Wolfram Ackner / 30.10.2016 / 07:55 / Foto: Andreas Praefcke / 35 / Seite ausdrucken

Eine Erwiderung auf die Rede von Freya Klier

Liebe Freya Klier,

ich empfinde sehr viel Respekt für Ihr Leben und Wirken, möchte Ihrer in der Achse veröffentlichten Rede aber gerne einige Aspekte hinzufügen.

Die Dresdner Ereignisse am Tag der deutschen Einheit, die Sie verstört haben, sind nicht halb so einzigartig, wie Sie denken. Helmut Kohl zum Beispiel war Zeit seiner Kanzlerschaft stets mit Pöblern konfrontiert, nur eben mit linken Pöblern. Ich muss gestehen, dass ich in Wendetagen dazugehörte. Der Ärger darüber, dass uns, die wir im heißen Herbst 89 für demokratische Reformen auf die Straße gegangen sind - nun, wo es im Winter auf einmal ungefährlich war - die Initiative aus der Hand genommen wurde, von den mit schwarzrotgoldenen Fahnen bewehrten"'Helmut, Helmut-Rufern" und diejenigen, die ihre Haut zu Markte getragen hatten, um Reformen zu erzwingen - Bürgerrechtler wie Sie - einfach beiseitegedrängt wurden, trieb mich in die linke Szene. Sie trieb mich nahtlos von 'Anti-SED' zu 'Anti-Kohl', auch wenn sich diese kämpferische Anti-Kohl-Haltung im Laufe der Jahre und unter Kenntnisnahme der Fakten nicht durchhalten ließ.

Zum allerersten Mal war ich übrigens von Kohl schwer beeindruckt, als er im Mai 1990 von Eier werfenden Gegendemonstranten in Halle schmerzhaft am Kopf getroffen wurde und wutentbrannt auf den schwarzen Block zustürmte, um dem Übeltäter persönlich die Ohren langzuziehen. Nicht, dass man dies heutigen Politikern zur Nachahmung empfehlen sollte. Aber respekteinflößender als eine Claudia Roth, die weinerlich zum STERN rennt, um tränenerstickt Hassmails vorzulesen und mit brechender Stimme zu verkünden, dass sie trotzdem nicht vorhat, sich ihre seelischen Verletzungen anmerken zu lassen - außer natürlich, die Reporter eines Millionenblattes schreiben grade mit – ist es allemal. 

Der Unterschied zu heute besteht eben darin, dass damals die sogenannten kleinen Leute in rauen Mengen erschienen, um "ihren CDU-Kanzler" zu feiern und allein mit ihrer schieren Masse uns linke Gegendemonstranten zur Randnotiz stempelten. Heute wird die jetzige CDU-Kanzlerin von demselben einfachen, derben Menschenschlag, der damals "Helmut, Helmut" skandierte, ausgebuht und zum Teufel gewünscht. Gleichzeitig werden linke Berufsdemonstranten zur Verteidigung der CDU-Kanzlerin und ihrer Politik herangekarrt. Irgendwas scheint sich verändert zu haben, finden Sie nicht?

Des Rätsels Lösung: Die einen sind Hobbits die anderen Orks

Dass Sie die offiziellen Pegida-Teilnehmerzahlen von viertausend anzweifeln und eher auf zweitausend tippen, ist ein altbekanntes Phänomen. Schon in den vergangenen zwei Jahren war ja das Paradoxum zu beobachten, dass, wenn Pegida den Theaterplatz füllte, von 15.000 Demonstranten die Rede war, während die Teilnehmerzahl, wenn No Pegida denselben Platz mit Hilfe von Gratiskonzerten prominenter Musiker genauso füllte, stets mit 30.000 angegeben war.

Nach zwei Jahren Pegida-Berichterstattung und leider auch nach der Lektüre Ihrer Rede ahne ich den Grund dieser Diskrepanz. In dem einem Fall reden wir offensichtlich von herzigen, friedlichen, kuchenguten Halblingen, auch als Hobbits bekannt, im zweitem Fall von riesenhaften, muskelbepackten aggressiv-widerlichen Orks. Deswegen, stellen Sie sich bitte doch einfach mal den Dresdner Theaterplatz als Aquarium vor. In einem Aquarium, dass Platz für 30 süße, bunte, friedliche Nemos bietet, würden ja schließlich auch nur 15 Steinfische Platz finden. Das muss des Rätsels Lösung sein. 

