Ein Gespenst geht um in der Republik. Jaja, okay, man sollte seine Beiträge nicht mit abgeschmackten Einstiegen banalisieren. Aber in diesem Fall ist es schon ein wenig gespenstisch. Es spukt jedenfalls in vielen Köpfen herum, auch wenn meist nur Andeutungen zu hören sind und niemand ganz offen darüber spricht oder schreibt: Die „strategische Wahl“, die Stimme wider Willen. Jetzt brandaktuell bei der Bundestagswahl. Aus der Not geboren? Aus Trotz? Aus Alternativlosigkeit? Aus Blindheit gegenüber den Radikalen?
Der Casus: Es könnte sein, dass die AfD am kommenden Sonntag viele Stimmen von solchen Wählern bekommt, die eine tiefgreifende Distanz zu vielen öffentlichen Verlautbarungen aus dem Umfeld der AfD hegen, ja auch deutliche menschliche Vorbehalte gegenüber Teilen des Personals der Partei. Es könnte also passieren, dass die AfD am Sonntag von versteckten Wählern weit höher gehoben wird als die Meinungsumfragen vermuten lassen, weil sich viele nicht mal hinter vorgehaltener Hand oder bei anonymen Telefon-Befragungen zu ihr bekennen wollen. Nicht jeder ist so offen wie jener Studiendirektor, der sich darüber bereitwillig im Welt-Interview outete. Er sagt: „Die AfD würde meine Stimme nicht bekommen, wenn die Gefahr bestünde, dass sie eine Mehrheit erreicht.“
Längst schält sich das Thema AfD als das meist diskutierte im Wahlkampf heraus. Weil er ansonsten lahmt – und weil die Trennschärfe der Konkurrenten zunehmend schwindet. Die „strategischen Wähler“ (in der guten alten Zeit hießen sie auch „Protestwähler“) werden ins Rampenlicht rücken.
Grundsätzlich ist strategisches Wählen nichts Neues. Es gab und wird immer viele Gründe geben, der Partei seines Herzens die Stimme zu verweigern, um wenigstens dem „kleineren Übel“ eine Chance zu geben, eben weil der Favorit keine Chance hat (die SPD profitierte jahrzehntelang am meisten davon). Oder um für bestimmte Koalitionen die Aussichten zu erhöhen oder ebensolche zu verhindern. Und, ganz klar: Immer schon haben verhinderte Kandidaten ihrer Partei die Stimme versagt, um nachzutreten gegen den aufgestellten Konkurrenten. Oder um innerparteilich aufzuräumen.
So zu verfolgen jetzt bei den Grünen in Berlin, wo die Realos ihrer von der SPD übergewechselten Linken Kollegin Canan Bayram die Stimme zu verweigern drohen, die als Nachfolgerin des Grünen Christian Ströbele dessen Kreuzberger Wahlkreis verteidigen will. All das gehörte schon immer dazu, wurde an Stamm-, Küchen- und Redaktionstischen rauf und runter diskutiert. Wer so etwas als Selbstverleugnung abstempelt, argumentiert realitätsfern.
Und, schadet das der Partei? Wie man sieht: Nein, überhaupt nicht.
Jetzt aber, da eine rechte Partei antritt, hat ein anderer Ton in die Debatte Einzug gehalten, es geht um Prinzipielles: Die Wahl der AfD durch wohlsituierte, intellektuell beschlagene Mitbürger, nicht zuletzt Altlinke darunter, frei von rechtsradikaler Gesinnung oder überhaupt jeglicher Sympathie gegenüber Typen wie Höcke oder von Storch, die sich in Facebook-Chats, in Privatgesprächen daheim, in Debatten zum Barolo bei Edel-Italiener unüberhörbar ankündigt – da kommt bei vielen Zeitgenossen, die all das nicht wahr haben wollen, schon der Gedanke an 1933 auf. „Keiner kann später mehr sagen, er habe es nicht gewusst“, heißt es aus ihrem Mund oder ihrer Feder landauf, landab, als sei das Parteiprogramm der AfD gleichlautend mit Hitlers „Mein Kampf“ und die Partei kurz vor der Machtübernahme. Hat man schließlich nicht deshalb mit seinen linken Kampfzirkeln oder Kaffeekränzchen seit zwei Jahren gegen diese Partei und ihre Versammlungen das unbegrenzte Widerstandsrecht reklamiert, von der Sitzblockade bis zur Gewalt auch gegen Parteimitglieder?
