Rainer Grell / 21.05.2016 / 16:03 / Foto: Damiano Luchetti / 1 / Seite ausdrucken

Erdogans Mittelfinger: Warum die Türkei in die EU gehört

Ozan Ceyhun ist ein Deutscher türkischer Abstammung, gehört zur Gattung der politischen Chamäleons (Alexander Jürgs in der „Welt“) und gilt als Musterbeispiel gelungener Integration. Von 1986 bis 2000 war er Mitglied der Grünen, für die er von 1998 bis 2000 im Europäischen Parlament saß. Dann wechselte er zur SPD und vertrat diese von 2000 bis 2004 in Straßburg.

Jürgs hatte bei seiner taxonomischen Einordnung von Ceyhun als „politisches Chamäleon“ offenbar die Fähigkeit dieser erstaunlichen Schuppenechse zum Farbwechsel im Auge, die allerdings „nicht in erster Linie der Tarnung, sondern vor allem zur Kommunikation mit Artgenossen“ dient, wie man bei Wikipedia erfährt.

Apropos Auge: „Eine weitere Fähigkeit, die in dieser Ausprägung nur bei Chamäleons vorkommt, liegt im unabhängigen Bewegen der Augen. Die Augen sind so angeordnet, dass sich die Gesichtsfelder nur in einem kleinen Bereich zu einem Bild überlagern können, und so meistens zwei einzelne Bilder entstehen. Allerdings ist bis heute unbekannt, wie die beiden Bilder im Gehirn verarbeitet werden.“ (Wikipedia)

Von dieser Fähigkeit Ceyhuns konnte man sich in der Sendung „Maischberger“ am 20. April überzeugen. Der Hinweis, dass in der Türkei „mehr Journalisten in den Knast gehen als zur Arbeit", konnte das Chamäleon ebenso wenig von seiner positiven Sicht des türkischen Präsidenten abbringen wie die Aussage des Journalisten Ulrich Kienzle, Erdoğan sei ein „Fall für die Psychiatrie“. „Es gibt keine Journalisten in der Türkei im Gefängnis", erklärte Ceyhun der verblüfften Runde. Die, die inhaftiert sind, seien nur auf dem Papier Journalisten, tatsächlich aber würden sie Terroristen, etwa von der kurdischen PKK, unterstützen. Wie gesagt, es ist bis heute rätselhaft, wie das Gehirn eines Chamäleons die gewonnenen Bilder im Gehirn verarbeitet.

Man wird nie Deutscher

Also, jetzt wissen Sie in etwa, wer Ozan Ceyhun ist. Wem das nicht genügt, der sollte sein Buch „Man wird nie Deutscher“ (rororo 2012) lesen. Den Auslöser für dieses Buch und den Wendepunkt in seinem Leben lieferte sein SPD-Genosse Gerhard Schröder, der ihn in seinem Kanzlerbüro einmal fragte: „Sag mal, Ozan, warum haben deine Landsleute eigentlich diesen Erdoğan und diese AK-Parti gewählt?“

Wie hat Ceyhun auf diese Frage reagiert. In seinem Buch schreibt er (Seite 120):

„Ich sitze sprach- und ratlos da. Ich, der deutsche Staatsangehörige, der deutsche Wahlkämpfer und der deutsche Europaabgeordnete, befinde mich im Berliner Büro meines deutschen Bundeskanzlers – und soll ihm das Wahlverhalten der Türken erklären. Ich fühle mich etwas überfordert, da ich ungefähr genauso viel darüber weiß wie er.“

Seine Antwort auf Schröders Frage interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Frage ihn zu der Erkenntnis führte, dass seine bisherigen Bemühungen, über die Staatsangehörigkeit hinaus Deutscher zu werden, sinnlos waren. „Egal, was ich tue, wie viel Einsatz ich bringe: Ich bin und bleibe Türke.“ „Ich bin erleichtert, weil ich jetzt ich selbst sein kann.“

Außerdem kann er sich mit dem berühmten Satz des Vaters der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürks (1881-1931), trösten: „Glücklich ist der, der von sich sagen kann: Ich bin ein Türke.“

An sich ist gegen sein Bekenntnis nichts zu sagen, es handelt sich um eine ganz persönliche Aussage. Aber Achtung: Der Titel seines Buches lautet nicht „Ich werde nie Deutscher“, sondern „Man wird nie Deutscher“, beansprucht also Allgemeingültigkeit. Unausgesprochen kann man die Einschränkung hinzufügen; jedenfalls nicht als Türke. Das Buch liefert keine Anhaltspunkte dafür, dass seine Aussagen auch für andere Staatsangehörige gelten sollen.

