Gastautor / 01.10.2016 / 09:51 / Foto: Tim Maxeiner / 13 / Seite ausdrucken

Es ist ungemütlich geworden, in Paris, in Frankreich zu leben

Von Peter Stephan Jungk.

Grundvertrauen. Toleranz. Dialog. Vergebung. Offenheit. Mit diesen und ähnlichen Schlagworten, gar Glaubensbekenntnissen bin ich aufgewachsen. Von einer Weltsicht geprägt, die meiner heutigen Realität diametral entgegengesetzt zu sein scheint. Das macht mich zornig und äusserst traurig: So geworden zu sein, wie ich heute bin. Diese Umkehrung aller Werte. Ich ertappe mich dabei, Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen. Nicht mehr vorurteilsfrei durch das Leben zu gehen. Meine Blicke nicht mehr unschuldig über eine Gruppe Fremder wandern zu lassen, sei es in der Untergrundbahn,  auf einem Flughafen, in einem Schnellzug, in überfüllten Kaufhäusern. Was ist aus mir geworden? Wie konnte es so weit kommen?

Vor bald drei Jahrzehnten bin ich von Wien nach Paris gezogen, ein Schritt, den ich bis vor kurzem nie bedauert habe, im Gegenteil. Seit den Anschlägen der letzten Zeit, vor allem aber seit sich unsere einzige Tochter während der Bataclan-Katatrophe in unmittelbarer Nähe des Geschehens aufhielt und die Nacht versteckt in einem McDonaldʼs-Lokal zubringen musste, hat sich dieses Gefühl gewandelt. Heute steige ich aus Metrozügen aus, wenn mir in meinem Waggon ein junger, verschwitzter Mann auffällt, der womöglich auch noch einen Rucksack bei sich trägt. Insbesondere dann, wenn es ein junger Mann maghrebinischer Herkunft ist, der nervös um sich blickt. Aber es kann ja auch eine junge Frau maghrebinischer Herkunft sein, von der die Gefahr ausgeht, in der Luft zerrissen zu werden. Gerade erst ist in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung ein Attentat vereitelt worden. Drei Jihadistinnen wurden verhaftet, bevor sie im Bahnhof Gare de Lyon zur Tat schreiten konnten.

Vor Waldheim weggelaufen

Die Entscheidung, Österreich zu verlassen, war in erster Linie von der damaligen Stimmung im Lande geprägt, nachdem Kurt Waldheims düstere Kriegsvergangenheit ans Licht gekommen war und das österreichische Volk ihn 1986 mit «Jetzt-erst-recht!»-Parolen zum Staatsoberhaupt gewählt hatte. Ein heftiger, als Patriotismus getarnter Antisemitismus kam hoch. Doch bei den französischen Wahlen des Jahres 2017 könnte eine Kandidatin an die Macht kommen, deren Programm alles in den Schatten stellt, was man seit Ende des Zweiten Weltkriegs an fremdenfeindlicher, europafeindlicher, antihumanistischer Haltung in unserer Hemisphäre erlebt hat, Ungarns Innen- und Aussenpolitik mit eingeschlossen. Einer Haltung – und das ist es ja, was mich so wütend macht! –, die der wirksamen Bekämpfung der oben beschriebenen Gefahren näher steht als jedes Parteiprogramm der liberalen Linken. Einer Linken, der ich mein ganzes Erwachsenenleben nahe stand und die 2017 sehr wahrscheinlich chancenlos auf den dritten Platz verwiesen werden wird. Die Alternative malt Michel Houellebecq in seinem bedrückend realistischen Roman «Soumission» an die Wand: Er führt vor Augen, wie Frankreich 2022 auf demokratischem Weg nach und nach unter das Joch des Islam gezwungen wird.

Ungemütlich ist es geworden, in Paris, in Frankreich zu leben. Wie damals, als ich aus Österreich fortzog. Aber wieder dorthin zurück? Auf die Gefahr hin, dass ein Mann wie Norbert Hofer, Mitglied der völkischen Burschenschaft Marko-Germania, das höchste Amt im Staate bekleidet? Und zwei Jahre später, bei den Nationalratswahlen, die FPÖ auch den Bundeskanzler stellt? Nein, danke. Wohin mit mir, mit uns? Ist das ein Luxusgedanke? Nein, ich glaube nicht. Auswanderung in die USA? Wo unter Umständen, unvorstellbar, aber nicht auszuschliessen, ein Individuum regieren könnte, dessen Namen ich nicht aussprechen möchte. Wohin? Ich kann nicht Italienisch. Auch Spanisch nicht. In die Schweiz, nach Deutschland? Sicher nicht. Israel? In jenen Staat, den ich für uns Juden für den gefährlichsten Ort auf Erden halte?