In der Tat, es ist eine Zumutung, was viele AfD-Mitglieder auf Parteiversammlungen, im Internet und auf diversen Veranstaltungen gerade in letzter Zeit von sich geben. Nicht nur notorisch Rechtsradikale, Unverbesserliche wie Höcke, sondern auch einst so besonnene Köpfe wie Alexander Gauland, der jetzt über die Wehrmacht redet, als habe er als Wähler besonders die Stahlhelm bewehrten schwarzen Krad-Melder im Visier, die heute mit ihren Gespannen durch Brandenburg geistern. Schauder. Gerade für das vergangene halbe Jahr gilt zunehmend: Das akzeptable Wahlprogramm der AfD wird durch unakzeptable völkische Sprüche, durch Relativierungen der Vergangenheit, durch halbgare Dementis verschwörungstheoretischer und rassistischer Emails in den Hintergrund gerückt. Es wird unappetitlich.
Und, schadet das der Partei? Wie man sieht: Nein, überhaupt nicht. Offenbar auch nicht bei denjenigen ihrer potenziellen Wähler, die mit ihr eigentlich gar nichts zu tun haben wollen, aber drauf und dran sind, ihr die Stimme zu geben. Und dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Für einen davon sind gerade die verantwortlich, Journalisten zumal, die sie schon immer, auch schon zu Luckes Zeiten, meinten, in die unwählbare Ecke schreiben zu müssen. Jetzt zeigt sich: Ihre Klagerituale haben sich schlicht abgenutzt, weil sie zu einem großen Teil nicht nur übertrieben sondern unglaubwürdig waren. Die ganz großen „Skandale“ der Partei nämlich, an die man sich noch erinnert, liegen meist schon etwas zurück – und sie waren meist gar keine.
Etwa die Unterstellung fast der gesamten Branche von Presse, Funk und Fernsehen, Frauke Petry habe einen „Schießbefehl“ an der Grenze gegen Flüchtlinge gefordert. Sie war an den Haaren herbeigezogen. Petry hat nichts anderes eingeklagt (wohlgemerkt als „Ultima Ratio“), als in den einschlägigen Gesetzen steht, und was der prominente grüne Boris Palmer fast wortgleich ebenso formuliert hatte. Die Kritik an ihr war daher „gesetzeswidrig“, wenn man so will. Oder: Die Titelgeschichte der Sonntags-FAZ, mit der das Blatt Gauland gegen den Fußball-Nationalkicker Jerome Boateng ausspielen wollte (und auf die anschließend andere Medien unbesehen draufsattelten), entpuppte sich als konstruierter Skandal, der in sich zusammenbrach. Dieses und manches mehr war dann später immer mal wieder Anlass zu selbstkritischen Beiträgen in den Medien – auch den selbst betroffenen – über den Umgang mit der AfD. Sehr zu Recht. Aber ohne Lerneffekt
Was nach all dem bei vielen hängen blieb: Angriffe gegen die Partei sind gewollt, sie sind von den „Mainstream-Medien“ in der Absicht durchgeführt, die AfD auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu werfen, damit die traute Einigkeit in der ach so modernen politischen Landschaft wiederhergestellt ist, an der man doch so hilfreich mitgebaggert hatte nach dem Marsch durch die Institutionen und Redaktionen. Tatsächliche Skandale wiederum, wie Wahlbetrug zu Lasten der AfD (Bremen etwa oder Nordrhein-Westfalen) oder der Versuch, ihr zustehende Gremienplätze trickreich vorzuenthalten, taten ein Übriges. Ein für unsere gefestigte Demokratie fatales Bild hat sich bei vielen eingeprägt: Die AfD wird ungerecht behandelt. Die Parteien mischen mit, und die Medien mischen mit, die „Eliten“. Die Quittung erhalten wir gerade.
Jetzt, da zunehmend AfD-Funktionäre Lust daran finden, die Lunte zu legen, rächt es sich, dass zu oft unberechtigterweise „Feurio“ gerufen wurde. Die Aufmerksamkeit von außen wie auch das Korrektiv von innen heraus sind dadurch geschwächt. Einen ähnlichen Effekt hatte es, alles, was aus dem Mund oder der Feder der Partei zum Thema Ausländer und Flüchtlinge kam, automatisch sogleich als „Rassismus“ abzustempeln, auch wenn es sich fast ausschließlich um Kulturkritik handelte. Der Rassismusbegriff wurde (und wird) gnadenlos überdehnt. Er ist als Allerweltsbegriff abgenutzt.
Eine halbe Stunde Facebook-Lektüre genügt
Und wer meint, dieses Bild von einem falschen Umgang mit der Partei sitze nur bei den Parteimitgliedern und ihrem Umfeld fest, der täuscht sich gewaltig. Er unterschätzt den breiten Willen, jetzt, bei der Wahl, den saturierten, von sich selbst überzeugten Akteuren einen Denkzettel zu verpassen, und wenn kein anderes Instrument zur Verfügung steht, dann eben mit der AfD und sei sie noch so ungeliebt.
