Alexander Wendt / 07.01.2018 / 14:00 / Foto: Pixabay / 10 / Seite ausdrucken

Es ist die Kriminalität, Dummkopf!

Es gibt, wie es in der Sphäre routinierter Geschwätzigkeit heißt, ein neues Narrativ. Kaum ein Politikerinterview, kaum eine Bundespräsidentenrede kommt ohne den Appell aus, jetzt brauche es mehr „Zusammenhalt“ in der Gesellschaft.

Bedroht ist der Zusammenhalt, folgt man den Reden der politischen Funktionselite, durch die ungleiche Wohlstandsverteilung im Land, aber auch in sogenannten „abgehängten Gebieten“ auf dem Land, wo es, wie Frank Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache wusste, „eine Stille gibt, die bedrohlich werden kann“.

Das Zusammenhaltsgerede formiert sich um eine Leerstelle, etwas, das Politiker – wenn überhaupt – nur unter Vorbehalt und Beschwichtigungsformeln ansprechen: Die epidemisch sich ausbreitende Kriminalität. Im ersten Halbjahr 2017 stieg die Zahl der Sexualdelikte im eigentlich sehr sicheren Bayern – verglichen mit dem Vorhalbjahr – um 48 Prozent. Die Zahl der durch Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge begangenen Sexualstraftaten um 91 Prozent. In Niedersachsen stieg die Gesamtkriminalität seit 2015 um 10,4 Prozent, ein Anstieg, der sich zu 91 Prozent auf Zuwanderer zurückführen lässt.

Die eilig hervorgeholte Erklärung, der Anstieg der Sexualstraftaten liege vor allem an der Verschärfung des Sexualstrafrechts, führt in die Irre: Schon von 2015 zu 2016 kletterte die Zahl der Sexualstraftaten in Nordrhein-Westfalen um 24,9 Prozent. Das Gesetz zur Verschärfung des Sexualstrafrechts – gegen das sogenannte Grabschen – trat erst am 10. November 2016 in Kraft. Es kann also unmöglich als Grund herhalten.

Ein Verlust, der sich nicht beziffern lässt

Eine solche Kriminalitätswelle, gerade bei Sexual- und Roheitsdelikten, kommt in Friedenszeiten und unter normalen Umständen kaum vor. Der öffentliche Raum geht verloren. Die Unbefangenheit, mit der man sich noch vor Jahren auch nachts in Großstädten bewegen konnte. Und das ist ein Verlust, der sich nicht beziffern lässt.

Man möchte den politisch Verantwortlichen mit Bill Clinton sagen: „It’s the criminality, stupid!“ Beziehungsweise: Es geht um das sichere Leben! Und dieses Problem werdet ihr sicherlich nicht mit Steuergeld zuschütten können. Sondern nur mit der Rückkehr zum gesetzmäßigen Zustand.

Das gesamte politische Establishment der Bundesrepublik ist allerdings seit Jahrzehnten darauf abonniert, materielle Probleme einzelner Gruppen zu entdecken, notfalls auch zu behaupten, um sie mit dem Geld der Steuerzahler zu befriedigen. Dass überhaupt ein gewaltiges, ja fundamenterschütterndes Problem auftauchen könnte, das sich im Kern nicht mit finanziellen Mitteln befriedigen lässt: Diese Neuigkeit trifft die Funktionselite vollkommen unvorbereitet.

Sie weiß dazu buchstäblich nichts zu sagen, zumal sie den Zustand durch die bedingungslose Grenzöffnung im September 2015 selbst herbeigeführt hat. Wenn sich die Kaste doch zu einer Reaktion bequemt, dann läuft sie – da ihre Klaviatur nur aus dieser einen Taste besteht – sofort wieder auf die Melodie hinaus: mehr Geld.

Nachdem sie lange das Phänomen der einwandernden Kriminalität generell leugneten, überbieten sich Politiker zurzeit mit Phantasiezahlen zu schaffender neuer Planstellen bei der Polizei. Die Bundeskanzlerin ließ in ihrer in jeder Hinsicht unverschämten Neujahrsansprache wissen, es sei jetzt Zeit, „noch mehr Geld in einen starken Staat zu investieren“. Wessen Geld eigentlich? Diejenigen, die ungefragt die Hereingeholten zu alimentieren haben, sollen jetzt auch noch zahlen, um vor der unvermeidlichen Kriminalitätswelle geschützt zu werden.