Das vereinte Europa, spätestens seit Juni 2016 von Grossbritannien und allen guten Geistern verlassen, wird in den kommenden Jahren schweren Schaden nehmen. In mehreren Staaten der EU werden rechtspopulistische Parteien regieren. Und die Grenzen aller europäischen Nationen werden bewacht sein, Festungen gleich, weit umfangreicher kontrolliert, als vor dem Jahr 1995, da der Schengenraum das freie, passlose Reisen ermöglichte. Mein Zukunftsgefühl könnte düsterer nicht sein: Der Traum der Europa-Enthusiasten, zu denen ich mich immer zählte, wird sich in einen hehren Wunschtraum zurückverwandeln. Ich stelle nicht selten einen Ruinenblick bei mir fest, der das sorgsam gebildete Europa-Bündnis in sich zusammenbrechen lässt.

Die zehnte Demo innerhalb von drei Monaten

Während ich diese Zeilen schreibe, heulen unentwegt Sirenen durch die Strassen. Polizei, Rettung, Feuerwehr. Wie in jener Nacht des 13. November 2015, ich lag bereits im Bett, als die ununterbrochenen Sirenen mich vermuten liessen, es müsse etwas Schlimmes passiert sein. Dieses Mal ist es eine harmlose Grosskundgebung an der Bastille, die zehnte Demo innerhalb von drei Monaten, die ein neues, vom Parlament bereits abgesegenetes Arbeitsrecht bekämpft. Es kommt allerdings zu Strassenschlachten, sowohl in den Reihen der Demonstranten als auch unter den Polizisten sind Verletzte zu beklagen.

 Abends sind die Gassen rund um mein Wohngebäude abgeriegelt. Es herrscht unheimliche Stille. Meine Sorge wächst sprungartig. Ich bitte einen Polizisten, mich durchzulassen, ich lebe hier. Er lächelt freundlich. Vor meinem Haus liegen 50, wenn nicht 60 Menschen auf der Stras­se, wie angeschossenes Wild, nein, wie tot. Erst, als ich ganz nahe komme, begreife ich: Aufnahmen zu einem Spielfilm. «120 battements par minute» thematisiert den Kampf der Act-up-Aktivisten in den frühen 1990er-Jahren.  

 Sollte der Ausblick auf das Jahr 5777 nicht wenigstens mit einem hellen, aufmunternden, erquicklichen Satz ausklingen? Ich bemühe mich. Mein Ruinenblick lässt es nicht zu. Doch ich erkenne deutlich: Wie schön diese Ziffer aussieht, die Ziffer 5777!

Der Schriftsteller Peter Stephan Jungk lebt in Paris. Zuletzt schrieb er "Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart", eine Romanbiographie seiner Großtante, die als Engländerin für den KGB spioniert hat. Der vorliegende Text ist in der Schweizer Wochenzeitschrift tachles erschienen.

 

Foto: Tim Maxeiner

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Hein Tiede / 02.10.2016

Die Veränderungen, die wir an uns selbst spüren, sind nicht diejenigen, die Göring-Eckhardt und befreundete Geistesgrößen erhoffen. Meine Empathie, vorurteilsfreie Neugier mit dem Fremden ist einer anderen Haltung gewichen: „Du magst noch so gut sein. Dein massenhaftes Auftreten ist eine Gefahr für dich und unser Land.“ Eine bedauerliche Entwicklung. Ich mag mich selbst anders lieber. Renaud Camus schildert die Einstellung von Juden in der französischen Gesellschaft folgendermaßen: „Was nun das Verhalten der jüdischen Gemeinschaft angeht, insbesondere ihrer Intellektuellen und Journalisten, so spielt gewiß die äußerst gegenwärtige Erinnerung an ihre Geschichte, an die erlittenen Verfolgungen und an ihre eigene Vergangenheit als Einwanderer eine erhebliche Rolle. Vielleicht treibt sie auch der bewußte oder unbewußte Wunsch, nicht die einzige Minderheit unter autochthonen Christen oder Nachfahren von Christen auf nationalem Boden zu sein. Auf jeden Fall neigen sie seit langer Zeit in der überwiegenden Mehrzahl zu einer oft glühenden Befürwortung der Ideologie der Einwanderung, die keine besseren, präsentieren und lautstärkeren Anwälte finden könnte als sie. Aufgrund dieser Tatsache hatte ich gelegentlich das eine oder andere Hühnchen mit ihnen zu rupfen. Jedoch haben die Jahre seit dem Beginn des Jahrtausends und seit dem Attentat auf das World Trade Center vom 11. September 2001 diese Situation grundlegend verändert. Es ist sogar allmählich eine gegenläufige Bewegung zu beobachten. Die Mehrheit der Juden und ihrer exponiertesten Wortführer hat nach und nach erkannt, daß die Einwanderung, die sie aufgrund des alten Antisemitismus - und gewiß mit der Absicht, ihn zu bekämpfen - so vehement unterstützt haben, einen neuen hervorbringt, der heute viel virulenter und gefährlicher ist als der alte. Die Erfahrung der sich mehrenden Manifestationen dieses neuen Antisemitismus, die in der Tragödie von Toulouse, der »Affäre Merah« gipfelten, führte auf jüdischer Seite zu einer erheblichen und deutlich spürbaren Revision der bisherigen Positionen, die mich persönlich über alles erfreut hat, da seither viele unserer Mißverständnisse aus dem Weg geräumt wurden und sehr herzlichen Beziehungen gewichen sind.“