Ein weiterer Grund, warum die letzten, durchaus rechtsradikalen Ausfälle der Partei nicht negativ zu Buche schlagen, liegt nämlich in der Hilflosigkeit, in der sich jetzt viele Wähler sehen. Wo soll derjenige sein Kreuz machen, der dafür ist, dass die Bestimmungen beim Euro eingehalten und keine weiteren nationalen Kompetenzen an die EU abgegeben werden, der den Ehe-Begriff so erhalten wissen will, wie er war, dem das – auch im Behördenverkehr – um sich greifende Gendersprech auf die Nerven geht und der (oder auch die) wehmütig an die früher differenzierteren Geschlechterrollen zurück denkt, der Angst vor einer Islamisierung hat, der sich bei dem Gedanken an weitere Hunderttausende Flüchtlinge im Land nicht wohl fühlt und der ohne sichere Grenzen nach Recht und Gesetz nicht schlafen kann, für den der Begriff des „Deutschen Volkes“ nicht von den Nazis erfunden wurde, der skeptisch gegenüber der Geschwindigkeit bei der Energiewende ist und vielleicht sogar die Atomkraft erhalten will, dem sich der Staat in viel zu viele Angelegenheiten einmischt – dem aber die Sprache, das Milieu und das Umfeld der AfD und ihre schwindende Abgrenzung nach rechtsaußen zuwider ist? Was soll dieser Mensch wählen?
All diese Punkte könnten ausreichen als Gerüst für ein komplettes Parteiprogramm. Das tollste: Sie waren sogar mehrheitsfähig, ganz ohne rechtsradikale Attitüde, noch vor ganz wenigen Jahren, bevor in der Ära Merkel die Union umgepolt wurde. Entsprechend blauäugig ist es jetzt, der kompletten Basis dieser einstigen Mehrheit mal eben beibringen zu wollen: All diese Präferenzen waren gestern, keine Partei bietet dir dies mehr an, vergiss es oder du rückst dich ins Abseits. Und nochmal: Es gibt keine Islamisierung, fertig! Doch der Versuch läuft, und wundert es da noch jemand, dass besonders im Osten die Erinnerung an die „Nationale Front“, an die Blockflötenparteien hochkommt?
Rechtsradikale wählen die AfD, klar, jedenfalls sofern sie es als das aussichtsreichere „kleinere Übel“ gegenüber der NPD ansehen. Doch sie werden nicht die einzigen sein, die die Partei ohne viel Sympathie wählen. Um das festzustellen, genügt eine halbe Stunde Facebook-Lektüre. Viele derer, die dem oben geschilderten Wertekanon huldigen, die aber aus der Mitte der Gesellschaft kommen, werden ihnen folgen, vielleicht sogar sehr viele – als Resultat einer Abwägung zwischen zwei Maximen. Und zwischen zwei Übeln. Da sind die Alternativen:
Das gefühlte Drohpotenzial
Entweder: Keine Stimme denjenigen, die mit rechtsradikalem Gedankengut auf Stimmenfang gehen, wehret den Anfängen. Ich will später nicht zu denen gehören, die einer solchen Partei den Weg bereitet hat. Dafür nehme ich in Kauf, dass ich für meine eigenen politischen Präferenzen eben nichts tun kann, dass, ganz im Gegenteil, jetzt Menschen wie etwa der EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker den Ton angeben, die den Prozess in die Gegenrichtung sogar noch beschleunigen wollen, ohne Halt. Für mich ist das eine Prinzipienfrage, deshalb sorge ich mit meiner Stimme dafür, dass die AfD draußen vor bleibt, oder jedenfalls nicht stärkste Oppositionspartei wird. Eine Partei meiner Wahl gibt es nicht.
Oder: Ich will mit meiner Wahlentscheidung signalisieren, dass es konservative Menschen gibt, die sehr wohl noch an jenen Werten hängen, und die Partei wählen, die dafür kämpft, wenn auch reichlich übertrieben und oft mit falschem Zungenschlag. Dafür nehme ich in Kauf, dass im Bundestag demnächst rechte Chaoten einziehen, womöglich rechtsradikale Reden gehalten werden, die Rechte sich womöglich insgesamt in einer Eigendynamik verstärkt, unliebsame Überraschungen möglich. Das Signal geht entweder an die Unionsparteien, die spüren sollen, dass sie in diesem Lager sehr wohl Stimmen ernten können, wenn sie wollen (bei Facebook debattieren eingefleischte CDU-Mitglieder, die auf möglichst viele AfD-Stimmen hoffen.), oder, ersatzweise irgendwohin in den politischen Raum, aus dem heraus ich mittelfristig eine neue Parteigründung erhoffe. Sollte sich die AfD einst berappeln und von ihren rechtsextremen Auswüchsen selbst befreien, oder eine neue CSU mit ihren alten Prinzipien bundesweit antreten, wäre mein Ziel auch erreicht.
