohne meinen handgeschriebenen Brief noch mit „Lange lebe Tito!“ zu unterschreiben.

All diese Unterschiede, nicht nur an Bahnhöfen! Immer wieder waren Diplomatie und Phantasie herausgefordert, neue Aufgaben zu bewältigen: was in Paris auf diese Weise funktionierte, mußte in Wien anders bewerkstelligt werden. War in einem Restaurant in Zürich jenes möglich, war es in Sofia ganz anders. Nur die Amerikaner, so ging damals das Gerücht, scherten sich um all dies nicht. Und sei dies auch nur eine „urban legend“ gewesen: liebgewonnen hatte ich es doch.

Wenn Individualität zum Schlagwort wird

Es war die sprichwörtliche Vielfalt, die mich begeisterte – ja, es war das Gegenteil von Routine, der Konterpart zum materialistischen Automatismus, kurz: die Gewißheit dessen was Reisen ausmacht, dass mich an einem anderen Ort eben nicht dasselbe erwartet. Mit einem Wort: hier wurde Individualität gelebt und gefordert, und wie sie heute nur noch als Schlagwort verwendet wird, wenn es darum geht, an die Fleischtöpfe Europas zu kommen.

Geld mußten wir auch wechseln. In Matala auf Kreta, einer Stadt, die damals unter Interrailern sehr angesagt war, hatte ich in einem ländlich gelegenen Restaurant mit 1 000 Drachmen bezahlen wollen. Dies dürfte damals rund 50 D-Mark entsprochen haben. Die Wirtin konnte nicht wechseln und so hieß sie die Tochter, in die 2 Kilometer entfernte Stadt zu gehen, zu wechseln. Nach knapp einer Stunde kam diese zurück. Zuvor bot ich noch an, mitzugehen, ein wenig tat mir die Tochter leid. Da hat die Wirtin doch ein wenig gelächelt; eventuell war sie derart hilfsbereite Touristen nicht gewohnt. Auf eine merkwürdige Weise denke ich, konnte man damals noch punkten. Heute indes, da wir alle Mitglieder einer nie genauer definierten „Weltgemeinschaft“ sind, ist die Erwartungshaltung Deines Gegenüber bereits politisch korrekt und tabellarisch festgelegt, bevor Du Dich überhaupt äußerst. Da bleibt wenig Spielraum.

Sicherlich mußte man aufpassen an den Wechselstuben, aber insgesamt war das Wechseln sowie die kurzen Aufenthalte an den Grenzen nichts, was danach geschrieen hätte unbedingt verschlimmbessert zu werden. Als ich letztes Jahr in London war, mußte ich meinen Paß sage und schreibe 6 mal vorlegen, um alle Schleusen passieren zu können. Wer erinnert sich nicht daran, dass Deutsche insbesondere bei uns selbst dafür kritisiert wurden, dass sie am Strand von Spanien zwei Strandtücher ausbreiteten. Jaja, das waren schon Ereignisse, damals, in jenen kriminellen Zeiten ..

Ja, es war schön, dieses Europa mit all seinen Eigenheiten, seinen unterschiedlichen Stadtbildern (sic!), seinen durch die verschiedenen nationalen Kulturen bedingten Schrulligkeiten, Klischees und schönen Seiten. Und waren es nicht gerade die, wenn auch nicht immer physischen Grenzen, die unsere Phantasie fliegen ließen? Kurz: es war ein Abenteuer. Und heute? Was haben wir gewonnen?

Haio Forler arbeitet als freiberuflicher Berater weltweit in großen internationalen Unternehmen im Engineering-Bereich

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Leserpost

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Knoch Walter / 22.04.2017

Wie erfrischend, einen solchen Text zu lesen. Labsal für die Seele. Danke!

Andreas Huber / 22.04.2017

Von Peter Gauweiler hörte ich mal das kürzeste und markanteste statement gegen Kommunismus: “Unterschiedlichkeit ist ein Wert an sich”.

