Alte Bücher schlage ich auf, zuweilen, und ich kann es nicht lassen. Alles ist anders, alles ist neu? Nichts da! Ein Vergessener, ein Protagonist der „Springerpresse“ wusste es besser, vor fünfzig Jahren.
Der Soziologe Heinz Bude äußerte sich unlängst auf der Leipziger Buchmesse. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als primäres Ziel der „Achtundsechziger“ sei eine reine Legende, eine Fiktion. Erst seit den 1980er Jahren sei es eine Rückprojektion, dass der Bruch mit dem Nationalsozialismus das wesentliche Anliegen der „Achtundsechziger“ gewesen sei. Und dennoch könne man ohne die „Achtundsechziger“ weder Gerhard Schröder noch Joschka Fischer begreifen, sie hätten den vielleicht letzten entscheidenden Beitrag geleistet, Deutschland in die Moderne zu führen.
Darüber kann man durchaus geteilter Meinung sein, aber für alle jetzigen Politiker in Amt und Würden klingen Heinz Budes Worte wie eine doppelte Mahnung – und eine Ermutigung: Jemand, der im ersten Anlauf offensichtlich und aus ideologischen Gründen versagt hat, kann immer noch entscheidende Impulse liefern. Das klingt erschreckend deutlich nach alten Texten, Texten eines Erzkonservativen. Es klingt nach.... Matthias Walden.
Matthias Walden ist längst vergessen, und absichtlich habe ich einen in Teilen spöttischen und längst von der Wirklichkeit überholten Nachruf des „Spiegel“ auf ihn verlinkt. Ich schlage lieber eines von Waldens erhellenden Büchern auf. Aha. Walden ist es, der über den Nationalsozialismus berichtet, über den Prozess gegen den General der SS Karl Wolff, in NS-Kreisen „Wölffchen“ genannt. Wolff ist der Mann, der auf den Farbfilmen Eva Brauns vom Obersalzberg als eleganter, Knickerbocker und Karo tragender „Engländer“ abgebildet ist, sonst aber die schwarze Uniform der SS bevorzugte.
Walden beschreibt, wie Wolff, NS-typisch, im Gerichtssaal zwischen apodiktischer Besserwisserei und devoter Liebedienerei schwankt, wie er für Beihilfe zum Mord in dreihunderttausend Fällen mit fünfzehn Jahren Zuchthaus davon kommt und hinterher beim linksliberalen „Stern“ des NS-Kriegsberichters Henri Nannen seine lächerlichen Hitlertagebücher-Helfershelfer und Unterstützer findet.
Walden schont niemand
Walden ist es auch, der über den Aufstand im Warschauer Ghetto schreibt, er habe als Flakhelfer davon nichts gewusst, doch das schütze ihn vor gar nichts. Walden ist es, der schreibt, aus der Shoah gebe es nichts „zu lernen“, außer, dass die Toten tot und ihres Lebens beraubt seien, ihrer Kinder und Enkel. Derselbe Walden entrüstet sich, die PLO dürfe Büros in Europa eröffnen, jene PLO, die bis zu ihrer grausamen Entwaffnung durch Israel, der siebentausend Zivilisten zum Opfer fielen, selbst eben noch eine militärisch geschulte Terrororganisation von Moskaus Gnaden gewesen sei.
Er zählt die Waffen auf, die Sturmgewehre, die Panzer aus der Sowjetunion, die Israel damals zerstörte oder erbeutete. Walden schont niemand, die PLO nicht, Israel nicht, auch sich selbst nicht. Chronist ist der, der schreibt, wie es war. Walden hasst Ideologien und verachtet Ideologen, die „Wahrheit“ ist ihm suspekt, ihn interessiert die Wirklichkeit. Daher findet er auch die deutsche Teilung eine politische Farce, und er schont die SPD nicht, die sie lange Zeit zementieren hilft.
Walden entlarvt eine Rede Egon Bahrs in der Evangelischen Akandemie in Tutzing zum „Wandel durch Annäherung“ an die DDR als fingiert, abgesprochen mit Willy Brandt, der sich einen Tag später ahnungslos stellt, obwohl er selbst die Rede hat schreiben lassen, damit Bahr sie als Versuchsballon lancieren kann. Bahr und Walden haben beide beim RIAS in Berlin gearbeitet, respektieren einander selbst dann, wenn es unsauber läuft.