Eines zeigt sich derzeit: Für die Wähler der zweiten Option ist es völlig egal, wie weit rechtsaußen die Parteienvertreter sich äußern. Die Realisierung keines einzigen ihrer Sprüche schließlich steht für die kommende Legislatur an. Nicht ausgeschlossen, dass sogar auch dieser Gedanke eine Rolle spielt: je weiter rechts – und damit entfernter von meinem eigenen Standort – umso zielführender könnte mein Signal, meine „strategische“ AfD-Wahl sein, erhöht sich im öffentlichen Raum doch dadurch das gefühlte Drohpotenzial erst recht. So oder so ist das Signal klar, ich unterstütze jedenfalls die Richtung des Parteiprogramms, wie weitgehend auch immer. Verstärkung erhalten sie obendrein auch von jenen, denen das Parteiprogramm, ja die ganze AfD eher egal ist, denen es allein an einer Opposition überhaupt im Bundestag ankommt, die sie bei allen anderen Parteien nicht mehr erkennen können.
Ein Dazwischen gibt es nicht. Die Abwägung findet zwischen zwei Polen mit ungleichen Dimensionen statt. Jenes Signal würde unmittelbar nach dem 24. September gesendet, eine rechte Machtübernahme dagegen stünde auf absehbare Zeit nicht ins Hohe Haus. Sie ist und bleibt eher unwahrscheinlich. Andererseits: das profane Begehren nach realpolitischer Einflussnahme könnte dem Prinzipientreuen Bauchschmerzen bereiten, wenn er Menschen wie Höcke befördert. Bei der Frage hängt es auch davon ab, inwieweit sich für mich die heutigen Zustände mit denen von vor gut achtzig Jahren entfernt vergleichen lassen oder eben gar nicht. Welche Wichtigkeit ich einzelnen, auch prominenten Stimmen gebe, die auf Rechtsaußen fischen wollen, und welche dem AfD-Parteiprogramm, dem man so schnell nichts verfassungsfeindliches nachsagen kann. Und, wenn denn schon der – reichlich gequälte –Vergleich mit 1933 in den Sinn kommt, auch dieses: Inwieweit ich der Meinung bin, dass damals allein die Rechten die Verantwortung tragen oder andere auch. Übertragen auf heute heißt das: Tragen nur die Mitglieder der AfD und ihre Wähler „Schuld“ am Aufschwung der Partei, oder gibt es da noch andere Verursacher?
Könnte der Wahlausgang dazu beitragen, sich wieder etwas zuzuhören?
Für die links Gebliebenen und die Neulinken wäre es natürlich das allerletzte, solche strategischen Gedanken zu hegen bei der Wahl, vor allem wenn es „konvertierte“ Altlinke betrifft. Für viele wäre es der letzte Beweis für das, was sie schon immer wussten, dass nämlich jene alten Genossen, die es betrifft, auf dem besten Weg sind, Horst Mahler und ähnlichen Kandidaten ins rechtsextreme Lager zu folgen.
Vielleicht geht es aber auch eine Nummer kleiner, und es könnte ausgerechnet die Bundestagswahl dazu beitragen, sich wieder etwas mehr zuzuhören. Beidseitig. Jedenfalls diejenigen, die sich noch dunkel an solche Tugend erinnern. Ich hasse das Wort eigentlich, aber hier wäre es angebracht: Es ist alternativlos. Zu viel Sprachlosigkeit und Hass haben – neben anderen Ursachen – zur jetzigen Situation geführt. Einerseits muss man festhalten, dass die oft unnötig polemische Abwehr der AfD oft genug das Gegenteil bewirkt hat, weniger wäre da mehr gewesen. Andererseits wird man akzeptieren müssen: Deutschland verträgt und braucht eine von Demokraten akzeptierte rechte Partei. Geht man von außen mit ihr souveräner um als in der Vergangenheit (seit Luckes Zeiten), so könnte sich auch ein anderes, satisfaktionsfähigeres Personal darin einfinden.
Fürs erste sieht die Spannbreite so aus: Es gibt vernünftige Menschen, die meinen, in der AfD stecke der Keim einer neuen NSDAP. Und es gibt vernünftige Leute, die sie wählen. Und ebensolche, für die weder das eine noch das andere zutrifft. Wenn die alle miteinander reden können, auch noch vernünftig, dann ist schon viel gewonnen.