Matthias Junglewitz / 21.04.2017

Da muss ich dem guten Herrn recht geben. Ich habe zwar das Interrailticket nur einmal benutzt. Es war aber ein Erlebnis. Ich wollte mit ein paar Freunden eine Tante eines der Freunde in Finnland besuchen. Da eine Direktverbindung sauteuer war und Interrail gerade angesagt war, haben wir uns jeder ein ticket gekauft und die Fahrt über die Beneluxländer gemacht. In Groningen mussten wir übernachten, da die Züge nach Deutschland nicht mehr fuhren. Wir wussten nicht wo die Jugendherberge war aber freundliche (!) Holländer fuhren uns hin. Damals wussten wir nicht, warum die Holländer keine Gardinen hatten und man das ganze Familienleben von der Straße aus beobachten konnte. Danach ging es über Hamburg, Kopenhagen (mit einer Zugfähre) nach Stockholm. Für den Bewohner einer deutschen Großstadt, die im zweiten Weltkrieg fast vollkommen zerstört wurde war der Anblick einer intakten Innenstadt atemberaubend. Allerdings verlor die Stadt beim Bummel in die Randbezirke ihre Individualität und man hätte in jeder beliebigen Großstadt Westeuropas sein können. Der Vorteil des Interrailtickets war es, dass man mit einer Fährlinie fahren konnte. Ich glaube es war die finnische Silja line. Im Bauch des Schiffes gab es dann Massenunterkünfte mit 12 oder mehr mehrstöckigen Bettkabinen. Das ganze war furchtbar voll, aber das war kein Problem. Man hatte die Füße eines Belgiers in der Nase, während man sich mit einem Franzosen unterhielt. Es gab aber keine Aggression, nichts. Es war wie man sich Europa positiv vorstellt. Wir kamen dann in Turku an, wo uns die Tante abholte und uns zu einer Hütte nahe der russischen Grenze brachte. Es war einfach super. Sehr primitiv, aber natürlich mit Sauna, abends mit Fliegen und jeden Tag frischen Fisch, auch Lachs, der dort für deutsche Verhältnisse lachhaft billig war. Die Finninnen und Schwedinnen waren eine Augenweite und total offen. Kopftuchträgerinnen hab ich damals nicht gesehen. Ich war damals BW Soldat und musste früher nach Hause so dass ich alleine fuhr. Aber man kam sofort mit anderen ins Gespräch. Ich lernte einen Australier kennen, der vor dem Studium ein Jahr eine Europarundreise machte, einen Franzosen mit dem ich jahrelang Kontakt behielt bis er fürchte ich bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Die Züge waren immer gestopft voll, da das Interrailen auch in den Nachbarländern beliebt war. Aber wie gesagt, es gab keine Aggressionen, sehr viel Hilfsbereitschaft, viele Kontakte, die meist nach dem Umsteigen schon vergessen waren. Es war einfach, fast schon primitiv, aber niemand störte ich daran. Englisch war damals noch nicht so dominant, so dass man mit Händen und Füssen oder auch mit dem Schulfranzösisch kommunizieren musste. Viele, vor allen Dingen im Norden konnten erstaunlicherweise gutes Deutsch. (Die freundlichen Holländer redeten nur Englisch mit uns). Ne, es war schön. Aber ich habe es nur einmal gemacht. Im Nachhinein schade, aber das war damals doch viel Geld.

Peter Zentner / 21.04.2017

Lieber Herr Forler, Sie schreiben mir aus der Seele: “Und heute? Was haben wir gewonnen?” Gewonnen haben wir austauschbar uniforme Bahnhöfe, Shopping Malls und Innenstädte, die das Erbe ihrer architektonischen Schönheit mit genagelten Stiefeln treten. Verstädterte und verschandelte Urlaubsregionen, die einst schon auf den ersten Blick einen Zauber ausübten; und deren Bewohner ihre unverwechselbare Eigenheiten und ihren Charme für trügerische Subventionen und bürokratische Würgegriffe der EU geopfert haben. (Wie Sie, aber nicht so konzis, könnte ich viele weitere Einbußen aufzählen.) — Es mag eine Zeit kommen, die diese Irrtümer erkennen und teilweise revidieren wird, und wir könnten sie zweifellos noch erleben. Aber es wird halt dauern. Vielen Dank und herzliche Grüße!

Angelika Bog / 21.04.2017

Mit Wehmut las ich diesen wunderbaren Artikel, der treffsicher die untergegangene Reisewelt meiner Jugend beschreibt. Was wir gewonnen haben? Ich trauere dem nach, was wir verloren haben: intakte weitgehend homogene unterschiedliche Kulturen, in die einzutauchen ein genussvolles Abenteuer war,  Der Wertschätzung des Fremden lag die Achtung vor dem Eigenen zugrunde. Diese aufregende Welt echter Vielfalt gibt es nicht mehr, ausgerottet durch menschenfeindliche machtbesessene Ideologie und dem Diktat des Kommerz.

Marcel Seiler / 21.04.2017

Die kulturellen Unterschiede sind heute nicht zwischen den Städten der verschiedenen Länder, sondern zwischen den guten und schlechten Vierteln in der gleichen Stadt.

Werner Lange / 21.04.2017

Der Text gefällt mir sehr, und er teilt meine Empfindungen. Aber da muss wohl ein Irrtum vorliegen: Ich lese und höre überall, es sei noch nie so tolerant, bunt und weltoffen zugegangen wie heute, noch nie hätten wir uns Fremden und der Fremde derart aufgeschlossen zugewendet. Hm, könnte es sein, dass es heute etwas verlogen, scheinheilig und feige zugeht? Beste Wünsche!

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