Und wieder haben wir einen Skandal, nachdem jemand eine der (Medien-)Öffentlichkeit nicht genehme Meinung verbreitet hat. Diesmal trifft es die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die in der Veranstaltungsreihe “Dresdner Reden” im Dresdner Schauspielhaus in einem Vortrag über Tod und Geburt laut nachgedacht und ihr Unbehagen gegenüber den Möglichkeiten der Patientenverfügung und der künstlichen Befruchtung in drastischen Worten zum Ausdruck gebracht hat.
Reproduktionsmediziner nennt sie „Frau Doktor und Herr Doktor Frankenstein“, angesichts der Spermiengewinnung durch Masturbation während einer künstlichen Befruchtung sinniert sie über den möglichen Sinn des biblischen Onanieverbotes, und die solcherart entstandenen Kinder bezeichnet sie entsprechend als „Halbwesen“, als „zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.“ Diese Spitzen sind eingebettet in eine nachdenkliche und durchaus tiefgründige Rede und basieren, wie die Autorin schildert, auch auf eigenen Leiderfahrungen.
(http://www.spiegel.de/media/media-33276.pdf)
Jetzt rasten alle aus. Sogar die Veranstalter selbst sahen sich bemüßigt, sich von Lewitscharoffs Rede in einem offenen Brief abzugrenzen. Von Verletzung der Menschenwürde ist die Rede, von gefährlicher Stimmungsmache und einem beängstigenden Menschenbild.
(http://www.staatsschauspiel-dresden.de/download/18987/offener_brief_von_robert_koall.pdf)
In den Medien positionieren sich die fortschrittlichen Schreiber. Stefan Niggemeier fordert in seinem Blog angemessen scharfe Reaktionen, Georg Diez wittert im Spiegelonline Klerikalfaschismus, Sandra Kegel in der FAZ sieht sich in einem Gruselkabinett. Sabine Vogel in der Berliner Zeitung bezeichnet die Lewitscharoff als rassistisch, homophob und biologistisch.
Kurzum, die Empörungsmaschine ist in Gang gesetzt, bis schnell wieder alles vorbei ist und der nächste Zeitgenosse mit einer vermeintlich suspekten Meinung sarrazinisiert wird.
(http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/sibylle-lewitscharoffs-rede-hoeren-sie-nicht-auf-frau-doktor-frankenstein-12835253.html
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/lewitscharoff-kolumne-zur-skandal-rede-der-buechner-preistraegerin-a-957342.html
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/buechner-preistraegerin-ekelt-sich-vor-auf-abartigen-wegen-gezeugten-halbmenschen/
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/lewitscharoff-rede-in-dresden-rassistisch—homophob-und-biologistisch,10809150,26487736.html)
Ich selbst teile Lewitscharoffs Ansichten nicht annähernd, halte sowohl die Patientenverfügung als auch die Reproduktionsmedizin für erfreuliche Möglichkeiten - finde den Vortrag aber trotzdem spannend. Deutliche Äußerungen wie die ihren bieten die Möglichkeit, die eigene Weltsicht zu überprüfen. Ich bin in diesem Fall bei meiner geblieben. Aber es ist aufschlussreich, die Gefühle und Gedanken eines Menschen angesichts der Möglichkeiten moderner Medizin einmal unzensiert präsentiert zu bekommen.
Tatsächlich weiß die Wissenschaft noch nicht, wie das Experiment der Reproduktionsmedizin am Ende ausgeht. Die ersten Retortenkinder sind noch nicht alt und zahlreich genug, um aus ihrer Entwicklung valide Studienergebnisse zu generieren. Ob die Lewitscharoff mit ihrem Unbehagen intuitiv richtig liegen könnte, wissen wir erst in ferner Zukunft. Weil sich die Medizin zudem stets fortentwickelt, kann der Stand jedweder Diskussion ohnehin nur provisorisch sein.
Und so sollten wir auch das Wesen der Meinung definieren. Sie ist eine provisorische Einschätzung der sich ständig ändernden Welt. Wir können der Wirklichkeit mit Leidenschaft oder Feigheit begegnen, wirklich greifen können wir sie nie.
Warum darf ausgerechnet eine Schriftstellerin nicht die Worte wählen, die sie für angemessen hält? Sollten wir nicht gerade von Schriftstellern erwarten und erhoffen dürfen, dass sie ihre Gedanken nicht politisch sauber abschrubben und talkshowgerecht präsentieren, sondern eigenwillig bleiben? Warum sind die Leute beleidigt, wenn jemand überraschend anders denkt, sich ungewohnt ausdrückt?
Ich vermute, dass sie sich ihres eigenen Denkens nicht sicher sind - weil sie nicht denken. Sie haben statt dessen eine Meinung, die sie für die richtige halten, und fürchten, dass jemand ihnen diese Meinung wieder wegnimmt, ihre Gehirne mit bösen Einflüsterungen vergiftet und sie auf die dunkle Seite der Macht zerrt. Und am Ende sind sie dann alle Nazis. Dagegen hilft nur die lautstarke Selbstbestätigung. Das alles ist unerträglich provinziell.
Es gibt Sekten, die sich gegen selbstkritische Gedanken immunisieren. Deutschland kommt mir vor wie eine Sekte. Und die Medien singen die Mantras. Gelegentlich ertappe ich mich dabei, wie ich schon leise mitsumme. Könnte mir dies oder jenes, was ich schreibe, als irgendwie „rechts“ ausgelegt werden? Gar als homophob? Sollte ich diesen oder jenen Satz nicht doch lieber anders formulieren, damit ich nicht missverstanden werde? Denn dann gnade mir Gott.
Eins ist erstaunlich - einer der Grundsätze unserer progressiven Gesellschaft lautet, Fremde freundlich aufzunehmen. Dieser Grundsatz darf sich aber nur auf fremde Menschen beziehen, nicht auf fremde Gedanken. Fremde Menschen abzulehnen, das haben sich die Deutschen inzwischen abgewöhnt. Jetzt jagen sie fremde Gedanken.
Dabei sind fremde Gedanken nicht gefährlich. Aber es ist gefährlich, das Denken durch Meinungen zu ersetzen, anstatt die Meinungen aus dem Denken abzuleiten. Das lässt unsere Demokratie erschlaffen, mit jeder Empörungswelle mehr. Wer verlernt, seine eigenen Ansichten immer wieder in Frage zu stellen und sich für die der anderen zu interessieren, gerade der kann eines Tages den Falschen auf den Leim gehen.
Ich wünsche mir, dass wir ungewöhnliche Äußerungen sportlicher, spielerischer, unbelasteter zur Kenntnis nehmen, kognitiv prüfen statt affektiv abwehren. Demokratie muss man üben, Meinungsbildung muss man üben, sein Leben lang. Ich wünsche mir darum in den Medien mehr Debattierclub-Atmosphäre und keine Treibjagden mehr.
Eine fremde Meinung ist wie ein fremdes Land. Wir sollten gelegentlich das Abenteuer auf uns nehmen und so ein Land bereisen. Mal kommen wir bereichert zurück, mal erschrocken, mal unverändert. Man weiß das immer erst hinterher, nicht im Vorhinein. Die Neugier aufs Andersartige, die sollten wir uns nicht nehmen lassen, sie hält uns lebendig.