Thomas Rietzschel / 04.09.2016 / 15:53 / 5 / Seite ausdrucken

Erdogans Mädchen

Endlich ist der Groschen gefallen. In der abgelaufenen Woche hat die Bundesregierung erkannt, dass sie mit der Demokratie Schluss machen muss, wenn sie die Zügel in der Hand behalten will. Andernfalls könnte sie demnächst vor einem Scherbenhaufen stehen, wie ihn die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern heute, in wenigen Stunden, wird zusammenkehren müssen. Wer das Volk führen will, weil er weiß, was ihm frommt, darf sich nicht von des Volkes Stimme beirren lassen, noch darf er zulassen, dass sich das anstandshalber geduldete Parlament mausig macht. Wer da die Zügel schleifen lässt, kann schnell das Vertrauen von seinesgleichen an der Spitze anderer Staaten verspielen. Halbautokratisch geht so wenig halbschwanger.

Was mag Freund Erdogan von Angela Merkel gedacht haben, als sie tatenlos zusah, wie der Deutsche Bundestags am 02. 06. diesen Jahres mehrheitlich für die Annahme einer Resolution stimmte, in der die Massentötung Hunderttausender Armenier im Osmanischen Reich als "Völkermord" verurteilt wurde. Und das obendrein auf Antrag der Regierungsfraktionen im Verbund mit den Grünen. Zwar hatten sich die Spitzen des Staates vorsorglich in die Büsche geschlagen, um nicht mit für oder gegen die Annahme der Erklärung stimmen zu müssen. Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen, Erdogan peinlich mit der Geschichte seines Reiches zu konfrontieren?

War die Bundeskanzlerin nicht mehr Herr der Lage? Hatte sie den Laden, ihren Staat, weniger im Griff als der deutsche Kaiser ehedem, da er sich aller naseweisen Kommentare zur osmanischen Lösung der Armenien-Frage enthielt, um das mindeste zu sagen? Fehlte ihr der Mumm, mit dem Reichskanzler Bethmann Hollweg 1915, nach der Unterrichtung über die Massenmorde, erklärte: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Krieg werden wir die Türkei noch sehr brauchen."

Merkel reagiert kopflos

Tatsächlich wird auch die amtierende Bundeskanzlerin noch lange auf den türkischen Beistand angewiesen sein, um eine Krise zu überleben, an deren Zustandekommen sie nicht weniger Schuld trägt als der deutsche Kaiser Wilhelm II. am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dass sie gleichwohl zusehen musste, wie das Parlament beschloss, wozu sich die Abgeordneten durch ihr Gewissen verpflichtet fühlten, was ja selten genug vorkommt, dieser Ohnmachtsanfall zeigt vermutlich mehr als alles sonst, dass Merkel dem Ende ihrer Herrschaft entgegen taumelt. Und wie alle Angeschlagenen fällt sie dabei immer öfter aus der Rolle. Wo sie souverän reagieren müsste, zieht sie einen Flunsch. Sie reagiert kopflos.

Geradezu kindisch mutete es an, als sie den verärgerten Sultan dieser Tage über die Medien zu beruhigen versuchte: Schließlich sei das mit der Resolution doch gar nicht so ernst zu nehmen, im Grunde wirkungslos, keinesfalls rechtsverbindlich, vielmehr Ausdruck der moralischen Wichtigtuerei eines Parlaments, das der Regierung ohnehin nichts zu sagen hat.

Damit er ihr wieder gut ist, spielte Angela Merkel Erdogans Mädchen, brav und einsichtig. Ihr Außenminister setzte danach noch eins drauf, indem er gestern "selbstkritisch" erklärte, die Europäer und die Deutschen zumal hätten es an der nötigen "Empathie und Emotionalität" bei der Verurteilung des "Putsches" gegen Erdogan fehlen lassen.  Sollte wohl heißen, wir hätten uns nicht so sehr über die anschließenden Massenverhaftungen und die Abschaffung der Meinungsfreiheit aufregen, als vielmehr das entschlossene Handeln des Autokraten bewundern sollen.

Erdogan lässt Gnade walten

In Ankara ist die Botschaft gut angekommen. Es gibt Anzeichen, dass Erdogan geneigt sein könnte, Gnade walten zu lassen. Die Abgeordneten des Bundestages dürfen sich nach Wochen quälenden Wartens Hoffnung auf die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches machen: einen Besuch bei den deutschen Soldaten auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik. Welche eine Aussicht für die Parlamentarier, die sich vor wenigen Jahren mehrheitlich für die Aussetzung der Wehrpflicht entschieden. Und welch ein Glück für Angela Merkel, dass Freund Erdogan nun wieder willens scheint, uns die Flüchtlinge noch eine Weile vom Hals zu halten, selbst wenn die EU den Türken die geforderte Visa-Freiheit nicht gleich ab Anfang Oktober gewähren sollte.

