Überführt man ein Mitglied der gebildeten Stände der heimlichen Lektüre der Bild-Zeitung, so kann man ziemlich sicher sein, dass die Entschuldigung lautet: „Ich schaue da nur wegen der Bundesliga-Ergebnisse rein“. Wir kennen das auch noch von früher, als das Magazin Playboy eine der wenigen Möglichkeiten war, ein Nacktfotomagazin zu erwerben, ohne an der Kasse rot zu werden. Und zwar wegen der hervorragenden Interviews mit ausgesucht klugen Menschen, die als schwerintellektuelle Zugabe zwischen die Bildstrecken gestreut waren.
Wer Sündiges verkaufen will, sollte sein Produkt grundsätzlich mit einer eingebauten Entschuldigung ausrüsten, das gilt auch heute noch. Allerdings haben sich die Vorstellungen von Sünde ziemlich geändert. Wegen Nackedeis hebt heute niemand mehr die Augenbraue. Dafür werden Autofahrer scheel angesehen, wenn sie mit einem dieser riesigen SUV-Allradlimousinen unterwegs sind - besonders von nachhaltig gesinnten Menschen mit Fahrradanhänger. Allerdings ist die Verlockung am Steuer einer automobilen Trutzburg zu sitzen für viele trotzdem unwiderstehlich, selbst für ausgewiesene Mitglieder des Bionade-Bürgertums. Wer nachfragt, wie dies mit dem grünen Gewissen vereinbart werden kann, erhält mit ziemlicher Sicherheit folgende Auskunft: „Ich habe das Auto angeschafft als unser Baby kam. Seitdem geht mir Sicherheit über alles“. Beim Kauf eines Familienpanzers handelt es sich somit um den selbstlosen Einsatz für künftige Generationen.
Nun sind auch wir von solchen Anfechtungen nicht frei, beispielsweise lieben wir diese bunten LED-Lichter, die Haus und Heim seit neustem auf energetisch vorbildlichem Niveau verkitschen. Seit es diese sparsamen Leuchtkörper auch bei Discountern auf dem Wühltisch gibt, wird in Deutschland damit so ziemlich alles und jeder beleuchtet, sogar Mierschs Hündin Hummel. Ihr Halsband blinkt neuerdings beim abendlichen Spaziergang rot, selbstverständlich aus Sicherheitsgründen. Rätselhaft, wie Hummel bisher ohne LED-Halsband überleben konnten.
Bei Maxeiners zuhause strahlt jetzt das Wort „Imbiss“ über dem Herd. Die Leuchtschrift „open“ an der Haustüre musste er allerdings entfernen, weil lasterhafte Zeitgenossen das Heim mit einem zweifelhaften Massagesalon verwechselten. Es gibt sie also noch, die gute alte Sünde.
Erschienen in DIE WELT am 07.12.2012