Erich Wiedemann / 11.10.2017 / 15:30 / Foto: Conny / 17 / Seite ausdrucken

Es gibt Besseres als vier Jahre Hauen und Stechen

Und nun Jamaika? Drei Esser am Topf, und alle drei geben zu erkennen, dass das, was darin brodelt, ihnen vermutlich nicht schmecken wird. Warum legen sie dann den Löffel nicht hin?

Merkel ist die kleinste Hürde beim schwarz-gelb-grünen Hürdenlauf. Sie will nur regieren, mit welchen Partnern, das ist ihr beinahe egal. Aber man muß mal Gelb und Grün im Tuschkasten verrühren. Das gibt eine Farbe wie Durchfall. Kann man einen Lipizzaner mit einem hannöverschen Kaltblut zusammenspannen, ohne dass die Deichsel kracht?

Angeblich haben Liberale und Grüne sich über den Zugriff auf die Ministerien, die zur Disposition stehen, schon verständigt. Doch der Bär, dessen Fell sie verteilen, ist noch längst nicht erlegt. Weshalb wollen CDU/CSU und FDP sich den Tort antun, um Verkehrsverbote für Automobile, Pazifismus und unlimitierten Familiennachzug für Migranten zu schachern? Liberale Realisten und grüne Macron-Hudler müßten sich auf eine vernünftige Europapolitik verständigen. Es gibt doch was Besseres als vier Jahre lang Hauen und Stechen: eine Minderheitsregierung.  Gewiß, es ist eine Vision, aber eine, die sich realpolitisch unterfüttern läßt.

Die Kanzlerin sieht das anders, sie hält eine Regierung ohne automatische Mehrheit für indiskutabel. Sie will ordentliche Verhältnisse: hier die Regierenden, da die Opposition. In Deutschland haben Obrigkeiten, die über keine klare parlamentarische Mehrheit verfügen, traditionell einen schlechten Ruf. Sie gehörten "ins Reich der politischen Folklore", schrieb die FAZ. Das ist für ein Blatt, das sich hauptsächlich über seine intellektuelle Substanz verkauft, eine tumbe These. Denn die Skandinavier sind mit dieser Folklore viele Jahre lang gut gefahren.

So machen es die Skandinavier

Schweden hatte nur in 14 der 72 Jahre seit Kriegsende keine Minderheitsregierung. Das waren nicht mal die stabilsten Jahre. In Dänemark gab es seit 1971 nur ein einziges Kabinett mit eigener Mehrheit, und dieses saß nur anderthalb Jahre im Sattel. In den vier Jahrzehnten der Minderheitsregierungen festigte Dänemark seinen Ruf als Wohlfahrtsstaat ersten Ranges, der achtbare Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Renten- und Sozialsystem auf den Weg brachte. 

In Norwegen erhielt nach den Wahlen Anfang September wieder die konservative Politikerin Erna Solberg den Auftrag zur Regierungsbildung. Sie wird erneut zusammen mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei regieren, wenn auch diesmal mit kleiner Mehrheit, und sich von der radikalchristlichen KRF und der liberalen „Venstre“ tolerieren lassen. Das ist in den vergangenen vier Jahren gut gelaufen. Und das soll wieder so laufen. In Dänemark, Norwegen und Schweden sind Minderheitsregierungen die Normalität. Allerdings sind die Skandinavier eher konsensuell veranlagt und weniger ideologisch vernagelt als die Deutschen. 

In Deutschland mußten die Kanzler Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Schmidt zeitweilig ohne parlamentarische Mehrheit regieren. Sie überlebten jedoch nur wenige Wochen im Amt. Willy Brandt schaffte ein Vierteljahr. 16 Bundesländer haben schon mal Minderheitsregierungen probiert. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Sie wurden alle über kurz oder lang im parlamentarischen Betrieb zerrieben. Für CDU/CSU und FDP wäre die Lage dagegen jetzt günstig. Sie bringen zusammen  fünf Prozent mehr auf die Waage als Rotrotgrün.

