Hans-Martin Esser / 14.06.2016 / 10:00 / 0 / Seite ausdrucken

Europa: Was Briten und Türken gemeinsam haben

Die Europäische Union oder was heute noch davon übergeblieben ist, war mal ein Elitenprojekt. Frankreich, Deutschland, Italien und die BeNeLux-Staaten sind Mitte der 1950er Jahre unter den treibenden Kräften Adenauer und de Gaulle einander näher gerückt, das Projekt hatte seine Berechtigung. Jedes Projekt kann sich zu Tode siegen. Spätestens mit der Aufnahmerunde 2004, als eine Fülle von kleinen Staaten aus Osteuropa, unter ihnen Länder, die eher als Schwellenländer zu bezeichnen sind, wurde klar, dass jedermann willkommen ist. Wenn ich mich entsinne, sind jetzt die Ukraine, Mazedonien und Serbien unmittelbare Kandidaten.

Ich habe Zweifel, ob die Türkei, die in den letzten 15 Jahren eine wirtschaftliche Entwicklung hingelegt hat, mit solchen Ländern in einem Topf geworfen sein will, die sie längst überflügelt und mitunter verachtet, da diese eben nicht vorankamen. Die permanent sprichwörtliche privilegierte Partnerschaft wird den Türken reichen und zwar nicht, weil sie inzwischen ihre Illusionen verloren hätten, sondern weil die EU eine Institution auf dem absteigenden Ast ist. Einst ein exklusiver Club von Industriemächten ist man in der Welt der Schwellenländer angekommen.

Man sammelt Mitgliedstaaten wie Kinder Panini-Bildchen. Die Briten sind immer das Sinnbild des klassenbewussten Landes, der klassenbewussten Gesellschaft gewesen. Nichts stört das Gefühl der Exklusivität so sehr wie die Aufnahme von jedem dahergelaufenen Hinz und Kunz. Objektiv konkurriert man (Deutschland) mit den USA, China, Japan und Südkorea, wobei die Aufnahme von Serbien, Ukraine und Mazedonien genau wie Jahre zuvor die von Bulgarien und Rumänien vollends sinnlos ist. Ist es dem Esel langweilig, geht er aufs Eis und rutscht aus. Die Briten - sie hatten nie ein erotisches Verhältnis zur EU - es ging darum, ob es nützt oder nicht. Abgenutzte Kleidung sortiert man aus – bums, fertig, basta.

Die einen wollen raus, die anderen gar nicht mehr rein

Inzwischen ist höchst fragwürdig, was aus der EU wird. Die Briten wie die Türken spüren dies, die einen wollen eventuell hinaus, die anderen gar nicht unbedingt mehr herein und tanzen denen, die die EU überhaupt noch ernst nehmen, auf der Nase herum. Mit Losern kann man es machen. Wäre die EU wie einst ein elitärer Verein, ginge man anders zu Werke. Bei den Aufnahmekandidaten und dem Gewürge ist es ja fast nur unattraktiv, Teil dieses Clubs zu sein. Erdogan provoziert mit extremen Methoden, weil es ihm inzwischen egal ist, die Mitgliedschaft bedeutet gar nichts, wenn die Armenhäuser Europas (auch Griechenland) teilnehmen dürfen. Teile der deutschen Intellektualität reden gar von einem mare nostrum Raum, der auch noch Länder wie Marokko, Libyen und Algerien beinhalten könnte, was der endgültige Abschied von ökonomischer Vernunft wäre.

Aufsteiger verachten die Arm-Gebliebenen am meisten. So verachten die Türken am meisten die Sentimentalität für Schwellenländer, die es nicht bringen. Das Übel der EU ist, dass sie immer auf ein Mehr und ein Enger setzte statt sich zu fragen, was das ideale Maß ist. Es ist ja auch bequem. Darf es etwas mehr sein? Ja, klar. Maß zu halten ist eine unterschätzte Tugend. 1990 passte der europäische Anzug, 2000 auch noch. In diesem Zeitraum ist man optimistisch und euphorisch gewesen, heute sieht es gegenteilig aus. Ein immer enger (ever closer union) ist der zentrale Konstruktionsfehler.

Bei der phil. Cologne unterhielt ich mich mit dem Mainzer Historiker Andreas Rödder, ob diese immer engere Union nicht wie ein immer enger zugezogener Kabelbinder sei, der erst nütze und dann nur noch einklemme - er sah es ähnlich. Man hat nie Maß gehalten, sondern in der EU immer auf stetige Verengung gesetzt: DER zentrale Fehler. Es ist eine Untugend der Dummen, auf immer mehr zu setzen statt das rechte Maß auszuloten – man könnte es biblisch als Maßlosigkeit bezeichnen.

Die Briten pendelten zwischen den Welten, ähnlich tun es die Türken

Die Briten wussten um die splendid isolation, man pendelte zwischen den Welten, der neuen Welt (USA) und Europa. Ähnlich tun dies die Türken, sie nutzen ihre geologische Lage. Sie sind sozusagen die heutigen Briten, die ihrem Vorteilen gemäß pendeln, wobei man nicht jenseits der Türkei die neue Welt verorten sollte, aber die Welt der Probleme, die man entweder in die EU leitet oder nicht.

Das Bild vom Türsteher trifft es eher. Im Anblick der Flüchtlingsströme 2015 kann man in dieser türkischen splendid isolation vieles gewinnen, wenn man den Bosporus regiert. Da die europäische Politik - und auch speziell die deutsche - kaum noch mit Interessen, sondern nur mit diffusen Gemeinwohlphantasien – einer Art später moralischer Großmachtphantasien - dagegenhält, dummerweise klarmacht, dass man alles täte, um die EU zu retten, sind sie den Türken im Poker unterlegen – und zwar hoffnungslos. Die Türkei hat wie Großbritannien den Vorteil, sich nicht allzu um die Union zu scheren. Zynisch könnte man sagen: „Wer mehr liebt, ist der Schwächere.“ Deutschland ist hier sowohl den Briten als auch den Türken gegenüber klar im Nachteil.

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