Hans-Hermann Tiedje, Gastautor / 09.08.2016 / 10:22 / Foto: Spalt / 26 / Seite ausdrucken

Elf Jahre Merkel - eine Bilanz

Von Hans-Hermann Tiedje. 

2005 war ein denkwürdiges Jahr. George Bush jr. begann in Washington seine zweite Amtszeit, Wladimir Putin regierte in Moskau schon im sechsten Jahr, in Berlin wurde das Holocaust-Denkmal eingeweiht, Recep Tayyip Erdogan dirigierte als Ministerpräsident die Türkei und legte Wert auf beste Beziehungen zu Syrien, wo Bashar al-Asad gerade sein Fünf-Jahre-Regierungsjubiläum feierte. Der Airbus A380 bestand seinen Jungfernflug, Oskar Lafontaine trat aus der SPD aus, Joseph Ratzinger wurde Papst. Gerhard Schröder verlor erwartungsgemäss die Vertrauensfrage und danach die Bundestagswahl. So sah die Welt in den Monaten aus, da Angela Merkel, geborene Kasner, als Bundeskanzlerin antrat. Im Irak und in Afghanistan wurde zwar gekämpft, aber insgesamt war die Welt friedvoller als heute. Und in ihrer ersten Silvesteransprache teilte Merkel der deutschen Nation wörtlich mit: «Die Finanzen haben wir beim letzten EU-Gipfel in Ordnung gebracht.»

Das Verhältnis zur Türkei war freundlich-abwartend. Die frischgebackene Kanzlerin Merkel propagierte eine «privilegierte Partnerschaft» und lehnte jegliche Visafreiheit für Türken strikt ab. Das Land sei nicht reif dafür. Die griechische Finanzkatastrophe dräute noch hinter dem Horizont. Es galt vertragsgemäss «no bail-out», kein EU-Mitglied haftete für die Schulden der anderen.

Den Zustrom der Flüchlinge präzis vorausgesagt

Dass allerdings Europa zum gelobten Land für Millionen Migranten aus der arabischen und schwarz-afrikanischen Welt werden könnte, zeichnete sich deutlich ab. Schon 2004 propagierte der deutsche SPD-Innenminister Otto Schily die Idee, das Elend der Bevölkerungswanderung am Mittelmeer durch die Einrichtung von Zentren zur Registration in nordafrikanischen Herkunftsländern zu filtern oder zu stoppen. Und Walter Laqueur veröffentlichte sein seherisches Alterswerk «Die letzten Tage von Europa – Ein Kontinent verändert sein Gesicht». Darin sagte er den muslimischen Zustrom samt allen Problemen präzise voraus. So neu und überraschend kann also das, was 2015 passierte, für die politischen Akteure nicht gewesen sein – es sei denn, sie waren blind oder anmassend. Die Flüchtlinge kamen nicht über Nacht. Und dass «Syrien vor der Haustür der Europäischen Union» liegt, wie Merkel am 16. März 2016 als Begründung feststellte, war auch nicht neu: Syrien lag schon 2005 vor der Haustür der Europäischen Union.

Wie also sieht die Bilanz aus heute, nach elf Jahren Kanzlerschaft Merkel? Das Verhältnis zur Türkei liegt in Trümmern. Daran sind beide Seiten schuld. Merkel geht es erkennbar nur noch ums eigene politische Überleben – wie sonst wäre erklärbar, dass sie sich jetzt auf die Visafreiheit für Türken eingelassen hat – ein weiterer Pakt auf Kosten der deutschen Bürgergesellschaft. Zwar hat die Kanzlerin sich von ihrer höchstpersönlichen Willkommens- und Selfie-Kultur nicht öffentlich distanziert, aber ihre Politik hat sich gewandelt. Sie versucht, ihre europäischen Amtskollegen von einer gemeinsamen Migrationspolitik zu überzeugen. Deren Bereitschaft, Flüchtlinge, Schutzsuchende, Wirtschaftsmigranten oder schlichte Einwanderer aufzunehmen, geht allerdings weiterhin gegen null, und auch im Lande der Angela Merkel sind stabil zwei Drittel der Bevölkerung gegen weitere Zuwanderung.