Ich bezweifle  in keinster Weise, dass die von Ihnen beobachteten Pegida-Anhänger eher nicht die sympathischsten Erscheinungen waren. Ich sehe ja in meiner eigenen Stadt, was für dubiose, deprimierende Gestalten bei Legida mitlaufen, die -gida-Ableger in anderen deutschen Städten waren von Anfang an fest in der Hand von Freaks und Dreiviertel-Nazis und selbst zur Verteidigung Pegidas – ich meine die Dresdner Original-Pegida – möchte ich mittlerweile nicht mehr vorbringen, als dass diese einfach friedlich ein gesetzlich garantiertes Grundrecht wahrnehmen.

Ich war zweimal auf einer Pegida-Demo, zum ersten Mal beim Weihnachtsliedersingen 2014. Damals aus purem Interesse, um mir ein eigenes Bild über dieses Phänomen zu machen, das seit mehreren Wochen Montag für Montag durch Dresden marschierte und trotz des medialen Dauerfeuers allwöchentlich seine Teilnehmerzahlen zu verdoppeln schien. 

Die feste Überzeugung, dass "der Ami'" hinter jeder Schweinerei dieser Welt steckt

Wenn Sie an jenem 22.12. dabeigewesen wären, hätte ihr Urteil – so es ein faires gewesen wäre – sicher nicht so vernichtend gelautet. Sicher haben sich schon damals etliche dutzend Gestalten am Rande herumgedrückt, die man schon auf den ersten Blick der rechten Szene zuordnen konnte. Die vereinzelten Russland-Fahnen fand ich nervig, weil ich diesen billigen Antiamerikanismus und die Putin-Anhimmelung der Querfrontler abstoßend finde, etliche Plakate waren dumm und/oder geschmacklos, aber ansonsten ist das meiste, was damals gesagt oder gefordert wurde, mittlerweile auch in den offiziellen Sprachgebrauch vieler Politiker und Journalisten übergegangen.

Und die von Teilen des Publikums gezeigten geschmacklosen Plakate und die feste Überzeugung, dass "der Ami'" hinter jeder Schweinerei dieser Welt steckt, sind ja nun schon seit 68 auf jeder linken Demo (West-)Deutschlands Usus, also warum diese plötzliche Aufregung? Unter Umständen könnten sich ja einmal die feinen Hamburger und Münchner Verlagshäuser (die jetzt beredt die Putinbegeisterung vieler Deutscher beklagen) selbst fragen, was sie mit ihrer stellenweise total verzerrten, hysterisch-pseudokritischen Amerika-Berichterstattung dazu beigetragen haben, dass man in Deutschland nur ein Wort wie 'NSA' aussprechen muss, damit die Leute Schnappatmung kriegen und anfangen, dummes Zeug nachzuplappern.

Auf jeden Fall war ich schwer beeindruckt von der schieren Masse der Menschen. Nicht nur der Theaterplatz war gefüllt, die Leute standen bis tief in die angrenzenden Strassen hinein. Es war die größte Demo, die ich seit den Leipziger Wendedemos zu Gesicht bekam, und es befanden sich so unglaublich viele völlig normale Bürger und Familien darunter.

In früheren Jahrhunderte nannte man es "Bauernaufstand"

Dass zweite Mal besuchte ich Pegida ein Dreivierteljahr später zum ersten Jahrestag. Diesmal tatsächlich aus Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik, bewusst das einzige Forum nutzend, dass in nennenswerter Zahl Protestler auf die Straße brachte. Und bevor Sie fragen – ja, ich konnte es mit meinem Gewissen vereinbaren, dass da auch vereinzelt Nazis mitmarschierten. Erstens, weil man als Konservativer oder Rechtsliberaler restlos einpacken könnte, wenn man die linke Logik akzeptiert, dass der einzige Maßstab, der darüber entscheidet, ob man eine Kritik äußern darf oder nicht, darin besteht, ob diese komplett marginalisierte Idiotenpartei NPD (deren einzige Daseinsberechtigung darin zu bestehen scheint, jeden bürgerlichen Protest zu diskreditieren) dieses oder jenes vielleicht ähnlich sehen könnte, und weil es schlicht und einfach nicht möglich ist, diese Trittbrettfahrerei zu verhindern.