Seine These steht und fällt mit der Annahme, dass er deshalb nicht Deutscher werden kann, „weil die Deutschen ohne Migrationshintergrund mich nicht als solchen akzeptieren – aber auch, weil ich vom Gefühl her immer noch Türke bin … Ich fühle mich weiterhin als Türke allein schon deshalb, weil Türkisch meine Muttersprache ist und ich Deutsch zwar fließend spreche, aber nie so gut beherrschen werde wie Türkisch.“ 

Mittler zwischen den Kulturen

Doch lassen wir das alles auf sich beruhen und wenden wir uns den übrigen Aussagen des Buches zu. Wer ein Buch schreibt verbindet damit den Anspruch, einer unbekannten Vielzahl von Menschen etwas zu sagen zu haben. Etwas, das sie interessiert.

Wer sich an die Öffentlichkeit wagt, muss mit Kritik rechnen, denn in jeder öffentlichen Äußerung liegt zwangsläufig auch eine gewisse Anmaßung: Schaut her, ich habe Euch was zu sagen. Hört gut zu bzw. lest sorgfältig und lernt daraus.

Ozan Ceyhun versteht sich als Mittler zwischen der deutschen und der türkischen Kultur. Was ich ihm bei diesem Vorhaben allenfalls abnehme ist seine gute Absicht. Doch nach einem Wort von Tucholsky ist das Gegenteil von gut nicht böse, sondern gut gemeint. Mit allem, was Ceyhun uns in seinem Buch auftischt, bleibt er an der Oberfläche. So sucht man vergeblich nach dem Motiv, das hinter seinem Beitritt zu den Grünen steht. Ein „Bilderbuch-Grüner mit langen Haaren, langem Bart und Sandalen an den Füßen … empfindet Sympathie für uns Türken“ und fordert ihn auf „Komm, mach doch bei uns mit“. „Das passt zu den Grünen. Sie sind damals die einzige Partei, die so weltoffen ist.“

Von den politischen Anliegen der Grünen und ob sie sich mit den seinen decken, sagte er weiter nichts. Nach 14 Jahren Mitgliedschaft kommen ihm dann Zweifel, ob er überhaupt Grüner ist – aber nicht etwa wegen der Inhalte, sondern weil es schwierig ist, „in die inneren Zirkel hineinzukommen“ und „leicht, aus den äußeren Zirkel herauszufallen“. Unter dem Einfluss seines SPD-Kollegen im Europäischen Parlament, Martin Schulz, mit dem er gemeinsam im Innenausschuss sitzt, entschließt er sich an seinem 40. Geburtstag, die Grünen zu verlassen und der SPD beizutreten.

Wieder erfährt man wenig über die politischen Inhalte, die hinter diesem Entschluss stehen. Offenbar geht es ihm immer nur darum, wie eine Partei zu Ausländern allgemein und zu Türken speziell steht. Außerdem tut es seinem Ego sichtlich gut, mit einem politischen Schwergewicht wie Gerhard Schröder bekannt zu sein: Dessen Frage, die sein Leben verändert hat, hebt er mehr als ein halbes Dutzend Mal hervor.

Warum die Türkei in die EU gehört

Wenn er kritisiert, „dass hierzulande zwar viel über Integration, Ausländer, Kulturen und Religionen geredet wird, häufig aber leider sehr uninformiert“, erwartet man eigentlich, dass er mit seinem Buch dazu beiträgt, dies zu ändern. Doch erfährt man nichts, aber auch rein gar nichts über Ehrenmorde, Zwangsehen, Gewalt im Allgemeinen und gegen Frauen im Besonderen unter türkischen Einwanderern, über Kriminalität, Abschottung usw. Namen wie DITIB und Milli Görüş sucht man ebenso vergeblich wie Ausführungen zu türkischen Ghettos in Berlin, Duisburg, Mannheim und anderswo oder umstrittene Moscheeprojekte wie beispielsweise das in Köln-Ehrenfeld.

Statt dessen erfährt man, dass türkische Politiker volksnäher sind als deutsche und dass es gut wäre, wenn die Türkei in der EU wäre: „Wäre die Türkei Mitglied der EU, so könnte man an den Grenzen beispielsweise Schutzmaßnahmen besser organisieren und mit der Türkei in diesen Krisengebieten geschickter operieren. Hier seien als Beispiel Afghanistan und der Sudan genannt. Ein demokratisches, laizistisches und westlich orientiertes Land, dessen Bevölkerung zu 99 Prozent Muslime sind, kann im Nahen und Mittleren Osten mehr erreichen als EU-Länder. Die Türkei erscheint den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens als glaubwürdiger, da sie vornehmlich dieselbe Religion teilen.“