In dieser Lage hängt obendrein Griechenland, der europäische Schlüsselstaat in der Migrationsfrage, unverändert am finanziellen Tropf Brüssels, also Berlins. Populisten haben in Europa massiv Zulauf, der islamistische Terror rückt immer näher, und Deutschland, der grösste Nettozahler, geniesst in Europa immer weniger Sympathie – von der Türkei über Griechenland bis Russland.

Kohl hätte niemals Migranten in dieser Zahl aufgenommen

Wäre es auch passiert, wenn zum Beispiel Helmut Kohl heute Kanzler wäre statt Merkel? Nein, es wäre voraussichtlich anders gekommen. Denn in den Charakteren Merkel und Kohl verbergen sich komplett unterschiedliche Dispositionen. Das beginnt im Grundsätzlichen. Helmut Kohl hat das Volk immer als Souverän gesehen, und das hat er akzeptiert. Merkel hingegen ist sozialisiert in der SED-Diktatur der DDR. Dort hat sie das Volk als Masse erlebt, das die Vorgaben der Politik zu beachten hat. In diesem Stil regiert sie. Die Deutschen sind bis heute in der Flüchtlingsfrage von ihrer Kanzlerin nicht gefragt worden. Kohl hingegen erreichte während seiner gesamten Amtszeit nicht annähernd die Popularitätswerte von Angela Merkel. Dennoch regierte Kohl mit dem Volk und nicht dagegen. Kohl hätte niemals Migranten in dieser Zahl aufgenommen.

Merkels Schwäche liegt darin, dass sie augenscheinlich kein wirkliches Gestaltungsziel hat und dass es ihr an historischem Bewusstsein fehlt. Die Bundeskanzlerin setzt ganz ungeniert auf das kurze Gedächtnis der Menschen: Sie schaffte die Wehrpflicht ab, obwohl die Union diese jahrzehntelang verteidigt hatte; sie setzte den Atomkraft-Ausstieg durch, obwohl sie ihn zuvor abgelehnt hatte. Auch beim Mindestlohn und bei der Visafreiheit für Türken vollzog sie einen Schwenk. Helmut Kohl hingegen setzte ausdrücklich auf das historische Gedächtnis der Nation. Er war wie Willy Brandt und Konrad Adenauer ein Kind von Kriegs- und Nachkriegszeit: Deutschland in Europa ja, aber nicht als Vormund der anderen.

Jede Biografie beginnt mit der Herkunft. Wofür Angela Merkel nichts kann: Ihr Vater hielt das DDR-System für das bessere, deshalb zog er freiwillig von Hamburg in den SED-Staat. Dass sie selbst die Dinge anders bewertet, ehrt sie, macht aber ihre Herkunft nicht anders.

Bill Clinton, der alte Kohlianer, sagte: «Gute politische Führung zeigt sich an der Vermeidung von Krisen.» So gesehen müsste Angela Merkel schon morgen ihren Hut nehmen. Kohl nutzte die einmalige Chance zur deutschen Einheit entschlossen, weil Kohl deutsch und europäisch dachte, und deshalb setzte er auch den Euro durch. Aber Kohl entschied das nicht im Selbstgespräch, sondern Arm in Arm mit Frankreich (Mitterrand), Spanien (Felipe Gonzalez) und Italien (Andreotti, Prodi). Kohl hat selbst eine türkische Schwiegertochter, aber das hatte keinen Einfluss auf seine Skepsis betreffend die Einflussnahme des Islam auf die Werte unserer Kultur. Ganz simpel: Kohl hatte eine Vision, und Merkel hat keine. Deutschland zum Weltflüchtlingsaufnahmeland Nummer eins zu machen, ist eher keine Vision. Angela Merkel ist der Prototyp des «Nudge»-Politikers, wie die Amerikaner sagen. Zum Beispiel wird das, was deutsch ist, unter Merkel als europäisch umgedeutet.