Außerdem hat ja auch Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth kein Problem damit gehabt, zusammen mit vermummten Linksextremisten zu demonstrieren. Selbiges gilt mit Abstrichen auch für Justizminister Heiko Maas, für unseren Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung und im Prinzip für jeden, der zu Demos erscheint oder dazu aufruft, wo von vornherein klar ist, dass die Antifa mal wieder ein kleines, örtliches Konjunkturprogramm für Glaser, Tischler, Polizisten und Rettungssanitäter auflegen wird. 

Was mich fast noch mehr als der Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik nach Dresden trieb, war allerdings lodernde Wut über die stellenweise infame, hochgradig provozierende Berichterstattung, welche Pegida von Tag Eins ihrer Gründung an begleitete. Denn über eines sollten Sie sich schon im Klaren sein - es gibt nicht wenige Leute, die nicht trotz, sondern wegen dieses schrillen Dauerbombardements aus Halbwahrheiten und Beleidigungen bei Pegida in Dresden mitmachen beziehungsweise mitmachten.

Das Pegida-Konzept gibt es übrigens schon sehr sehr lange. In früheren Jahrhunderte nannte man es "Bauernaufstand". Und egal, ob es unseren Größen aus Geisteswissenschaft und Kultur, unseren Medienschaffenden, der Politik und den mit professionellen Antifaschismus ihr Geld verdienenden Aktivisten gefällt oder nicht; ob sie die wütenden "Bauern" mit ihrem schlichtem Unterschichten-Look schon äußerlich abstoßend finden oder nicht; ob sie die Reden für törichtes Gefasel von Gimpeln halten, die nie eine Universität von innen gesehen haben oder nicht; oder ob sie die Pegidesen für undankbare Muschkoten halten, die zu dumm sind zu erkennen, was für ein Wunder gerade in Dresden in den letzten 26 Jahren geschah und wie viel Solidarität gerade diese Stadt nach der Flutkatastrophe erfuhr - über eine Sache sollte Sie sich dennoch im Klaren sein. Wenn es tatsächlich zum Bauernaufstand kommt, wenn tatsächlich die Leute auf die Barrikaden gehen, die normalerweise ihr ganzes Leben brav in ihren kleinen Jobs knuffen gehen und deren Denken sich fast ausschließlich nicht um Philosophie, Politik und Kultur, sondern um die Bewältigung des Alltags und seiner Probleme dreht, dann haben König und Hofstaat schon so einiges falsch gemacht. Beziehungsweise in unserem Fall die hochverehrte Frau Königin. 

Ich habe mich mit dem Rücken zur Bühne gedreht und mir die Ohren zugehalten

Das diese zweite Pegida-Teilnahme dennoch meine letzte bleiben sollte, weil ich zu dem Schluss kam, dass ich dort tatsächlich nicht hingehöre, ist also nicht Ihrer "Aufklärung" gedankt, sondern einzig und allein der Verdienst von Akif Pirincci. Ich schwöre, ich habe mich bei seiner unsäglichen Rede nach fünf Minuten demonstrativ mit dem Rücken zur Bühne gedreht und mir die Ohren zugehalten, weil ich mich so schämte. Und wenn man nicht auf Steuerzahlerkosten aus dem ganzem Land wildgewordene Rote und Grüne Khmer in Reisebussen herangekutscht hätte, die uns von allen Seiten einkesselten und den Veranstalter mehrfach zu der Durchsage zwangen, dass es im Moment nicht möglich ist, die Demo zu verlassen, wäre ich einfach resigniert in mein Auto gestiegen und nach Hause gefahren.

Und trotzdem – selbst an jenem Tag buhten ich und viele andere so lange und schrien: "Aufhören, Aufhören!", bis Pirincci tatsächlich seine Rede abbrechen und die Bühne verlassen musste. Nicht, dass ich deswegen naiv genug wäre zu erwarten, dieser Vorfall könnte Anlass sein für eine Schlagzeile à la : "Pegidademonstranten erzwingen Abbruch einer rassistischen Hetzrede", aber diese Begebenheit hätte zumindest in eine faire Bewertung einfließen müssen, finden Sie nicht? Aber keine Frage, nach 9 Monaten des Sich-gegenseitig-Aufschaukelns war der Ton in Dresden rauer geworden als im Dezember 2014. 

