Peter Grimm / 15.04.2016 / 18:25 / Foto: Arnaud 25 / 2 / Seite ausdrucken

Erdogan und die Bundesregierung: Zitate aus einer anderen Welt

Wenn Sie gerade etwas fassungslos versuchen, die Nachrichten zu verdauen, dass die Bundesregierung jetzt tatsächlich deutsche Staatsanwälte zu einem Ermittlungsverfahren wegen der Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Marsch setzt und Sie eventuell zusätzlich darunter leiden, dass einen diese Ungeheuerlichkeit nun auch noch dazu zwingt, sich mit Jan Böhmermanns unflätigem Schmähreim zu solidarisieren, dann empfehle ich Ihnen zur Erholung eine kleine Zeitreise. Sie ist so kurz, dass Ihnen alle handelnden Personen wohlvertraut sind. Fangen wir an:  

Bundespräsident Joachim Gauck kann über die Zustände in der Türkei unter Erdogans Regentschaft nicht länger schweigen: „In jüngster Zeit erreichen uns aber auch Stimmen der Enttäuschung, der Verbitterung und Empörung über einen Führungsstil, der vielen als Gefährdung für die Demokratie erscheint. […] Wenn Protest auf der Straße gewaltsam unterdrückt wird und Menschen dabei sogar ihr Leben verlieren. Ich gestehe: Diese Stimmen erschrecken mich“, sagte der Präsident. Gauck pflegt hier keinen verbalen Kuschelkurs: „Wir erleben […], dass kritische Journalisten entlassen, auch verurteilt, Zeitungen mit Veröffentlichungsverbot belegt und Herausgeber juristisch unter Druck gesetzt werden.“ Klare Worte an den Möchtegern-Sultan, der Redaktionen durch Polizisten besetzen lässt. „Meine gesamte Lebenserfahrung hat mich zudem gelehrt: Wo die freie Meinungsäußerung eingeschränkt wird, wo Bürger nicht, oder nicht ausreichend informiert, nicht gefragt und nicht beteiligt werden, wachsen Unmut, Unerbittlichkeit und letztlich auch die Bereitschaft zur Gewalt.“

Dass Recep Tayyip Erdogan auf jede Form von Kritik sehr empfindlich reagiert, muss ja niemandem mehr eigens gesagt werden. Für seine Verhältnisse empört sich der Herrscher aus Ankara zunächst auch noch moderat: "Ich habe dem deutschen Staatspräsidenten gesagt, dass wir seine Einmischung in die inneren Angelegenheiten unseres Landes niemals dulden werden", sagte Erdoğan. Dieses Verhalten sei "einem Staatsmann nicht angemessen" gewesen, „Das geht nicht. Das ist hässlich."

Nun weiß jeder, der Erdogan kennt, dass das erst der Anfang einer Eskalation und eines Machtspiels ist, es sei denn man weist ihn in die Schranken. Der Bundespräsident ist auch tatsächlich nicht bereit, wegen Erdogans Kritik einzulenken: "Ich habe nichts erfunden. Und ich bin eher zurückhaltend gewesen bei meinen Anmerkungen. Ich glaube, das hätte jeder Bundespräsident gemacht."

Kein Einlenken? Was wird der Herrscher in Ankara nun tun? Ruft ihn vielleicht jemand beschwichtigend an? Oder schickt das Auswärtige Amt von sich aus den Botschafter zum Rapport? Nichts dergleichen. Stattdessen wird gemeldet: „Auch im Auswärtigen Amt stößt Erdogans Kritik auf entschiedenen Widerspruch. Die ‚emotionalen Auslassungen‘ Erdogans seien ‚weder im Inhalt noch im Ton angemessen‘, sagte Staatsminister Michael Roth der ‚Welt‘. ‚Ich kann mich nur wundern und den Kopf schütteln‘, fügte er hinzu.“

Jetzt aber muss doch die Kanzlerin endlich zum Telefon greifen, um die türkische Führung zu besänftigen. Vielleicht hilft es ja, wenn überall die hässlichen Bundespräsidenten-Worte aus den Mediatheken und Online-Archiven verschwinden. Was sagt also Regierungssprecher Steffen Seibert nun zur präsidialen Kritik an Erdogan? Etwas ganz anderes als im Jahr 2016: Die von Gauck benannten Punkte böten auch der Bundesregierung Anlass zur Besorgnis. "Da gibt es keinen Unterschied zwischen der Einschätzung des Bundespräsidenten und der Bundesregierung." Und um das zu bekräftigen bekennt sich Innenminister Thomas de Maizière: "Ich bin stolz auf unseren Bundespräsidenten."

Wenn Sie jetzt noch nicht schon in die Quellenlinks geschaut haben, lösen wir an dieser Stelle auf, in welcher Zeit wir gerade waren. Alle Zitate stammen aus dem April 2014, sind also fast genau zwei Jahre alt. Es war der Staatsbesuch des Bundespräsidenten in der Türkei, bei dem die zitierten Worte für Verstimmung sorgten. Diese Zitate muten heute an, wie aus einer anderen Welt. Und gerade das ist das Erschreckende an diesem Rückblick, dass wir so quasi messen können, wie weit es mit unserer Bereitschaft, für Grundrechte und Freiheiten einzutreten, in diesen 24 Monaten bergab gegangen ist.