Frankreich schickt Soldaten – oder lässt Warlords gewähren

Aber es finden sich ja diese zusätzlichen Polizisten überhaupt nicht. Das Bundeskriminalamt beklagt schon länger, dass es trotz stark nach unten angepasster Eingangskriterien immer weniger qualifizierte Bewerber bekommt, die Bundespolizei erst recht.

Immer weniger Leute aus der Mitte der Gesellschaft halten es für attraktiv, sich für relativ wenig Geld in den Kampf mit verrohten Jungmännern schicken zu lassen, die kaum etwas zu verlieren haben. Dafür zieht die Berliner Polizei offenbar mehr und mehr Bewerber aus einem Milieu an, das genau diesen Jungmännergruppen zumindest stark ähnelt. Niemand noch halbwegs der Realität Zugängliche kann glauben, es ließe sich die eingewanderte Kriminalität einfach durch eine von Jahr zu Jahr proportional vergrößerte Polizeitruppe eindämmen.

Frankreichs Regierung löst das Problem auf eine in Deutschland vorerst kaum denkbare Weise dadurch, dass sie in den zentralen Bezirken von Paris und in anderen Städten Kleingruppen von Soldaten mit Sturmgewehren zur Sicherung des öffentlichen Raums einsetzt. Die verwahrlosten Zonen an den suburbanen Rändern überlässt sie mehr oder weniger lokalen Warlords.

Jetzt zerfällt die Gesellschaft tatsächlich

Hier geschieht genau das, was die politischen und medialen Wortführer in Deutschland seit Jahren an der falschen Stelle und mit den falschen Bildern beschwören: die Gesellschaft zerfällt tatsächlich. Nicht, weil der Mindestlohn zu niedrig und das Einkommen der oberen zehn Prozent zu hoch wäre. Sondern, weil der öffentliche Raum in halbwegs sichere Teile und Hochrisikozonen zerbricht.

Das erst macht die soziale Ungleichheit toxisch. Denn die Wohlhabenden können sich das Wohnen in den befriedeten Vierteln leisten, die Alarmtechnik für die Wohnung oder das Haus, das nächtliche Taxi, die Privatschule für die Kinder. Der Rest findet sich in Gebieten wieder, die der Staat nach und nach aufgibt. Natürlich leben fast alle Meinungsführer in dem sicheren Gebiet, Berufspolitiker, Redakteure, Kirchenführer, Spitzenfunktionäre. Das nützt ihnen nur wenig, wenn sich bald die Mehrheit ihrer Wähler, Leser, Steuern- und Beitragszahler auf der anderen Seite befindet.

Eine relative Wählermehrheit werden deshalb in naher Zukunft nur noch Politiker erreichen, die sich den Zettel „It’s the safe life, stupid!“ an die Tür kleben. Das bedeutet zwangsläufig, sich von der Lebenslüge zu verabschieden, europäische Länder könnten im wahrsten Sinn grenzenlos Menschen und vor allem Männer aus gewalttätigen, tribalistischen Gebieten importieren, ohne dass ihr eigenes Fundament erschüttert würde. So stabil sind eben auch westliche Gesellschaften nicht gegründet. Es scheint nur so, weil in ihrer langen Friedens- und Wohlstandsphase niemand diese Stabilität einem ernsthaften Test unterzogen hat.

Der Althistoriker Egon Flaig prägte einmal den Begriff der „heißen“ und der „kalten“ Weltgegenden. Heiß bedeutet: Eruptive, kaum gebremste Gewalttätigkeit. Kalt steht für die Formalisierung und Zähmung von Konflikten durch eine von allen anerkannte staatliche Gewalt. Gesellschaften überhaupt so weit abzukühlen, dass sie sich in lebenswerte Zonen verwandelten, das, so Flaig, sei eine überhaupt nicht hoch genug zu schätzende zivilisatorische Leistung.

Sie kostete unendlich viel. Und es geht sehr schnell, wieder den Lavastrom der Gewalt durchbrechen zu lassen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Alexander Wendts Seite Publico.