Wenn Sie sagen: "ganze Schulklassen haben die Demokratie verteidigt", dann muss ich Ihnen leider antworten: "Stimmt - so wie vor 30 Jahre ganze Schulklassen am 1.Mai auf die Strasse gingen, um den Frieden gegen den Imperialismus zu verteidigen." Heraus heraus zum ersten Mai. 

Ich will da auch nicht falsch verstanden werden. Von den 30.000 Menschen, die bei der ersten Demo in Leipzig gegen Legida demonstrierten, waren tatsächlich so gut wie alle aus eigenem Antrieb dort oder waren zumindest der Meinung, aus eigenem Antrieb dazusein, darunter etliche meiner Freunde und Verwandten. Trotzdem machen Sie sich etwas vor, wenn Sie es schaffen, sich einzureden, es wäre eine gute Sache und hätte nichts mit Indoktrination zu tun, wenn beispielsweise die Leitung der Leipziger Uni eine E-Mail folgendem Inhalts an alle knapp 30.000 Studierenden verschickt:

„Alle Rektoratsmitglieder nehmen an den Gegenkundgebungen teil; selbiges erwarten wir sehr gerne von Ihnen. Die Lehrveranstaltungen sollen am 12.01.2015 ab 15.00 Uhr in den offen Raum der Stadt verlegt werden, um so unseren Studierenden die Teilhabe und Teilnahme an den ‘Lehrstunden für Demokratie und Vielfalt’ zu ermöglichen.“ 

Schulklassen wurden zur Gegendemo-Teilnahme gedrängt

Schulklassen wurden mit ähnlichen Ansagen zur Gegendemo-Teilnahme gedrängt, Online-Ableger großer deutscher Zeitungen stellten eine App zur Verfügung, mit der man seine Facebook-Freundesliste auf Pegida- oder AfD-Sympathisanten durchsuchen konnte. Es wurde dazu aufgerufen wird, "Fremdenfeinde" (und das sind heutzutage alle, welche die millionenfache Migration durch die Hintertür des Asylrechts ablehnen und sich wagen, dies auch laut zu äußern) bei ihren Arbeitgebern anzuschwärzen.

Sozialkonzerne wie AWO oder Diakonie drohen damit, AfD-Mitgliedern oder Pegida-Teilnehmern zu kündigen, ein Politikwissenschaftler, der -nomen est omen auch noch Mielke heißt - forderte schon mal, dass die Polizei in Dresden die friedlichen Pegida-Demonstranten so richtig schön mit Wasserwerfern die Hölle heiß (beziehungsweise nass) machen und sie dann stundenlang einkesseln soll, um ihnen die Lust am demonstrieren mit Gewalt auszubimsen. Wie schaffen Sie es, sich als ehemalige Bürgerrechtlerin einzureden, mit solchen Aktionen würde "die Demokratie verteidigt"?

Ich kann Ihnen sagen, wie es in Leipzig lief. Da standen sich bei der ersten Legidademo 30.000 No-Legida- und 6.500 Legidademonstranten gegenüber, und diese 6.500 waren ungefähr diesselbe Mischung wie in Dresden. Ein paar dutzend Nazis, ein paar hundert Wirrköpfe, ansonsten völlig normale, unbescholtene Kleinbürger, die einfach zeigen wollten, dass sie die Faxen dicke haben. Es wurde von vermummten Antifas versucht, Absperrketten zu errichten und Leute mit festhalten und klammern daran zu hindern, den Versammlungsort zu erreichen. Dass überhaupt in einer linken Stadt wie Leipzig 6.500 Legidateilnehmer erschienen und dann auch noch tatsächlich marschierten, sah die Antifa als Niederlage und verschärfte in den Wochen und Monaten darauf die Gangart.

