Es nahte ein bedeutender Feiertag, eine dringende Terminsache: der erste April – schon immer mein liebster Feiertag, auf den ich mich diesmal angemessen vorbereiten wollte, wobei ich sagen muss, dass ich Feiertage grundsätzlich nicht mochte. An Geburtstagen hatte ich – soweit ich zurückdenken kann – jedes Mal heimlich geweint.
Ich wusste nicht genau, wie der Rummel um den ersten April überhaupt entstanden war. Es hatte irgendetwas mit dem römischen Kalender zu tun, der ursprünglich am ersten April und nicht am ersten Januar angefangen hatte. Hinzu kam, dass die Römer die Zeit sowieso nicht richtig berechnen konnten, so dass man nicht mal sicher wusste, ob Jesus wirklich im Jahre Null geboren wurde, oder erst im Jahre Vier.
Wenn das stimmte, müsste man die Geschichtsbücher neu schreiben. Das könnte man leicht machen. Es wäre nicht so schwer, zu den Geschichtsdaten, die ich schon auswendig gelernt hatte, im Geiste vier dazuzuzählen: Die so genannte konstantinische Schenkung an den Papst namens Silvester hätte dann eben nicht im Jahre 315 stattgefunden, sondern im Jahre 319.
Es wäre auch nicht weiter problematisch, sich vorzustellen, dass Jesus erst vier Jahre später ans Kreuz genagelt wurde, als man bisher angenommen hatte. Aber dass er auch erst im Jahre 4 nach Christi Geburt auf die Welt gekommen war, das konnte man so nicht stehenlassen; denn das hieße ja, dass er erst vier Jahre nach seiner eigenen Geburt auf die Welt gekommen wäre. Das geht nicht.
Mir war längst klar, dass mit unserem Zeitgefühl etwas nicht stimmen konnte und damit auch mit unserem Gefühl für die Wirklichkeit. Das machte den ersten April zu einem wichtigen Gedenktag. Es war der Tag des falschen Zeitempfindens.
Scherze, die Kinder bei der Gelegenheit machten, waren viel zu durchsichtig. Es war offensichtlich, dass sich die Großen in ihrer generösen und zugleich genervten Art nur deshalb bereitwillig in den April schicken ließen, um den Kleinen ihre zweifelhafte Freude nicht zu verderben. Man musste den Eindruck haben, der erste April wäre zu einer reinen Kinderbelustigung verkommen. Damit wurde man aber der Bedeutung des Tages nicht gerecht.
Der Humorist verlangt nicht nach Applaus
Außerdem war ich kein Kind mehr. Ich konnte nicht darauf vertrauen, dass man sich von mir wegen einer albernen Kleinigkeit in den April schicken ließ, nur um mir einen Gefallen zu tun. Ich musste mehr bieten, und das wollte ich auch. Dazu brauchte ich das Tonbandgerät – für die Hintergrundgeräusche – und Opas Hilfe für die Ansage. Ich war überzeugt, dass er genauso ein begeisterter Anhänger von Aprilscherzen war wie ich – und war überrascht, dass er nicht mitspielen wollte.
Opa hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Mark Twain, die hauptsächlich darin bestand, dass beide schätzungsweise im selben Alter waren – also in einer Altersgruppe, in der, wie ich vermutete, ein besonderer, eher stiller Humor gepflegt wurde. Immer wenn Opa an seinen Werkzeugkasten ging, sagte er: „So, dann wollen wir mal zu Hammer und Sichel greifen!“, auch wenn er Hammer und Kneifzange meinte.
Meine Vorstellungen von einem wahren Humoristen gehen weitgehend auf ihn zurück. Ein Humorist, so dachte ich mir, ist keineswegs ein aufdringlicher Scherzbold, der ständig Witze erzählt; vielmehr hält er sich im Hintergrund; er härtet seine Mitmenschen gegen die Wirbelstürme des Lebens ab, als würde er sie mit einem wetterfesten Anstrich versehen, und er trägt damit unauffällig zu ihrem Wohlbefinden bei. Der Humorist verlangt nicht nach Applaus; er weiß auch so, dass er das Richtige tut.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mir Opa jemals einen Witz erzählt hätte. Nur den mit den Heilkräutern. Doch das war kein richtiger Witz. Da gab es nichts zu lachen. Daran konnte man aber sehen, wie gefährlich es bei Hitler gewesen war. Ich hatte den Witz sowieso nicht richtig verstanden, weil ich dachte, ein Putsch wäre was zu trinken.
Wir waren gerade an einer Apotheke vorbeigekommen, in der Heilkräuter im Schaufenster ausgestellt waren und Opa hatte erzählt, dass da mal zwei Besoffene vorbeigekommen wären und einer gesagt hatte: “Oh, Heilkräuter, da muss es wohl einen Putsch gegeben haben!” Daraufhin wurde er verhaftet.