Dirk Ahlbrecht / 02.10.2016

Staaten und Gesellschaften, die Leute wie Herr Jungk, als potenzielle neue Heimstatt ins Auge fassen, sind also gewarnt. Erst wird der progressive gesellschaftliche Wandel gefördert und unterstützt; und zwar solange, bis deren negative Auswirkungen und Auswüchse auch die eigene Türschwelle erreichen. Dann wird sich nach einer neuen Bleibe umgesehen. Um das zurückgelassene Chaos sollen sich dann bitte schön andere kümmern.

Joachim Roux / 02.10.2016

Nach jüdischen Kalender ist vom 3. auf den 4. OKTOBER Neujahr…

Wieland Schmied / 02.10.2016

Guter Mann - was wollen Sie eigentlich? Ich fasse es nicht.

Klaus Eckhard / 02.10.2016

Und noch ein Nachtrag zu Ihrem Artikel weil sie sich als Europa- Enthusiasten beschreiben.  Die Idee einer Zusammenarbeit Der europäischen Länder ist nicht neu, gut und nur zu befürworten.  Aber wie es angepackt wurde war es von vornherein falsch. Schauen Sie: hier bei uns in Deutschland haben wir ein föderales System. Und man sagt uns das sei gut und richtig so weil Frau Kraft in Nordrhein Westfalen besser weiß was für Nordrhein-Westfalen gut ist als die in Berlin und weil Herr Seehofer in Bayern besser weiß als die in Berlin was für Bayern gut ist. In Europa sollen wir genau das Gegenteil für richtig halten.  Die Nationalstaaten in ihren unterschiedlichen Mentalitäten will man zurück stutzen zu Gunsten einer Brüsseler Behörde,  deren Bürokraten die demokratische Legitimation fehlt.  Und sie können nicht besser wissen was für Sizilien, die Slowakei, oder Katalonien richtig ist. David Cameron hat es ihnen immer wieder gesagt:  weniger ist mehr.  Jetzt sind die Briten weg und die Reaktion der Europäer Merkel Schulz Tusc und Junker erschreckt mich.  Nichts soll geändert werden alles soll so bleiben wie es ist. Das geht schief,  die EU so wie sie jetzt ist wird keinen Bestand haben.

Klaus Eckhard / 02.10.2016

Ser geehrter Herr Jungk, Wenn ich Sie richtig verstehe, suchen Sie einen Ort auf dieser Welt, wo in Politik, Wirtschaft und Kunst links-liberale Verhältnisse herrschen. Sie sehen z. Zt.  Bei uns in Deutschland, was damit einhergeht: Willkommenskultur regierungsamtlich verordnet, offene Grenzen, chaotische Verhältnisse bei den Behörden, und eine Terrorgefahr, wie Sie sie für Paris eindrucksvoll beschreiben. Also eine linksliberale Politik, die die ganze Welt umarmt, kollidiert einfach mit Anforderungen an Sicherheit und der Sehnsucht normalerBürger, unbehelligt sein Leben zu leben. Es geht nicht zusammen und sie werden noch eine Weile suchen müssen.

Gerald Hütter / 02.10.2016

Sehr geehrter Herr Jungk, Man bezeichnet es als Wahnsinn, immer das Selbe zu tun und trotzdem andere Ergebnisse zu erwarten. Sie sind der typische Vertreter der Unterstützer des herrschenden Systems, mit den selben unwirksamen Methoden anzukämpfen und trotzdem immer wieder die Lösung vor Augen. Sie laufen ständig vor den falschen Gefahren davon und übersehen doch die wirklichen und existenziellen Bedrohungen für unsere Zivilisation, der Islam und die ideologische Verblendung der Linken.

H.Theodor Bicking / 02.10.2016

Gescheitert ist offenbar die linksliberale Bewegung in ganz Europa. Gescheitert an ihrer falschen Toleranz für das Böse. Das Böse das alle freiheitlichen Werte hasst. Werte die von den Linksliberalen feige fallen gelassen worden sind.

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