Statt Merkel jagen Merkel tragen

Nach Maßgabe der politischen Opportunität würde die AfD - wenn auch ohne Herzblut - die vierte Thronbesteigung der Kanzlerin, die sie eigentlich jagen wollte, wohl mittragen und in aller Regel auch mit der Regierung stimmen oder sich schlimmstenfalls  - was ja für diese auch nicht tragisch wäre - enthalten. Sie verabscheut die Etablierten, die linken aber mehr als die bürgerlichen. Die Schwarzen und Gelben würden sich keine klebrigen Finger holen, wenn sie diese Abscheu für die Stabilität einer rechtsliberalen Regierung nutzten..

Ja, doch, es würde viel Verrats- und Untergangslamento über Deutschland hereinbrechen, wenn sich Schwarzgelb von den Rechten tolerieren ließe. Dolchstoß, zynisches Rechtskomplott, Kanzlerin von Gaulands Gnaden. Andrea Nahles würde den Tabubrechern vielleicht auch in die Fresse hauen. Aber sie säßen ja fest im Sattel. Und Schlechwetter vergeht.

Der SPD-Politiker Reinhard Höppner kann das bestätigen. Er regierte Sachsen-Anhalt ab 1998 mit Duldung der SED-Nachfolgepartei PDS, die damals ebenso verfemt war wie heute die AfD. Schon wenige Wochen, nachdem er sein "Magdeburger Modell" inszeniert hatte, war das Thema raus aus den Schlagzeilen. Dann war vier Jahre lang Ruhe. 

Und die politische Hygiene? Vor allem bei den Liberalen haben Weidel, Gauland & Co. keine Sympathien. Die Tolerierung durch eine laute Partei, deren stärkste Seite nicht die Toleranz ist, muß für die Nutznießer aber nicht kompromittierend sein. Und eine real existierende 92-Mann-Fraktion, mal unterstellt, daß sie sich nicht irgendwann in Flügelkämpfen zerlegt, läßt sich auch nicht halluzinatorisch einfach weghexen. Natürlich brächte ihre Rolle als Schmiermaxe der konservativen Koalition der AfD den Vorteil, daß sie sich im Parlament leichter sozialisieren würden. Das kann man – je nach Temperament – begrüßen oder beklagen.

Die strenge FAZ befürchtet Erpressungsversuche von Seiten der Rechten. Doch Erpresser brauchen Drohpotential. Das hat die AfD aber nicht, weil ihr die Alternative fehlt. Sie müßte schon die Adenauer-Büste aus Walhalla klauen, um was in die Hand zu kriegen, womit sie die CDU unter Druck setzen könnte.

In einer tolerierten Minderheitsregierung hätten die Christdemokraten und die Liberalen vier stabile Jahre Zeit, um, ungestört von roten Linien und grünem Welterrettungsklamauk, das durchzusetzen, was sie für gute Politik halten.

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Leserpost

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Rudolf George / 12.10.2017

Minderheitsregierung. Ein netter Gedanke. Aber mit Angela Merkel niemals zu machen. Vom Parlamentarismus hält sie offensichtlich nicht viel, da sie, wenn der Bundestag überhaupt konsultiert wird, dann in Form von Abnickveranstaltungen, in denen die Vorsitzenden vorher die Fraktionen auf Linie gepeitscht haben. Sich mit einem Parlament auseinandersetzen zu müssen, das sie überzeugen muss, da es ihre „alternativlose“ Politik ablehnen könnte, muss für Frau Merkel ein Graus sein.

Dr. Daniel Brauer / 12.10.2017

Kleine Anmerkung am Rande: Ob die Schweden tatsächlich politisch besser gefahren und ideologisch weniger vernagelt als die Deutschen sind, darf zumindest kritisch zur Diskussion gestellt werden. Und warum sollte man Schwarz- Gelb als rechts-liberal bezeichnen ? Diese Zeiten sind doch wohl vorbei. Eine solche Minderheitsregierung würde sich wohl eher realistisch betrachtet aus dem linken Spektrum tolerieren lassen. Hier verwechselt man die Vergangenheit mit der Gegenwart einer CDU unter AM.