Der geeignete Schutzpatron für den ersten April
Jedenfalls schien mir Opa der geeignete Schutzpatron für den ersten April zu sein. Das Hörstück, das ich zu diesem Anlass aufnehmen wollte, sollte nur kurz sein. Ich wollte einige ausgesuchte Leute anrufen, und die sollten folgenden vorproduzierten Text zu hören kriegen:
„Guten Tag. Hier spricht die Oberpostdirektion Osnabrück, Abteilung Telefonüberwachung. Wir reparieren gerade ihre Leitung. Wenn es gleich bei Ihnen klingelt, nehmen Sie bitte nicht ab. Danke.“
Das war alles. Ich musste fürchten, dass man schon am Klang meiner Stimme erkennen würde, dass da nur ein Nachwuchs-Humorist sprach und nicht etwa die Oberpostdirektion Osnabrück. Auch war die Gefahr groß, dass ich kichern müsste.
Also sollte Opa den Satz sagen.
Er zierte sich.
Er sollte nur diesen einen Satz sagen. Das schaffte er nicht.
Ich musste es schließlich doch selber machen und sprach mit verstellter Stimme, so gut ich konnte, durch eine Pappröhre. Opa schaute nur verwundert zu.
Ich war enttäuscht, als ich merkte, dass er den Witz nicht verstand. Der Witz lag darin, dass ich direkt danach noch einmal anrufen und es dann so lange klingeln lassen wollte, bis irgendeiner abnahm. Dann wollte ich möglichst laut aufschreien – Ahhh! – und wieder auflegen. Das war’s.
Opa verstand das nicht. Ich fand es toll. Es war heutzutage notwendig, mit dem Schrecken zu arbeiten, das war man der Ernsthaftigkeit des Lebens schuldig.
Ich wollte keine harmlosen Aprilscherze mehr.
Aus dem Alter war ich raus.
Neuerdings wurde geschrien – Ahhrrr –, die Losung dieser Jahre hieß: Yeah! Yeah! Yeah! Der Schrei war die angemessene Form, um die Unschärfe der Zeit zu kommentieren. Damit wurde das Leiden unter einem falschen Zeitgefühl zum Ausdruck gebracht. Damit war eine Größenordnung von Aprilscherzen erreicht, die Opa nicht mehr verstand.
Da würde es Frauen geben, die so laut kreischten
Ich verstand es selber nicht. Meine Eltern hatten mir tatsächlich vorgeschlagen, ich könnte doch nach Essen zum Konzert der Beatles fahren. Es muss das Jahr der Bravo-Beatles-Blitztournee gewesen sein, eine andere gab es nicht. Da war ich dreizehn, das kann man nachrechnen. Wie dachten die sich das? Wie sollte ich von Wissingen über Osnabrück eine Zugverbindung nach Essen finden und von da aus bis zur Gruga-Halle vordringen? Wie sollte ich das finanzieren? Es würde bestimmt mehr als zehn Mark kosten.
War es nicht viel zu gefährlich?
Da würde es Frauen geben, die so laut kreischten, dass man noch tagelang ein Pfeifen im Ohr hatte. Diese Frauen fielen, wie man hörte, reihenweise in Ohnmacht – und ich konnte keine Erste Hilfe leisten.
Warum kreischten sie so?
War es die reine Begeisterung oder steckte noch was anderes dahinter? War es wirklich nur die reine Freude, wie das quietschende Vergnügen von Kindern im Freibad, das ich nie kennengelernt hatte, weil wir in der Nähe keins hatten? Oder wurde damit das Laufgeräusch der Welt hörbar gemacht?
Unser Herr Pastor hatte ein Buch, Was steckt hinter der Musik der Beatles?, das wiederum von einem anderen Pastor geschrieben war. In Kirchenkreisen schien das ein bedeutendes Thema zu sein. Ich durfte mir das kostbare Buch eine Woche lang ausleihen. Die Beatles wurden darin von Fachleuten als „moderne Fabelwesen“ beschrieben. Es wurde vor ihnen gewarnt, weil sie – wie Sokrates – die Jugend verführten. John Lennon, stand da zu lesen, fand das Kreischen der Mädchen lästig, er hatte sogar schon geschimpft und ins Publikum gerufen, dass sie die Klappe halten sollten. Paul McCartney sah das anders, er hatte verraten, dass ihm das Kreischen ein „Gefühl von Ewigkeit“ geben würde.
Mein Aprilscherz war eine Pleite.
Bei Stumpe, Altevogdt und Vodegel ging beim zweiten Anruf keiner ran und bei Disselbeck meldete sich eine Frauenstimme – es war nicht die Stimme, die den vorangegangenen Anruf entgegengenommen hatte. Ich schrie trotzdem: Ahrrr!
Es war ein kläglicher Aufschrei. Zur falschen Zeit und an der falschen Stelle. Doch das war ich den Beatles schuldig. Die Zeitrechnung war nicht auf meiner Seite. Ich war nicht zur richtigen Zeit geboren. Die Welt war schlecht synchronisiert. Hätte es doch die römische Zeitverschiebung nicht gegeben. Dann hätten die Beatles ihre Bravo-Blitz-Tournee vier Jahre später machen können und ich wäre dabei gewesen.
Dann hätte ich nicht selber schreien müssen.
Außerdem wollte ich immer schon mal nachfragen, was meine Eltern vier Jahre vor meiner Geburt gemacht haben.