Gerd Held / 27.05.2016 / 06:15 / Foto: Arnaud 25 / 8 / Seite ausdrucken

Europa ist nicht von der Türkei abhängig

Migrationsmythos, Folge 12.

„Merkels Politik“ lautet die Überschrift eines Leitartikels in der FAZ , in dem Jasper von Altenbockum versucht, dem Publikum die neue Wucherung der Migrationskrise zu erklären. „Wie anders als mit der Türkei hätte denn die Flüchtlingskrise bewältigt werden können? Und kann sich Deutschland den Erdogan aussuchen, den es gerne hätte? Die deutsche und europäische Politik hätte es nicht so weit kommen lassen müssen; doch selbst dann und erst recht dann hätte die EU ihre Außengrenzen nicht ohne Zutun der Türkei auf Dauer kontrollieren können.

Da ist sie wieder, die Theorie der unmöglichen Grenze. Nicht nur Deutschland kann seine Grenze nicht kontrollieren, auch Europa kann es nicht. Wir sind auf das „Zutun“ der Türkei angewiesen, also auf die Einwilligung und Mitarbeit der anderen Seite. Wenn es danach geht, kann ein Staatsvolk überhaupt nicht mehr von „seiner“ Grenze sprechen, über deren Öffnung oder Schließung es von sich aus entscheiden könnte. Grenzen wären demnach eine Art Handelsgut. Eine Grenzmaßnahme funktioniert nur, wenn beide Seiten der Grenze in diese Maßnahme einwilligen. Was ich an der Grenze meines Landes tue, ist zustimmungspflichtig – es braucht die Zustimmung des Nachbarn. Damit wird dem Nachbarn praktisch ein Vetorecht eingeräumt. Und deshalb ist das, was jetzt im Verhältnis EU-Türkei geschieht, die Konsequenz. Wir müssen uns die Türkei mit Gegenleistungen gewogen halten. Wenn wir die Grenzüberschreitung durch Migranten von türkischem Staatsgebiet verhindern wollen, müssen wir das mit einer Gegenleistung an die Türkei erkaufen: mit der Eröffnung der visafreien Einreisemöglichkeit nach Europa für 80 Millionen Türken.

Die neue Politikdoktrin: Ein allgemeines Grenzüberschreitungsrecht

Die gegenseitige Anerkennung und Achtung der Grenzen zwischen benachbarten Staaten ist damit als völkerrechtliche Ausgangssituation abgeschafft. Die neue Ausgangssituation ist ein allgemeines Grenzüberschreitungsrecht. Einschränkungen in bestimmten Fällen müssen durch Öffnungen in anderen Fällen erkauft werden. Das ist in der Tat „Merkels Politik“. Es ist die Politikdoktrin, die im deutschen Kanzleramt und offenbar auch in Brüssel herrscht. 

Die jüngsten Merkel-Äußerungen besagen nichts anderes. Sie erklären die Grenzen Deutschlands zum Handelsgut. Sie tun das im Easy-Jargon des globalen Governance-Sprech, der die Bürger daran gewöhnen soll, dass es nichts Wichtiges auf dieser Welt gibt, das nicht auf „Konferenzen“ und in „Gesprächen“ geregelt wird – also irgendwie gruppendynamisch im Club der Global Player ausgemacht wird. Und dass es nur hier geregelt werden kann.

Hören wir uns mal so einen Merkel-Satz an: „Es gibt natürlich wechselseitige Abhängigkeiten, Sie können es auch einfach die Notwendigkeit zum Interessenausgleich nennen“ (Interview mit Merkel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung). Merkels Trick besteht hier darin, dass sie die „Abhängigkeiten“ nicht näher qualifiziert. Geht es um Essentials der beteiligten Länder oder um Dinge minderer Bedeutung? Gehen also die Abhängigkeiten so weit, dass die amtierende Kanzlerin Essentials unseres Landes zur Disposition stellt? Und wenn sie das ablehnt, muss sie dann nicht auf die Fähigkeit unseres Landes, seine Grenzen selbst zu bestimmen, zurückkommen? Aber hat sie nicht gerade diese Fähigkeit für Deutschland bestritten? Faktisch erstrecken sich die Merkel-Abhängigkeiten längst auf Essentials der Bundesrepublik, wie die immer tieferen Verwicklungen bei der Schuldenkrise und der Migrationskrise zeigen. Doch das lässt sich im Easy-Jargon alles kommunikativ wegzuwischen. Noch ein Merkel-Satz aus dem gleichen Interview: „Meine Rolle und die Rolle der Politik insgesamt ist es, Unterschiede festzustellen und Gemeinsamkeiten auszuloten“.       

