Großartiger Essay von Frank Schmiechen in der WELT.
Auszug:
“…Das Licht der Aufklärung scheint für viele zu grell. Die harten Ecken und Kanten der Wirklichkeit jagen einen gewaltigen Schrecken ein. Es gibt eine machtvolle Bewegung, die elektrische Geräte am liebsten wieder abschalten will. Unzählige Artikel, in denen sich über die dunklen Kräfte der Netze aufgeregt wird. Vor allem über die Computer und das Internet. Zurück in den Wald. Zurück in das Zwielicht der Höhle. Zurück in dieses herrliche, weiche Kerzenlicht, in dem die Konturen verschwimmen. Die übermenschliche Zahl von Informationen, der nie enden wollende Strom von Mails, Tweets, Videos, Bildern – wird es langsam zu viel? Ausschalten ist zur Sehnsucht geworden. “Ich bin seit gestern Abend abgeschaltet”, erzählt begeistert eine New Yorkerin, welche die absolute Ruhe nach dem Sturm genießt. Wie dieses kleine, ängstliche Mädchen, das die Augen schließt, weil es glaubt, dass das Monster dann weg wäre. Nein, die Welt bleibt, wie sie ist, auch wenn wir nicht mehr hinschauen oder jemand einfach den Strom abstellt.
Im Jahr 1965 schließt sich der junge Folksänger Bob Dylan an den Stromkreislauf an und stöpselt auf dem Folkfestival in Newport eine Elektrogitarre in den elektrischen Verstärker. Das Publikum ist schockiert. Vorher hatte er doch immer nur akustisch gespielt. So ursprünglich, wahr, so glaubwürdig und erdverbunden wie ein Fischer, der in aller Herrgottsfrühe seine Netze auswirft. Wie ein Holzhacker im dunklen Wald. Ohne die Hilfe einer fremden Macht. Hinter der Bühne versucht der Legende nach ein verzweifelter Veranstalter, die Stromleitung mit einer Holzhacker-Axt zu zerstören, um Dylan mit Gewalt zurück in den Naturzustand zu versetzen. Innerhalb dieses einen Tages vollzieht Dylan seinen ganz persönlichen Sprung in die Moderne und schließt sich an das Netzwerk an. Für viele seiner Fans ist Strom verdächtig, unmenschlich und falsch.
“We have power”, steht auf einem kleinen Pappschild, das eine New Yorker Familie über den Zaun auf die Straße gehängt hat. Darunter baumelt eine Mehrfachsteckdose zur freien Verfügung. Passanten versammeln sich vor dem Haus, um die Akkus ihrer Handys und Laptops aufzuladen. Vor den geschlossenen Filialen der Kaffeekette Starbucks treffen sich Scharen von Menschen, die das noch funktionierende WLAN-Netz nutzen, um ins Internet zu gehen. Sie wollen weiter kommunizieren, an dem Kreislauf angeschlossen und ein Teil der Menschheit bleiben. Die Mehrfachsteckdose ist nicht einfach ein Stromverteiler, sie ist der Eingang in unsere Zivilisation. Für die Leute, die hier ihre Geräte aufladen, ist Strom echt, wichtig und menschlich…”