Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 11.11.2012 / 22:29 / 0 / Seite ausdrucken

Europa an der Schwelle zum Zerfall

Ein latenter Ausnahmezustand ist Europas neue Normalität geworden. Selbst professionelle Optimisten wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erwarten, dass die Eurokrise dem Kontinent mindestens weitere fünf Jahre erhalten bleibt.

Europas Probleme werden tatsächlich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so bald verschwinden und könnten durchaus jahrzehntelang anhalten. Die griechische Wirtschaft schrumpft im fünften Jahr in Folge, in Frankreich sieht es immer mehr nach der nächsten unangenehmen Überraschung der Eurozone aus und das winzige Zypern steht am Rande des Bankrotts.

Inmitten all dieser wirtschaftlichen Katastrophen kann man leicht vergessen, dass Europa derzeit nicht nur finanzielle und fiskalpolitische Schwierigkeiten erlebt. Es steht auch an einer politischen Wasserscheide. Nach mehr als einem halben Jahrhundert auf dem Weg in die wirtschaftliche und politische Integration könnte sich der Prozess eines „immer engeren Zusammenschlusses“ demnächst umkehren. Was dann geschieht, lässt sich nur vermuten. Die EU hat keinen Plan für die Auflösung der Bindungen zwischen seinen Mitgliedstaaten, obwohl sie einen solchen dringend brauchte.

Von der Unterzeichnung der Römischen Verträge, mit denen 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, bis zum heutigen Tage war die europäische Politik immer eine Einbahnstraße. Alle paar Jahre traten neue Länder dem Club bei. Gegenwärtig gibt es 27 EU-Mitglieder. Nach dem geplanten Beitritt von Kroatien im Juli 2013 werden es 28 sein. Serbien und Montenegro hoffen darauf, als nächste Länder aufgenommen zu werden.

Die Europäische Union ist nicht nur größer geworden, sondern auch tiefer: immer mehr politische Bereiche wurden von der EU-Maschinerie angesaugt. Die Währungsunion ist nur das sichtbarste Zeichen für die Vertiefung der europäischen Integration: praktisch jedes andere Politikfeld wird inzwischen über die Grenzen hinweg mindestens koordiniert, wenn nicht „harmonisiert“ (was nicht gleichbedeutend mit „harmonisch“ ist). Im Europa von heute bestehen die Nationalstaaten nur noch dem Namen nach - ihre Macht hat sich auf eine supranationale Regierungsebene in Brüssel verschoben.

Sowohl die Erweiterung als auch die Vertiefung der politischen Integration waren politisch schwierig und wirtschaftlich eine Herausforderung. Trotz alledem hat sich die EU nur in eine einzige Richtung bewegt – sie musste noch nie eine bereits erreichte Integration wieder auflösen.

Der Grund für die Einbahnstraße, auf der sich die europäische Integration bewegte, war die Attraktivität des Projekts Europa. Solange sich die europäische Wirtschaft entwickelte, solange die EU überwiegend in einem wachsenden gemeinsamen Markt für die nationale Champions bestand, verbunden mit gelegentlichen Subventionen - von denen man annahm, dass sie von den jeweiligen Nachbarn bezahlt wurden - so lange waren der Beitritt und die Einhaltung der EU-Vorschriften sinnvoll. Unter Schönwetterbedingungen funktionierte das Modell gut. Anders ausgedrückt: ein „immer engerer Zusammenschlusses“ setzte einen „immer weiter wachsenden Wohlstand“ voraus.

Da die EU dieses stillschweigende Versprechen nicht mehr halten kann, hat Ernüchterung eingesetzt. Diese ist überall auf dem Kontinent und in ganz unterschiedlichen Ländern zu beobachten.

Großbritannien war seit jeher das euroskeptischste Mitglied der EU. Die Mitgliedschaft in der EU oder der „EUSSR“, wie sie abfällig bezeichnet wird, wurde auf der Insel stets kontrovers diskutiert. Für ein Land, das immer noch unter dem Phantomschmerz seines verlorenes Empires leidet, war die Tatsache, auf der gleichen Stufe zu stehen wie seine Erzrivalen vom Kontinent, natürlich eine unerträgliche Zumutung. Es lief darauf hinaus, seine imperiale Größe zu verlieren und dafür nichts weiter als metrische Maßeinheiten zu erhalten.