Im  Easy-Jargon des seichten Club-Gelabers

Im Hintergrund dieses seichten Club-Gelabers aber steht, nie deutlich ausgesprochen aber doch wirksam gegen jedes eigenständige Handeln, die Behauptung „Deutschland kann nicht“ oder „Europa kann nicht“. Wie wird diese Unfähigkeit eigentlich begründet? Was wird an technischen, polizeilichen, militärischen Argumenten vorgelegt? Nichts. Der Leitartikler der FAZ glaubt, die Behauptung, es ginge nicht ohne die Türkei, einfach in den Raum stellen zu können. Die Aussage ist dabei bewusst vage und von leichter Hand formuliert: nicht „ohne Zutun“ der Türkei. Ist sich Jasper von Altenbockum überhaupt klar, was er da schreibt? Kann man sich eine internationale Ordnung als vernünftige Normalität vorstellen, in der eine fremde Macht einfach Migranten über die Grenze zum Nachbarland schicken kann, und in der dies Nachbarland dies nicht postwendend als Aggression beantworten darf? Sondern stattdessen die fremde Macht mit einem Deal umstimmen muss? Wenn das normal und vernünftig sein soll, dann wäre die internationale Ordnung mit einem Schlag auf gewaltsame Übergriffe gebaut – und auf das Recht des Stärkeren.

In diesen Tagen ist in der Presse immer wieder die Formulierung zu finden, dass Erdogan sich „seiner Trümpfe bewusst“ ist. Diese Trümpfe sind letztlich nichts anderes als massive, völkerrechtswidrige Drohungen mit einer Massenschleusung von Migranten auf europäisches Territorium. Was ist das für ein Spiel, in dem Europa das als „Trümpfe“ akzeptieren soll?

Hier liegt tatsächlich eine Wahrheit. Die Abhängigkeit Europas von Erdogan liegt nicht an praktisch-sachlichen Problemen von Grenzschließungen gegen wilde Migration (die Schließung der mazedonischen Grenze beweist das), sondern an einer grundlegenden Umstellung dessen, was man unter Politik versteht. Politik in der Merkelschen Version ist eine soziale Veranstaltung von Politikern. Sie ist Zusammentreffen, Kommunikation, Aushandlung, Vereinbarung. Aber im Raum steht nur Subjektives.

Grenzen kommen in der Scheinwelt der "Politics" gar nicht mehr vor

Im Club der Global Players verwandeln sich Staaten in Interessen, die von Teilnehmern geäußert werden, die an nichts gebunden sind. Sie kennen keine Essentials, sondern nur das Ziel, dass das Spiel immer irgendwie weitergeht. Deshalb sind territoriale Grenzen für sie ebenso uninteressant wie Grenzen der Staatsverschuldung. Solche Grenzen sind nicht der Sache nach unmöglich, sondern sie kommen in der Scheinwelt der „Politics“ gar nicht vor.  

In der Migrationskrise wird immer deutlicher, wohin diese Politik führt. Zunächst wurde der Eindruck erweckt, man wolle die Migrationskrise „europäisch“ bewältigen. Das sollte eine besonders kraftvolle Kontrolle der europäischen Außengrenze bedeuten. Dann hat es geheißen, der Deal mit der Türkei sei die günstigere, kooperativere Variante dieser Grenzkontrolle. Jetzt aber zeigt sich, dass dieser Deal nur Europas Tore weiter öffnet – für eine fremde Macht öffnet, die von hegemonialen Ansprüchen und Bürgerkriegstendenzen bestimmt ist. Und jetzt heißt es auf einmal: Europa kann gar nicht anders. Es ist in der Migrationsfrage auf Gedeih und Verderb der Türkei ausgeliefert. Will die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die doch einmal so stark mit der Staatsräson der Bundesrepublik verbunden war, wirklich auch diesen neuen Schritt auf der schiefen Bahn wohlwollend begleiten?  

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Leserpost

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Wolfgang Richter / 27.05.2016

Es ist schon erstaunlich, daß man angeblich die Grenzen Deutschlands gen Süden oder der EU gegenüber der Türkei nicht sichern könne, eine entsprechende Sicherung merkwürdigerweise gen Osten, also durch die baltischen Staaten und z. B. Polen gegen den russischen Einflußbereich sehr wohl wirksam abschotten kann. Es scheint seitens der im weistesten Sinne EU-Politik gegenüber der Türkei nicht um ein “Nicht-Können”, sondern um ein “Nicht-Wollen” zu gehen, dessen politische und wohl auch militär-strategische Gründe man nicht geneigt ist, der teils verständnislos drein blickenden eigenen Bevölkerung zu erklären, also auch aus anderen Bereichen bekanntes Polit-Verhalten der die Meinungshoheit für sich beanspruchenden Politvertreter, zum einen einfach mal selbstherrlich vollendete Tatsachen schaffen und die Hintergründe durch Phrasendrescherei “vernebeln”. Und dies geschieht ständig und wiederholt mit Billigung der journalistischen Hofberichterstatter, die z. B. auf das Hinterfragen der z. B. “wechselseitigen Abhänigkeiten” geflissentlich verzichten, ein weiterer Beleg in einer Reihe von täglich sich ergebenden politisch relevanten Entscheidungen der GroKo-Akteure mit stillschweigendem Abnicken des der Einheitsfront angehörenden Gesamtparlaments und des Verzichts der ehemals 4. Gewalt Presse auf Kontrolle und Information des Souveräns.