Zuerst erschienen auf Sichtplatz.de hier

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Torsten Koch / 17.04.2016

Es ist in der Tat erstaunlich, dass sich dieses Spektakel im Deutschland von 2016 so ausbreiten und entwickeln kann; Der einzig für mich interessante Aspekt im Verhalten des “Kalifen von Ankara”: Die extrem kurze Lunte, die die Person direkt zur Explosion bringt. Eine Tatsache, die Erdogan mit vielen seiner Landsleute verbindet und die auch die arabische, männlich bestimmte Kultur von der unseren unterscheidet. Ist unser Ehrbegriff so verwässert oder schiesst ihr Ehrbegriff über das Ziel hinaus? Eine müssige Frage. Entscheidend ist, dass sich die zwei Lebenswelten auf absehbare Zeit nicht vertragen werden. Ansonsten würde ich mich durch ein soch minderwertiges Schmähgedicht, vorgetragen von einem unterdurchschnittlich begabten Vertreters unseres Zwangsfernsehens, ebenso beleidigt fühlen.

Helmut Driesel / 16.04.2016

  Der Herr Ederer hat ja hier das schöne Gedicht des Genies, Nationalisten und Monarchisten J.W. Goethe zitiert, womit eigentlich das Wichtigste gesagt ist. Nun kann sich der Herr Bundespräsident ja orientieren, woran immer er möchte, es müsste nicht einmal zwingend das Grundgesetz sein. Insbesondere, da sein Amt ihm ja nicht so übermäßig viel Macht verleiht, eher so eine Art moralisches Spitzenhäubchen auf unserer Demokratie darstellt. (Jetzt bitte nicht gleich an Arsen denken!) Ein Bundespräsident kann sich äußern, wie und worüber er möchte, man kann ihn nicht ohne schweres Geschütz absetzen, höchstens zum Rücktritt auffordern. Eine andere Frage ist es, wie klug und weitsichtig es ist, den Nationalisten und möglicherweise Protofaschisten Erdogan aus der Ferne zu kritisieren. Auch den Saudis ist er ja schon auf die Zehen getreten. Hat und hatte das einen Nutzen und wenn ja, für wen? Und dann könnte man sich noch die Frage stellen, ob der Herr Gauck vergleichbare Verhältnisse oder Fälle im eigenen Staatsgebilde in ähnlicher Weise anprangern würde. Bisher hat er das nicht getan. Wahrscheinlich, das ist eine persönlich begründbare Vermutung, wird er es auch auf ausdrückliches Bitten hin nicht tun. Ich bin aber sicher, dass er auf eine Beleidungsorgie a`la Böhmermann in geeigneter strafrechtlicher Weise reagieren würde. Ich sehe hier nur niemanden, der dazu genug geballte Experimentierfreude in der Hose hat. Alle “weimern” nur herum. Weil’s halt nichts kostet.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Peter Grimm / 12.04.2024 / 06:15 / 136

Kein Drama beim Höcke-Duell

Dass Thüringens CDU-Chef Mario Voigt mit seinem AfD-Pendant Björn Höcke in ein TV-Duell ging, sorgte für Aufsehen und Protest. Heraus kam eine ganz normale Fernsehsendung,…/ mehr

Peter Grimm / 11.04.2024 / 12:45 / 50

Die Rundfahrt eines Polizeibekannten

Der Irrwitz deutscher Asylpolitik zeigt sich zuweilen auch in absurden Geschichten aus dem Polizeibericht. Bei zu vielen Asylbewerbern drückt sich das Verhältnis zur Gesellschaft im…/ mehr

Peter Grimm / 09.04.2024 / 06:15 / 140

Droht eine Landesregierungs-Entmachtung nach AfD-Sieg?

Fünf Jahre nach dem „Rückgängigmachen“ einer Ministerpräsidentenwahl überlegen Juristen jetzt, wie man missliebige Landesregierungen mittels „Bundeszwang“ entmachten und zeitweise durch einen Staatskommissar ersetzen könnte. Sie…/ mehr

Peter Grimm / 03.04.2024 / 13:00 / 33

Wer darf Feindsender verbieten?

Wenn Israel das Gleiche tut wie EU und deutsche Bundesregierung zwei Jahre zuvor, dann ist selbige Bundesregierung plötzlich besorgt. Bei Doppelstandards ist Deutschland immer noch…/ mehr

Peter Grimm / 30.03.2024 / 09:00 / 75

Durchsicht: Die populärste Kommunistin?

Sahra Wagenknecht verteidigte als Kommunistin die DDR und begeistert heute selbst Konservative. Klaus-Rüdiger Mai beschreibt, wie die Frau zu verstehen ist. / mehr

Peter Grimm / 24.03.2024 / 12:00 / 77

Fürchtet Putin Angriffe aus verdrängten Kriegen?

143 Todesopfer hat der Anschlag auf ein Konzert in der Moskauer Region gefordert. Der Islamische Staat hat sich dazu bekannt, doch der Kreml hätte gern andere…/ mehr

Peter Grimm / 18.03.2024 / 10:00 / 78

Durchsicht: Migrationstheater im Bundestag

Am Freitag debattierte der Bundestag wieder einmal über die Migrationskrise. Die Selbstdarstellung der Nach-Merkel-CDU war, wie auch die Reaktion aus der SPD, bemerkenswert. Politisch wenig…/ mehr

Peter Grimm / 14.03.2024 / 12:30 / 55

Nix rausgekommen beim Kanzler?

Am Mittwoch stellte sich Bundeskanzler Olaf Scholz den Fragen der Bundestagsabgeordneten und schaffte es wieder, mit vielen Worten keine klare Antwort zu geben. Und er…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com