Es wurden Anschläge auf Einrichtungen der Deutschen Bahn vorgenommen, um Legidisten an der Anreise zu hindern. Bei darauffolgenden Demos mussten die Legidateilnehmer durch Gassen aus Gegendemonstranten laufen, von denen sie bespuckt, beschimpft, mit Gegenständen beworfen worden. Natürlich kann man mit dieser Methode die Teilnehmerzahlen drastisch nach unten drücken, und zwar, weil der Großteil dieser aufgebrachten Kleinbürger eben entgegen der Propaganda keine gefährlichen Nazis und Rassisten sind, sondern die "Gefährlichkeit und kraftstrotzende Jugendlichkeit" von Kleingärtnern und Rassegeflügelzüchtern ausstrahlen und unter diesem Druck tatsächlich einknicken.

Ein Wunder, dass es in Leipzig noch keinen Toten gab

Aber dann sollte man sich auch nicht darüber wundern, wenn dann auf einmal anstatt der Leute, die tatsächlich einfach nur "besorgte Bürger" sind, tatsächlich im größerem Umfang Nazi-Hooligans und ähnliches Gesindel auftaucht, weil an ihren "sportlichen Ehrgeiz" appelliert wurde und sie sich auf ein Tänzchen eingeladen fühlen. Es kommt mir mittlerweile wie ein kleines Wunder vor, dass es in Leipzig noch keine Toten gab.

Ein Legida-Ordner wurde vor seinem Haus genauso mit Eisenstangen niedergeschlagen wie ein älterer Herr, bei dem es als Beweis seiner faschistischen Gesinnung diente, dass er in Demo-Nähe mit Dresdner Kennzeichen parkte und seine Euro-Plakette überklebt war. Der Leipziger NPD-Vize wurde hinterrücks in seinem Geschäft überfallen, blutig geschlagen, das dabei aufgenommene Video ins Netz gestellt und der in Leipzig wohnende sächsische Grünen-Chef Kasek erhält Morddrohungen. Und was die behauptete Zunahme von rechter Gewalt nach Dresdner Pegidademos angeht, dazu möchte ich Ihnen diesen Artikel von Sciencefiles ans Herz legen.

Genauso, wie Sie die Pegida-Anhänger in Bezug auf die angeblich dramatisch eingebrochenen Touristenzahlen (die eher progressiven Wunschdenken entsprechen als der Realität) fragen, ob "es dass ist, was ihr wollt", genauso möchte ich diese Frage an Sie zurückgeben. Ist es das, was ihr wollt? Dass Menschen konträrer Weltanschauung anfangen, sich in Deutschland gegenseitig zu jagen?

Als großzügiger Mensch möchte ich Ihnen eine Freude machen und einen jener Sätze schenken, wo beim beliebten progressiven Gesellschaftsspiel 'Nazi-Bingo' sofort alle begeistert auf die Hupe hauen.  "Ich habe nichts gegen Migration, aber ..." Trrrööööööööööt! Erwischt!

Unsere Sorge ist doch nicht, dass Ausländer uns den Job wegnehmen

Ich habe nichts gegen Migration, weil ich bei mir auf dem Bau mit meinen 46 Lenzen noch als Jugendbrigadist durchgehe, denn ich bin – egal wo ich als Leiharbeiter hinkomme - größtenteils von Kollegen jenseits der 50 umgeben. Erst diese Woche musste ich zusammen mit stöhnenden Alten wie zu Kaisers Zeiten schwere Stahlträger manuell unters Hallendach montieren. Immer her mit den jungen, frischen, auswärtigen Talenten! Wir würden uns über Entlastung freuen, zumal jedem von uns klar ist, dass auf dem Bau ohne die Heerscharen ausländischer Kollegen schon längst alles zusammengebrochen wäre. Ganz einfach, weil die jungen Deutschen von heute sich offensichtlich allerhöchstens dann zu einer Tätigkeit bei einer kleinen Handwerks- oder Industriefirma herablassen würden, wenn man im Büro ein warmes Plätzchen als Gleichstellungsbeauftragter freiräumen würde oder eine neue Stelle kreiert, um alle Verträge und Schriftwechsel auf gendergerechte Sprache zu überprüfen.