Paul Mittelsdorf / 12.10.2017

“Die Tolerierung durch eine laute Partei, deren stärkste Seite nicht die Toleranz ist, muß für die Nutznießer aber nicht kompromittierend sein. “ ??? Meint der Autor die Toleranz von CDU, SPD und Co. jeden, auch jeden Kriminellen und Terroristen ins Land zu bitten und auf die Bevölkerung loszulassen? Die Toleranz, gegen die auch der genannte Autor selbst auf Achgut gerne wettert? Wirft er der FDP, die ja kurz vor der Wahl Forderungen der AFD übernahm, nun auch vor, nicht “tolerant” zu sein? Oder ist das was anderes? Etwas, was sich nicht so sehr in Gründen und Argumenten finden läßt, sondern eher darin, daß man die AFD eben nicht zu mögen hat als deutscher Intellektueller. Da ist es auch egal, daß diese vollkommen intolerante Partei Volksentscheide fordert und auch nichts dagegen hat, Flüchtlinge aufzunehmen, solange es eben Flüchtlinge sind. Na ja, es ist auf jeden Fall schade, daß man selbst hier auf Achgut entweder nicht fähig oder nicht willens ist, die AFD nach ihren Inhalten zu beurteilen.

Karla Kuhn / 11.10.2017

Wie lange soll denn diese Minderheitsregierung halten ? Eine FDP, die unbedingt an die Macht will und eine Kanzlerin, die nicht weiß, was sie hätte anders machen können ? Da kann sich doch jeder ausmalen, wie die nächsten vier Jahre aussehen. Allerdings mit den Grünen sehe ich schwarz. Für mich wäre eine Lösung OHNE Merkel, nur mit der FDP die sinnvollste. Ein Kanzler Söder, ein Mann der sehr politikerfahren ist, wäre ein guter Ersatz für Merkel. Ich glaube, daß es schlechter nicht werden kann. “...was sie für gute Politik halten.” Da liegt der Hase im Pfeffer.  NICHT was sie für gute Politik halten, eine Kostprobe davon haben wir bereits gehabt, sondern was das VOLK für eine gute Politik hält.  Das ist nämlich Demokratie und nicht andersherum !!

Martin Schumann / 11.10.2017

Den Verlust der Adenauerbüste würde Angela Merkel nicht einmal bemerken, soweit sie überhaupt wüsste, um wen es sich handelt. Sollte dann einer Ihrer Adlaten mit einem Rest-Geschichtsbewusstsein sie aufklären, so würde sie diesen wahrhaft grossen Kanzler als Nazi klassifizieren. Folglich: Erpressung unmöglich. Der Merkel-CDU geht es nur noch um den Machterhalt, nicht mehr um die Sache. Wie vermisse ich die CDU von Alfred Dregger und die CSU von FJS.

Patrick Kaufhold / 11.10.2017

Treffend analysiert aber ich wage zu bezweifeln, dass es dazu kommen wird. Da haben sich alle etablierten Politiker beim AfD-Bashing zu weit aus dem Fenster gelehnt. Abgesehen davon muss ich gestehen, dass es ein Genuss werden wird zuzusehen wie sich die Jamaika-Koalition gegenseitig lähmt und ins Abseits befördert.

Renate Menges / 11.10.2017

Lieber Herr Wiedemann, es ist so traurig, aber ich bezweifle ganz stark, das CDU/CSU + FDP das Hirn und das Herz für eine von der AfD - dem Gottseibeiuns -  tolerierte Minderheitsregierung haben.

Michael Jansen / 11.10.2017

Minderheitsregierung bedingt aber vor allem, dass sich die Politiker an Sachfragen und ihren eigenen jeweiligen Positionen dazu orientieren. In unserem weitgehend in moralischen Kategorien und Argumenten feststeckenden Politikbetrieb sind die Aussichten dafür aber eher schlecht. Wenn die selbsternannten Welten- und EU-Retter schon die Aussage “Das könnte auch von der AfD stammen!” für ein stichhaltiges Argument halten, gegen das sich ein guter Deutscher gefälligst nicht zu wenden hat, dann ist der Aufruf zu sachbezogenen Debatten und Entscheidungen sicher nicht erfolgversprechend. Da zudem speziell unsere links-grünen Überzeugungstäter ohnehin ein enorm unterentwickeltes Verhältnis zur Realität haben und ihre Ideologie für vorrangig halten, ist ein großer Teil unseres politischen Spektrums für die Idee einer Minderheitsregierung mit von Fall zu Fall wechselnden Mehrheiten nicht zu gebrauchen.

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