Walden denunziert nicht, er hält fest, wie es wirklich war. Zuweilen verteidigt er Willy Brandt, gerade dann, wenn dessen Verhalten im „Dritten Reich“ der deutschen Rechten zum Anlass für Gemeinheiten wird. Walden bleibt sich treu, er nennt Mauer Mauer, Schießbefehl Schießbefehl, die Annäherung an den Materialismus und Marxismus das Grundübel des Westens, er beklagt die Jämmerlichkeit, mit der der Westen bereit ist, seine Ideale hintan zu stellen, er nennt dieses Verhalten „Müdigkeit“. Er mahnt an, das könne man angesichts des Nationalsozialismus besser wissen, gerade als deutsche Linke.
Matthias Walden dagegen wird komplett ausgeblendet
Martin Niemöller muss innerlich aufgejault haben. Aber an Niemöller erinnert die evangelische Kirche gern, weil dieser U-Boot-Kapitän und deutschnationale Antisemit ein durchaus verdienter Widerständler, KZ-Häftling und später Friedensbewegter wurde, ein deutschnationaler Linker. Dass er ein Neurechter war, ein Nationalist, ein Wegbereiter des Nationalsozialismus, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg und Holocaust das Existenzrecht Israels in Zweifel zog, einer, der diesem verquasten Konzept auch später, als nationaler Linker, treu blieb, wird geflissentlich und in widerlicher Weise ausgeblendet – von einer Kirche, die sich selbst von ihrem Gründer, dem Reformator und Antisemiten Martin Luther, an dieser Stelle distanzieren möchte. Matthias Walden dagegen wird komplett ausgeblendet, an ihn erinnert niemand.
Martin Niemöller bestätigt gar nichts, außer der Unfähigkeit der Deutschen, das marginale bisschen aus gemachten, mörderischen Fehlern zu lernen, was zu lernen ist. Matthias Walden hingegen bestätigt Heinz Bude: Es waren nicht die „Achtundsechziger“, auch nicht ihre Altnazis und spät gewendeten Nationalkonservativen, die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus leisteten und für das Existenzrecht Israels Partei ergriffen, ohne das Verhalten Israels zu beschönigen. Oh, Schreck, es war nicht die Linke, es waren nicht die „Achtundsechziger“, es waren nicht die angeblich geläuterten, nationalkonservativen Neu-Linken, es war die verhasste „Springer-Presse“!
Matthias Walden mahnt auch für heute, wenn er von der „Müdigkeit des Westens“ schreibt, der seine Ideale verrät, und dem Protagonisten des Vietnamkriegs, Henry Kissinger, den Friedensnobelpreis verleiht. Das ist ein altes Lied, und für jene, die die uralten linken Scheuklappen tragen, ist und bleibt es wohl weiterhin wahrlich „rechts“...
Der heutige Bundespräsident, bekennender Fan von Heinz Bude, sieht indessen wieder einmal die Demokratie in Gefahr. Matthias Walden, der angebliche „Rechte“, schreibt in seinem Buch „Die Fütterung der Krokodile“ auch ihm, dem Bundespräsidenten, ins Stammbuch, er solle nicht gar so mutlos sein:
Das politische Träumen bleibt den Ideologen vorbehalten. Radikale Linksutopien gewannen eine scheinbare Überlegenheit gegenüber demokratischer Gesinnung, weil weitergesteckte Ziele nur noch von denen markiert wurden, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen. (…) Unsere Fernziele eines in Freiheit wiedervereinten Deutschland, eines gemeinsam denkenden, sprechenden und handelnden Europa in einer solidarischen, durch die Ideale der Menschenrechte überlegenen freien Welt wurden als unrealistischer Ballast dem Gespött des etablierten und des heranrückenden Extremismus östlicher und westlicher Freiheitsfeindlichkeit überlassen. Statt sie als Vorstellungskraft zu verstehen und zu bewahren, ließ man sie als Phantasie, nachdem sie als Phantasterei denunziert und entwertet worden war, einfach verfallen. (…) Nicht die ideologische Utopie ist es, die dem Westen fehlt, sondern die Vorstellungskraft seiner geistigen und sittlichen Überlegenheit. Ohne das Vertrauen in die Macht des Gedankens und des Wortes, ohne die Vision von einer besseren Zukunft kann keine der Anfechtungen der Gegenwart bestanden werden; denn den Ausblick auf das Gute zu verlieren, bedeutet, das Bessere mit Sicherheit zu verfehlen. Nicht politischer Wunderglaube wäre der Ausweg aus den Sackgassen des Kleinmutes, sondern – neben Vorsicht und Rücksicht – Weitsicht und Zuversicht.