Denjenigen Briten, die noch nie gerne zu Europa gehört hatten, bietet die Eurokrise die perfekte Gelegenheit, ihre derzeitige EU-Mitgliedschaft in Frage zu stellen. Letzten Monat erklärte die britische Innenministerin Theresa May, Großbritannien wolle aus zahlreichen Polizei- und Justizmaßnahmen der EU aussteigen. Letzte Woche erlitt die Cameron-Regierung im Unterhaus eine demütigende Niederlage mit ihrem EU-Budget, die ihr von ihren eigenen euroskeptischen Rebellen (mit Hilfe einer opportunistischen Opposition) beigebracht wurde. Es braucht nicht viel Phantasie, um in nächster Zukunft mit einem Referendum über Großbritanniens Verbleib in der EU zu rechnen. Ein Sieg des ‘Nein’-Lagers ist ebenfalls nicht schwer vorstellbar.

Auch innerhalb der Eurozone gibt es Anzeichen für eine mögliche Kehrtwende auf der Einbahnstraße der Integration. Diese könnte natürlich zuerst in Griechenland eintreten, wenn den Griechen bewusst wird, dass ihr Land im Korsett der Währungsunion keine Chance auf wirtschaftliche Erholung hat. Sie könnte jedoch ebenso gut in einem der stabileren Länder der Eurozone geschehen. Nicht unbedingt in Deutschland – die Deutschen wären wahrscheinlich zu risikoscheu, um der Eurozone ihr Ausscheren zuzumuten. Kleinere Mitglieder der Eurozone könnten sich jedoch durchaus fragen, warum sie weiterhin die anderen subventionieren sollen - oder ob sie nicht außerhalb besser gestellt wären.

Aussichtsreichster Kandidat für einen solchen Ausstieg ist Finnland. Die Finnen senden bereits seit einigen Jahren Signale aus, dass sie unzufrieden damit sind, für die Euro-Peripherie zu zahlen. Kein Wunder: von Helsinki aus sind Athen und Lissabon weit entfernte, sonderbare Orte. Am Rande des Polarkreises muss es schwierig sein, eine natürliche Solidarität mit den Mittelmeerländern zu empfinden.

Als also Griechenland eines seiner Rettungspakete brauchte, war es die finnische Regierung, die als erste eine Sicherheit zugunsten ihrer Steuerzahler forderte. Und es ist nun die finnische Regierung, die bereits unmissverständlich ihre Absicht erklärt hat, sich nicht an weiteren Rettungsmaßnahmen für spanische Banken zu beteiligen. Das könnte mehr als nur eine leere Drohung sein. Die Financial Times berichtete kürzlich über finnische Vorschläge zur Einführung einer neuen Parallelwährung, die dem Land schließlich ermöglichen würde, die Eurozone ganz zu verlassen.

Ob Großbritannien, Finnland, Griechenland oder sogar noch ein anderes Mitgliedsland sich von der EU abwendet: Die Folgen eines solchen Schritts sind unmöglich vorherzusagen. Er würde einen Präzedenzfall schaffen. Das EU-Mantra von mehr Integration wäre dann nicht mehr die Antwort auf jede politische und wirtschaftliche Frage in Europa.

Sollten sich ausscheidende Länder außerhalb der EU als erfolgreicher erweisen, wäre es nur vernünftig, wenn die verbliebenen Mitglieder ihre eigene Position überdenken würden. Wenn Finnland Zahlungen für Spanien umgehen könnte, indem es die Währungsunion verlässt - warum sollten dann Länder wie Österreich und die Niederlande bleiben? Wenn es Großbritannien gelänge, seine Wirtschaft wieder zu beleben, indem es sich von der erstickenden Bürokratie der EU befreit - warum sollte dann Irland weiterhin der EU angehören wollen?

Die EU hat einen Zustand erreicht, in dem die Vorteile ihres Binnenmarktes von den politischen und ökonomischen Kosten der Integration zunichte gemacht werden. Statt sich dieser Erkenntnis zu stellen, fühlt sie sich weiterhin ihrer übermäßig ehrgeizigen Integrationsagenda verpflichtet – und veranlasst dadurch einige Länder, ihre weitere Mitgliedschaft in diesem Club zu überprüfen.

Europa befindet sich zweifellos in einer Wirtschaftskrise. Dies ist jedoch eine Wirtschaftskrise, die früher oder später zu einer politischen Krise führen wird. Die EU weiß nicht, wie sie die Integration hinbekommen soll - und ganz gewiss hat sie keine Ahnung, wie sie eine Desintegration bewältigen soll.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Tipping towards eurozone fragmentation’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 8. November 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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