Unsere Sorge ist doch nicht: "die Ausländer nehmen uns denn Job weg"! Unsere Sorge ist eher, dass wir statt mit 67 mit 70 oder gar noch später in Rente gehen, weil es immer weniger gibt, welche in diesem Land tatsächlich Werte schaffen und immer mehr, die sich dauerhaft unter den großen und kleinen Füllhörnern des Sozialstaats einrichten - was ohne jeden Zweifel auch noch in zehn Jahren für die übergroße Mehrheit von Frau Merkels geladenen Gästen zutreffen wird.    

Und tut doch bitte nicht so, als wäre das, was gerade passiert und was ihr versucht, uns als vermeintliche "Weltoffenheit" zu verkaufen, ein universeller Wert, der als humanistische Selbstverständlichkeit weit außerhalb jeder Diskussion stehen würde. Alle osteuropäischen Länder lehnen den Multikulturalismus westeuropäischer Prägung komplett ab. Nicht weil sie Rassisten sind, sondern weil sie die Maxime Charles de Gaules auf sich und ihr Land adaptieren, der einst meinte, dass er "sich freut, dass es mittlerweile schwarze, braune, gelbe Franzosen gibt, aber diese niemals die Mehrheit stellen dürfen, weil es sonst nicht mehr Frankreich ist".

Wir leben nicht einer postfaktischen Welt, wir hören durchaus die Pros und Contras

In fast allen westeuropäischen Ländern herrscht Aufruhr, sind ein Drittel bis stellenweise die Hälfte der Wahlbürger auf den Barrikaden, weil sie sehen, dass dies tatsächlich geschehen könnte. Erzählen Sie doch bitte den Japanern, den Isländern, eigentlich fast jedem Volk auf der Welt von der westeuropäischen "No borders-no nations" Ideologie, und sie werden Gelächter und Unverständnis ernten. Wir Dunkeldeutschen leben keineswegs, wie von der Kanzlerin behauptet, in einer postfaktischen Welt, wir hören durchaus die Pros und Contras. Wir gewichten nur anders, selbst wenn man uns zum zwanzigsten mal in einem Ton, als würde man zu Kindern sprechen, die altbekannten Argumente um den Kopf knallt, die wir für die schwächeren halten.

Auch mein Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung blies ja neulich in der Huffington Post in dieses unsägliche "postfaktische-Zeiten-Horn" und veröffentlichte einen Artikel, dessen Quintessenz darin bestand,"'dass wir (sprich:"Die Gutklugen") die Menschen mit großen Gefühlen begeistern müssen, weil wir mit Argumenten nicht mehr durchdringen". 

Halleluja, es ist also wahr, was man in den Nachbarstaaten munkelt - die Deutschen werden tatsächlich von gefühligen Hippies regiert. Woodstock reloaded. Nur ohne Drugs, ohne Sex, statt Rock' n' Roll spielen Konstantin Wecker, Sebastian Krumbiegel und BAP und in der Kommune 1 wohnen statt Uschi Obermeier, Rainer Langhans und Fritz Teufel mittlerweile Frau Merkel, Herr Altmeier und Armin Laschet.  Lieber Herr Laschet, da Sie neulich vor einem Millionenpublikum die Behauptung aufstellten, "die DDR hat die Köpfe Ihrer Bürger zerstört", möchte ich Ihnen kurz antworten: zumindest hätten wir damit eine gute Entschuldigung zum Dummes-Zeug-Faseln. Was können sie zu Ihrer Entlastung vorbringen?

Aber dann änderte ich meine Meinung, weil ich in Ihrer Rede auf diesen Satz stieß: " ... plötzlich entstand in der Semper-Oper eine Atmosphäre von Widerstand, wie ich sie aus unserem DDR-Theater erinnere, wenn es uns gelungen war, Momente von DDR-Kritik auf die Bühne zu bringen. Es war ein Glücksmoment der deutschen Einheit in der Semper-Oper ... "

Liebe Freya Klier, die tausend Menschen, welche als geladene Gäste der Zeremonie beiwohnten, sind die politische und kulturelle Elite des Landes.

Es ist die Macht.