Jetzt, wo alle Zweifel daran ausgeräumt sind, dass er die Deutschen am Haken hat, kann Erdogan die EU in aller Ruhe zappeln lassen. Auf sein Mädchen wird Verlass sein. Wie einstmals Bethmann Hollweg muss sie, Völkermord hin oder her, die Türkei an ihrer Seite halten, diesmal bis zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Wie lange das dauern mag, weiß der Himmel. Er allein weiß aber auch, wie ihre Kumpanei mit dem Sultan bei den Wählern hierzulande ankommen mag. Auf längere Sicht, bei der Abrechnung an der Wahlurne,  werden sie ihr das so wenig verzeihen wie den Zustrom weiterer Flüchtlinge. "Die mächtigste Frau der Welt" sitzt in der Sackgasse, mit dem Rücken zur Wand.

Wie sie da noch einmal herauskommt, könnte sie sich unter Umständen von ihrem türkischen Kollegen erklären lassen. Ist er doch selbst gerade dabei, sich die Demokratie vom Halse zu schaffen. Die Aneignung dieses Know-hows dürfte Angela Merkel indessen so schwer nicht fallen. Sie müsste bloß den Slogan etwas verändern, den sie als Sekretärin für Agitation und Propaganda der FDJ verbreiten half. Statt "Von der Sowjetunion lernen, heißt, siegen lernen" würde es dann heißen. "Von der Türkei lernen, heißt, die Macht behaupten."

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Leserpost

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Armin von Thal / 06.09.2016

Herr Buitoni, Ich erinnere daran, dass Herr Rietschel nur angedeutet hat, dass Wilhelm II eine “Mitschuld” am Zustandekommen des I Weltkrieges traegt, nicht mehr und nicht weniger! Sehr wohl haette er (auch rechtlich) intervenieren koennen, aber der “Franzoesische Stachel” sass bei allen “Germanischen Fuehrern” historisch immer schon zu tief! Also bitte, keine laecherliche “Absolution” fuer das “Kaiserreich”, diese “Klicke” haette Schlimmeres verdient, als ein “orangenes Gnadenbrot” !

Johannes Doe / 05.09.2016

Nun ja, die Frau Merkel hat ja von Hause aus einen Hang zum Devoten. Als Schröder seinerzeit dem Herrn Busch sagte: “Och nö, Krieg spielen im Irak, da haben wir keinen Bock drauf.” - ist die devote Angie im kurzen Rock nach Amerika geeilt und hat im vorauseilenden Gehorsam einen Kotau vom Feinsten hingelegt. Stand ihr als Oppositionspolitikerin zwar nicht zu, aber sie kann da wohl nicht aus ihrer Haut. Da besteht wohl eine Neigung zu religiös geprägten, strengen Männern.

Ulrich Jäger / 04.09.2016

Was Erdogan wohl perfekt versteht, ist die Kunst des Politikpokers. Die “Spekulation” über eine Stationierung russischer Kampfflugzeuge im NATO-Stützpunkt Incirlik wird die USA und demzufolge auch die NATO dermaßen aufgeschreckt haben, dass alle “Drohungen” der EU und Deutschlands (Armenienresolution, Visaproblematik) auf wundersame Weise obsolet werden. Und so ergibt der Kotau der “mächtigsten” Frau einen Sinn.

Thomas Nuszkowski / 04.09.2016

Von Merkel lernen, heißt kriechen lernen.

Dr. Ralph Buitoni / 04.09.2016

Sehr geehrter Herr Rietzschel, bitte korrigieren Sie Ihre Aussage bezgl. einer besonderen Kriegsverantwortung Kaiser Wilhelms II. Diese Legende ist längst in der Forschung widerlegt. Kaiser Wilhelm II. war in die Entscheidungen Krieg oder Frieden in der Juli-Krise gar nicht enger oder entscheidend eingebunden, da er sich auf Nordlandfahrt befand. Nach seiner vorzeitigen Rückkehr kann ihm allein der Vorwurf gemacht werden, dass er nicht energischer in das Handeln der Reichsregierung eingegriffen hat. Allerdings würden ihm dann die Klugscheißer späterer Epochen noch heute den Vorwurf machen, dass er entgegen der Verfassung den Entscheidungen seines Kanzlers und des Kabinetts einseitig entgegen entschieden hätte - persönlich hat er jedenfalls eine Entscheidung zum Krieg nicht forciert, oder gar einseitig gefordert! Im Gegenteil! Als der Krieg gegen Frankreich schon erklärt und der durch den Schlieffen-Plan vorgesehene Einmarsch in das neutrale Belgien und Luxemburg schon erfolgte, da rief er kurzzeitig zu einem Stopp des Vormarsches auf (was technisch kaum machbar war), da sich scheinbar die Chance eröffnete, mit Großbritannien zu einer Verhandlungslösung kommen zu können. Kaiser Wilhelm Il. war sicher kein Pazifist, und war je nach Umständen sicher auch bereit zum Krieg (wie andere Staatsmänner der Zeit auch), aber eine einseitige, unilaterale, mit den Bündnispartnern nicht abgestimmte Entscheidung zum Krieg unter der Parole “Wir schaffen das” hat es durch ihn nicht gegeben! Vielmehr sah sich die deutsche Seite durch (womöglich falsche) Rücksichtnahme auf den Bündnispartner Österreich zu diesem Schritt genötigt (können uns diplomatische Niederlage nicht leisten).....

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