Merkels Politik liegt wie Mehltau über dem Land

So haben wir nun die Lage, dass Deutschland aus eigener Verantwortung für alles und jedes in Europa verantwortlich gemacht wird. «Die Franzosen haben nicht ‹willkommen!› gerufen», sagte Premierminister Valls ganz offen. Während Merkels Herolde den Deutschen einzureden versuchen, die Nahost-Migranten wären sowieso gekommen, beurteilt fast ganz Europa das anders. Wo immer man hinhört, sind die Deutschen schuld an der Eskalation. Es ist unerheblich, ob das beabsichtigt war: Erst hat Merkel das Land gespalten, dann die CDU/CSU, und dann auch noch den Kontinent. Wen sollen da die Schönfärbereien deutscher Regierungspolitiker überzeugen? Nur in der Bundesrepublik gibt es Menschen, denen man einredet, dass die Spanier als Abwehrmassnahme Zäune um ihre Exklaven Melilla und Ceuta bauen, um dann Flüchtlinge aus dem Nahen Osten willkommen zu heissen. Manche CDU-Politiker sagen, der Migrationsdruck sei nicht vorhersehbar gewesen. Sie haben offenkundig nie Laqueur gelesen.

Die erste Chance für die deutsche Bevölkerung, sich zu Merkels Migrationspolitik zu äussern, kommt bei den Wahlen Ende 2017 – dann beträgt die Zahl der Migranten 1,5 Millionen. Zwar wurden die desaströsen Landtagswahlen im März von Erklärern und Verstehern in ein Vertrauensvotum für Frau Merkels Einwanderungspolitik umgedeutet, aber die Wahrheit ist: Angela Merkels Politik liegt inzwischen wie Mehltau über dem Land. Das Schicksal der Democrazia Cristiana in Italien, die nach fünfzig Jahren Regierung längst nicht mehr existiert, dürfte CDU-Politikern nicht entgangen sein. Auch das Ende der italienischen Staatspartei begann damit, dass der Staat seine Autorität verlor. Politik machen heisst Menschen einen Sinn geben. Dafür muss man bei den Grundwerten eine erkennbare Linie halten. Darin liegt die Bedeutung der geistigen Führung. Bei Merkel? Comme ci, comme ca. Sie hat mit der SPD koaliert, mit der FDP, wieder mit der SPD, beim nächsten Mal vielleicht mit den Grünen. Man kann das offen nennen, geschmeidig oder auch nur beliebig.

Von Kohl stammt der Satz: «Man muss das Machbare an dem bemessen, was dem anderen zumutbar ist.» Die anderen – Polen, Ungarn, Österreicher, Spanier, Italiener – leben mit ihrer Geschichte. Diese Völker haben ein eigenes historisches Bewusstsein. Sie brauchen keine Belehrungen über europäische Werte. Kohl drang mit dem Wunsch, in der Präambel der EU den Gottesbezug zu installieren, nicht durch. Kohl wusste: Das Kopftuch ist mehr als ein Stück Stoff, es trennt das Abendland vom Morgenland. Wie weit ist die Pfarrerstochter Merkel heute von einem solchen Gedanken entfernt? Und was bedeutet das für die Zukunft der CDU?

Vorhersehbar nichts Gutes.

Hans-Hermann Tiedje war Medienberater von Bundeskanzler Kohl. Er ist Aufsichtsratschef der Medienagentur WMP EuroCom AG in Berlin. Der Beitrag ist gestern in der NZZ erschienen. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Foto: Spalt

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Dietrich Herrmann / 09.08.2016

Kurz gesagt: MERKEL HAT FERTIG!

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