Dr. Maria T. Groepper / 27.05.2016

Die FAZ begleitet denjenigen wohlwollend, der an der Macht ist. Staatsräson spielt da überhaupt keine Rolle. Zumindest nicht die deutsche.

Gerd Brosowski / 27.05.2016

Wieder einmal ein Artikel von Gerd Held, der einen zum Nachdenken bringt und der einem den Blick weitet: Danke! Jeder solche Artikel ist ein Grund mehr, sich als Pate der Achse bestätigt zu fühlen. Wie kann übrigens jemand, der eine so hohe Ortsunschärfe aufweist wie unsere Kanzlerin, überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen? Gestern in Istanbul bei einer Riesenkonferenz, heute in einem Brandenburger Schloss, wo es ums Integrationsgesetz gehen soll, morgen in Tokio bei einem weiteren Gipfel und übermorgen wer weiß wo. Da muss es in Kopf und Seele zugehen wie auf einer Tafel, auf die fortwährend etwas Neues geschrieben wird, bevor das Alte gelesen, verstanden und gelöscht werden konnte.  

Florian Bode / 27.05.2016

1. Die hündische Liebe der FAZ zur CDU und derer Parteivorsitzenden ist eine erbärmliche Version von “Qualitätsjournalismus”. 2. Außengrenzen seinen nicht zu schützen? Aber es ist problemlos möglich, den Zahlungseingang meiner Steuern zu kontrollieren und gegebenenfalls zu erzwingen. Der ruhende Verkehr kann ja auch effizient kontrolliert und abkassiert werden. Wo liegen die Prioritäten des Systems? 3. Alle Systeme beruhen auf Grenzen. In einem Computer fließt Strom auf begrenzten Leiterbahnen. In unseren Zellen werden Kompartimente durch Grenzen voneinander getrennt. Auch soziale Systeme benötigen Grenzen. Entropie ist der Tod.

Mark Thomas / 27.05.2016

Wer die Grenze eines anderen Landes nicht respektiert, indem er, zumindest durch Nachlässigkeit, massenhafte illegale Grenzübertritte zuläßt, besser befördert, handelt aggressiv - das denke ich schon seit Monaten. Daher Danke für diesen Artikel! Als langjähriger FAZ-Leser wundere ich mich seit letztem Sommer sehr über manche Positionen die dort verbreitet werden und frage mich immer wieder: glauben die das wirklich? Zur Türkei: Habe nun in der aktuellen Kamera (=Tagesschau) gehört, dass die türkischen Dienste (Polizei?, Grenzschutz?, Militär?) inzwischen ein in See stechen illegaler Grenzverletzer (das nannten die natürlich anders) überwiegend verhindern würden…aha, dann war ja wohl vor dem seltsamen Rücknahmeabkommen von Merkel und Erdogan wohl doch nicht so genau hingesehen worden!!! Oder ist da der aktuellen Kamera ein Fehler in der Darstellung unterlaufen!?

Roland Klugger / 27.05.2016

Könnte jemand nicht mal die tatsächliche Grenzsituation aufzeigen. Wie handhaben die an Deutschland angrenzenden Länder wie Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien , Holland, Tschechien, Polen ihre Grenzsicherung in dieser Frage. Wie ist es mit den EU Grenzen? Gibt es Fachkräfte für dieses Thema? Darüber wäre ich sehr froh. Roland Klugger

Georg Grenzer / 27.05.2016

Genau der o.g. Artikel hat auch mich zu der folgenden Erkenntnis geführt: Die FAZ hat als seriöse Tageszeitung leider weitgehend ausgedient. Dass ich sie trotzdem manchmal online lese, liegt darin begründet, dass die anderen Qualitätsblätter noch weniger taugen.

Anna Märsch / 27.05.2016

Jetzt da die Balkanroute für die Massen geschlossen ist, wird die Lybien Route etabliert. Wieder ganz vorne dabei die üblichen NGO´s diesmal Seawatch und Borderline Europe http://www.borderline-europe.de/. Diesmal ist die Methode so; Die Schiffe aus Lybien fahren bis an die 12 Meilen Grenze ran und wählen dann die Notrufnummer von Borderline Europe, Alarm Phone http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-im-mittelmeer-alarmphone-organisiert-rettung-a-1031190.html. Dann fahren entweder die NGO´s oder die Seerettung der Bundeswehr oder der italienischen Marine zu den angegebenen Koordinaten und ´retten ´die Menschen. Oft kentern die Schiffe erst, weil alle auf eine Seite rennen, um als erstes gerettet zu werden. Praktischer Weise haben die NGO´s gleich die Presse an Bord und die kann die gewünschten dramatischen Bilder einfangen, welche dann genutzt werden, um maximalen moralischen Druck aufzubauen. Genau wie letztes Jahr in der Ägäis. An der ungarischen Grenze zu Serbien. In Idomeni. Und bald am Brenner. Es steht eine politische Agenda dahinter., welche das ist, weiss ich nicht.

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