Was für ein seichtes Geschwafel. Kein Wort zu den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der weltweiten islamischen umma, kein Wort zu den Kurden, von den Armeniern ganz zu schweigen. Vielmehr reist er auf die sattsam bekannte Tour, dass all die bösen Muslime auf dieser Welt die Religion nur als Vorwand für ihre machtpolitischen Absichten benutzen und das alles „nichts mit dem Islam zu tun“ hat. „Wenn Kinder in der Schule erfahren, dass die Taliban den Islam missbrauchen, sich zwar Muslime und Gläubige nennen, das allein sie aber noch nicht zu solchen macht, dann wären wir einen großen Schritt weiter zur Verständigung.“

Dass Erdoğan die Türkei in einen islamischen Staat umwandeln möchte, dass seine Frau überall mit Kopftuch auftritt, die umstrittene Rede des (damaligen) türkischen Ministerpräsidenten in der Köln Arena, die Unterdrückung von Minderheiten und abweichenden Meinungen in der Türkei – all dies ist Ceyhun keiner Erwähnung wert.

Den Islam gibt es nicht, aber er gehört zu Deutschland

Irgendwann erfährt man (auf Seite 167): „Auch ich bin Muslim, praktiziere den Glauben aber nicht.“ Gut, das kann jeder halten wie er will. Unter Katholiken und Protestanten ist das nicht anders. Nicht zu beanstanden ist auch die folgende Aussage: „Ohnehin gibt es ‚den‘ Muslim nicht, so wenig wie ‚den‘ Islam, ‚das‘ Christentum oder ‚die‘ Christen.“ Trotzdem schreibt er auf der nächsten Seite, ohne mit der Wimper zu zucken: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Ceyhun ist „für den Islamunterricht an deutschen Schulen. Es wird schwierig sein, ihn einzuführen, weil die verschiedenen Glaubensrichtungen des Islam sich über die Lehre so uneins sind. Dennoch sollte man sich dafür einsetzen, eben weil der Islam auch zu Deutschland gehört.“ Mehr Widersprüchlichkeit ist kaum vorstellbar.

Ceyhun weiter: „Muslime und Christen teilen gar nicht so wenige Werte, auch wenn vielen Gläubigen [es bleibt offen, ob er damit nur Muslime oder diese und Christen meint] das nicht bewusst ist.“ Jetzt rechnet man an sich damit, dass er ein paar Beispiele anführt, und wird leider enttäuscht. Stattdessen schreibt er im nächsten Absatz: „Ich verstehe die Deutschen gut, die Angst davor haben, dass die Muslime Werte mitbringen könnten, die nicht in die deutsche Kultur integrierbar sind. Denn die beiden Lebenskulturen unterscheiden sich nun einmal voneinander“. Und: „Ich weiß nicht, wie man dieses Problem lösen kann. Aber ich weiß, dass es wichtig ist, darüber zu reden.“ Das erinnert fatal an die Platitude „Gut, dass wir darüber geredet haben.“

Neben dem Islamunterricht und dem christlichen Religionsunterricht schlägt Ceyhun die Einführung eines Pflichtfaches „Allgemeine Religionskunde“ vor. Zur Begründung führt er unter anderem aus: „Alle Religionen pflegen Grundwerte, die wichtig für das Zusammenleben sind. Eine solche allgemeine Religionskunde gäbe den Kindern die Möglichkeit, die einigenden Elemente der Religionen kennenzulernen, zum Beispiel in puncto Menschenrechte und Humanität. Egal, welcher Religion sie angehören, sollen sie erfahren, dass wir uns alle auf diese Werte berufen und uns darin einig sind – und dass sie sich nichts anderes einreden lassen dürfen.“

Nun ist nicht klar, wer mit „uns alle“ gemeint ist. Denn den 57 (derzeit nur 56 wegen der Suspendierung Syriens am 14. August 2012) in der Konferenz für Islamische Zusammenarbeit zusammengeschlossenen Staaten (Gründungsmitglied Türkei, 1969) genügt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948 keineswegs. Sie haben vielmehr am 5. August 1990 die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam beschlossen, deren Artikel 24 lautet: „Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Scharia.“ Entweder Ceyhun weiß dies nicht oder er verschweigt es. Beides ist für den Autor eines solchen Buches gleich schlimm.

Ich könnte diese Argumentation noch eine Weile fortsetzen, doch genügt das bisher Gesagte, um zu erkennen: Wer etwas über Ozan Ceyhun und seine wirre Gedankenwelt erfahren möchte, wird das Buch mit Gewinn lesen. 

Foto: Damiano Luchetti via Wikimedia Commons

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Roland Stolla-Besta / 23.05.2016

Die Türkei gehört absolut zur EU. Die würde die Hanseln hierzulande am Nasenring durch die Arena führen, und das wäre gut so.

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