Es sind die Menschen, die darüber entscheiden, was in Museen zu sehen ist, was in Theatern gespielt, in Schulen oder Universitäten gelehrt wird. Es sind die wenigen Auserwählten, welche die Macht haben, eine überstürzte billionenteure Energiewende übers Knie zu brechen, mit einer verkorksten Bildungsreform nach der anderen die schulischen Leistungen zu verschlechtern, mit einem Euro-Rettungspaket nach dem anderen die Risiken der institutionellen Anleger auf die Steuerzahler zu verlagern, die Grenzen für Millionen illegaler Zuwanderer offen zu halten (egal, ob es dem Souverän passt oder nicht) oder - wenn es sein muss - mit einem einzigen Anruf einen gewaltigen Sicherheitsapparat in Bewegung setzen können.

Wenn es denjenigen, welche alle Stränge in der Hand halten, tatsächlich gelingt, sich als tapfere Dissidenten im Kampf gegen dunkle Gewalten zu fühlen, nur weil weit draußen vor der schwerstbewachten Tür ein paar harmlose Pappnasen herumblöken ... dann leben wir tatsächlich in postfaktischen Zeiten. 

Foto: Andreas Praefcke via Wikimedia

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Leserpost

netiquette:

Bärbel Schneider / 30.10.2016

Frau Klier hat die Seiten gewechselt: Früher tapfere Kämpferin für Bürgerrechte, will sie heute als unkritischer Bestandteil de Establishments den Bürgern eben diese Rechte nehmen. Die Grünen haben eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. Macht korrumpiert eben. Traurig, aber offenbar nicht zu ändern. Danke für diesen Artikel, Herr Ackner.

Arnauld de Turdupil / 30.10.2016

Danke Herr Ackner, diese Entgegnung war ganz bitter nötig. Meine Antwort auf Frau Kliers Worte hätte man zu recht geblockt.

Hjalmar Kreutzer / 30.10.2016

Sehr geehrter Wolfram Ackner, einfach nur vielen Dank für diese ausführliche Klarstellung. Freya Klier, Vera Lengsfeld und Sie haben alle ähnliche Erfahrungen mit der SED-Diktatur machen müssen und deren berechtigten Untergang als Befreiung empfunden, zumindest entnehme ich das Ihren immer gern gelesenen Beiträgen hier auf der “Achse”. Wie kommt es, dass man dann zu völlig anderen Schlussfolgerungen kommt, wenn man hier die größtenteils friedlichen Proteste gegen eine als verfehlt erlebte Bundespolitik erlebt? Weil Frau Klier jetzt näher an der “politisch-kulturellen Elite” angesiedelt ist? Danke und bleiben Sie der Achse als Gastautor erhalten. Freundliche Grüße.

Hans Mayer / 30.10.2016

Bravo!

Rudolf Stein / 30.10.2016

Ich erlaube mir, das Gleichnis mit den Bauern noch ein wenig zu untermauern: Jede Revolution, die diesen Namen verdient, wurde nicht von Akademikern durchgeführt, sondern vom Prekariat. Die Akademiker kamen erst später, wenn die Revolution gesiegt hatte, nahmen in den Sesseln Platz und gaben ihren ideologischen Senf dazu. Nicht Lenin noch Stalin haben den Aufstand auf dem Panzerkreuzer Potemkin durchgeführt, sondern einfache Matrosen, die den Fraß satthatten. Den Sturm auf den Winterpalast unternahm das Prekaraiat von St. Petersburg.  Der Sturm auf die Pariser Bastille war das Werk von zerlumpten Analphabeten. Diese armen, ungebildeten Leute hatten ur eines im Sinn: die Verhältnisse zu ändern, ehe sie noch schlimmer würden. Es ist ein Zeichen von Überheblichkeit und historischer Unkenntnis, wenn man Bürgern, die nichts zu verlieren haben und deshalb auf die Straße gehen, um zu rufen dass der Kaiser nackt sei,  Unbildung, Dummheit und Schlimmeres vorzuwerfen. Gerade Menschen, die in einfachen Verhältnissen leben, haben sich sehr oft ihren gesunden Menschenverstand erhalten und sind nicht mehr korrumpierbar.

Detlef Schneider / 30.10.2016

Danke !  Genau so ist es . Da gibt es nichts weiter zu kommentieren.

Gerrit Schreiber / 30.10.2016

Vielen Dank, Herr Ackner! Ich hoffe auf eine große Reichweite dieses Artikels.

Brigitte Mittelsdorf / 30.10.2016

Danke! Ihr Beitrag war bitter notwendig.

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