 

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Horst Jungsbluth / 07.01.2018

In seinem Buch “Berlin am 13. August 1996 (immerhin bereits 1985 geschrieben) zitiert der Autor ein Strategiepapier aus dem linken Lager, “dass es sich bei Kriminellen um gesellschaftlich Geschädigte handelt, die mit Wohnungen und den besten Posten im Staatsapparat belohnt werden müssten” und wo gleichzeitig gefordert wird, dass die Polizei nur mit den Fäusten agieren darf. Man sollte sich langsam darauf einstellen, dass die rasant steigende Kriminalität und die damit verbundene Verwahrlosung in vielen Großstädten von gewissen Gruppierungen toleriert, gewollt und gefördert wird, um den verhassten demokratischen Rechtsstaat zu destabilisieren, wobei die Drahtzieher von “innen und außen” agieren. Besonders drastisch hat sich das 1989 im damaligen Westberlin gezeigt, als mit dem Start des SPD/AL-Senats die Gewaltkriminalität, die Einbrüche und die Sozialdelikte rasant anstiegen. weil Justizsenatorin und Innensenator die Verfolgungsapparate ausbremsten und “kastrierten”.  70 bis 80% aller Anzeigen wurden nicht verfolgt, Richter verschwanden plötzlich und vor dem berüchtigten AG Tiergarten lachten nur die Täter, während Opfer, Polizei und Zeugen rüde abgefertigt oder gar bestialisch zusammengebrüllt wurden. Da all das ohne strafrechtliche Folgen für die Verursacher blieb, schaltet man nun einen höheren Gang ein und den nicht nur in Berlin.

Gabriele Schulze / 07.01.2018

Die von Ihnen als unverschämt qualifizierte Rede der BK trifft leider nur den Nagel auf den Kopf. Die Schönrednerei, Lügerei und das Abwälzen der eigenen Schuld sind eine einzige riesengroße Unverschämtheit. Und, um den Namen der intelligenten Tiere zu mißbrauchen, eine riesengroße Schweinerei. Ist das nicht wahre Dekadenz??

Jochen Brühl / 07.01.2018

Ein hervorragender Beitrag, mit einer Analyse, die meiner Befindlichkeit entspricht. Die zielgenaue Fehlanalyse der Polit- und Medienkaste in Deutschland ist für ein Land, welches sich als aufgeklärt und freiheitliches Deutschland begreift, welches wir je hatten, sehr erstaunlich. Für die AFD ist das natürlich total klasse. Die können gar nicht genug Unsinn von “Halbnegern” und ähnlichem absondern, als dass die Wähler zu den ignoranten Parteien CDU bis Grünen und Linken zurückkehren, wenn man die tägliche Realität in Deutschland sieht und ggf. persönlich erlebt. Eher wandert man da schon aus. Das wollen die genannten Altparteien wahrscheinlich auch (zwei deutsche Eltern und vier deutsche Großeltern bringen ja lt. Frau Käßman eine braune Brut hervor), aber sicher nicht die Industrie und die Wirtschaft. Hat mal jemand erhoben, wieviele Deutsche ohne Migrationshintergrund ausgewandert sind, mit welchen Qualifikationen und ob dies durch Flüchtlingszuzüge kompensiert werden konnte?

Dietmar Schmidt / 07.01.2018

Ja, Herr Wendt, man kann, als Optimist, nur hoffen, dass wir irgendwie noch die Kurve kriegen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Gruß D. Schmidt

Thomas Nuszkowski / 07.01.2018

ZITAT: “Das nützt ihnen nur wenig, wenn sich bald die Mehrheit ihrer Wähler, Leser, Steuern- und Beitragszahler auf der anderen Seite befindet.” Wieso nützt ihnen das nur wenig? Etwa weil sie durch die Wähler von der andere Seite abgewählt werden könnten? Wachen Sie auf, die wurden bereits abgewählt und ignorieren das Ergebnis einfach. Damit sind Wahlen so gut wie abgeschafft und die Leute von der anderen Seite keine Bedrohung mehr. Und in Kürze wird das NetzDG “reformiert”, so dass nur noch “die Richtigen” unterdrückt werden.

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